Ideal und Ironie der Gesellschaft (eBook)

Die Utopia des Thomas Morus
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2016 | 1. Auflage
333 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-43511-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ideal und Ironie der Gesellschaft -  Oliver Schmidtke
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Am Vorabend der Reformation, genau vor 500 Jahren, veröffentlichte Thomas Morus ein Buch, das die Sprache um ein neues Wort bereicherte: 'Utopia'. Berühmt ist der Autor für seine darin entworfene Idealgesellschaft, weniger bekannt jedoch für die satirische Qualität des Werks. In einer Sequenzanalyse entwickelt Oliver Schmidtke eine neue Deutung: Es ist nicht bloß ein utopischer Entwurf einer Idealgesellschaft, sondern eine frühe Soziologie der Aporien des intellektuellen Denkens. Der Protagonist Hythlodaeus verspielt scharfsinnige Einsichten in die sozialen Gründe für gesellschaftliche Missstände am Ende, indem er sich ins Utopische flüchtet.

Dr. Oliver Schmidtke ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am SFB 1187 'Medien der Kooperation' an der Universität Siegen.

Dr. Oliver Schmidtke ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am SFB 1187 "Medien der Kooperation" an der Universität Siegen.

Inhalt 6
Vorwort 10
I. Einleitung 12
Warum eine Detailinterpretation der Utopia des Thomas More? 14
Die Utopia als Kunstwerk 18
Zu Interpretationsproblemen bei der Utopia 22
Zwischenresümee 31
II. Detaillierte Sequenzanalyse des Werks 34
Methodische Vorbemerkung zur immanenten Werkanalyse 34
Der Titel 38
Der Brief der Persona Morus an Petrus Aegidius 40
Zwischenresümee 57
Buch I – Der Dialog zwischen Raphael Hythlodaeus, der PersonaMorus und Petrus Aegidius 58
Der Zwischentitel 58
Zur Entstehung der Dialogsituation 58
Die Gesandtschaft nach Flandern 58
Die Begegnung mit Raphael Hythlodaeus 60
Bericht von der Schiffsreise des Hythlodaeus 69
Zwischenresümee 74
Der Dialog um die Fürstendienerschaft – Teil I 74
Persönliche Gründe der Ablehnung der Fürstendienerschaft 74
Negotium versus Otium 78
Zwischenresümee 84
Der Exkurs zum Dialog im Haus des Kardinal John Morton 84
Die Diskussion über die Todesstrafe für Diebe 86
Soziale Gründe für den Anstieg der Diebstähle 90
Die Reaktion des Kardinals 97
Das Beispiel der Polyleriten 98
Möglichkeit der Nachahmung in England 102
Der Streit mit dem Mönch 102
Der Dialog um die Fürstendienerschaft – Teil II 106
Hythlodaeus’ Kritik der Außenpolitik bei Hofe 108
Das Beispiel der Achorier 110
Hythlodaeus’ Kritik der Finanzpolitik bei Hofe 112
Das Beispiel der Makarenser 114
Zwischenresümee 114
Die Reaktion der Persona Morus: philosophia scholastica und philosophia civilior 116
Zwischenresümee 122
Der Dialog um die Bedeutung des Privatbesitzes 124
Die Argumentation des Hythlodaeus 124
Die Argumentation der Persona Morus 140
Die Reaktion des Hythlodaeus: Verweis auf Utopia 140
Die Reaktion der Persona Morus: Aufforderung zum Reisebericht 146
Zwischenresümee 146
Buch II – Der Bericht von der Insel Utopia 150
Geographie und Siedlungsstruktur 150
Gliederung des politischen Herrschaftssystems 157
Die beruflichen Tätigkeiten der Utopier 164
Exkurs zur Kritik nicht-utopischer Gesellschaften 166
Von der Arbeit befreite Wissenschaftler 170
Sozialordnung, Bevölkerungspolitik und Organisation der Mahlzeiten 175
Der Reiseverkehr 182
Ökonomie und Versorgung 184
Unterricht und Wissenschaft 194
Philosophie und Vernunftreligion 196
Symbolisierung sozialer Ungleichheit, Luxus und Müßiggang 202
Die Lehre von der Lustbefriedigung 204
Fremde und Sklaven 208
Krankenpflege und Euthanasie 210
Ehebruch, Rechtsprechung und Gesetze 210
Politische Bündnisse 220
Kriegswesen 224
Religion 230
Verhältnis zum Christentum 233
Bestattung der Toten 238
Die Priester 240
Das gemeinsame Gebet 244
Das Schlussplädoyer des Hythlodaeus 246
Der Kommentar der Persona Morus 260
III. Zusammenfassende Gesamtinterpretation 268
Die ästhetische Gestaltung des literarischen Werks 270
Die doppelte Distanzierung und ihre Folgen für die Interpretation 270
Hythlodaeus versus Persona Morus – Die Transformation der Beziehung innerhalb des Werks 274
Eine soziologische Deutung des utopischen Gesellschaftsentwurfs des Hythlodaeus 292
Zum Institut des Privatbesitzes 292
Die Familie in Utopia 296
Das Verhältnis von Individuum und Institutionen in Utopia 298
Der Partikularismus der utopischen Konstruktion 302
Die Idealität Utopias – Kann Utopia als Beispiel für gelungenes Gemeinwesen gelten? 304
Worin besteht die Suggestivität des utopischen Entwurfs? 314
Literatur 324
Quellen 324
Sekundärliteratur 324

Vorwort

Die folgende Studie widmet sich einem gelungenen Kunstwerk, das be-sonders im deutschsprachigen Raum kaum in seiner schillernden Qualität erschlossen ist, der Utopia des Thomas More. Die Wahrnehmung des Werks erfolgt häufig durch die Brille seiner literarischen Nachfolger: Uto-pien, die Idealgesellschaften entwerfen. Der Autor More hat jedoch nicht selbst die entworfene Gesellschaft als Ideal empfohlen, sondern pro-blematisiert den Entwurf und seinen Schöpfer - die fiktionale Figur des Raphael Hythlodaeus - durchweg in ironischer Form. Diese Ironie konter-kariert den Ernst eines feierlichen Ideals. Es ist vor allem diese Ironie, die Mores Utopia auch 500 Jahre nach ihrer Publikation noch aktuell erschei-nen lässt. Hat More doch darin künstlerisch ein allgemeines Problem des Nachdenkens über Gesellschaften gestaltet. Dies ist Anlass genug, einen Versuch zu unternehmen, mit einer hermeneutisch-soziologischen Detailanalyse das Erkenntnispotenzial des frühneuzeitlichen Werks zu er-schließen.
Frank Schröder und Dr. Daniel Gaus seien für die Durchsicht des Manuskripts und die hilfreichen Korrekturen gedankt.

Frankfurt am Main im Juli 2016



I. Einleitung

Am Vorabend der Reformation - 1516 - lässt der englische Lordkanzler Thomas More (1478-1535) eine Schrift drucken, die die Sprachen später weltweit um ein neues Wort (dt. 'Utopie' bzw. 'utopisch') bereichern wird. Die Schrift trägt den Titel: 'Vom besten Zustand des Gemeinwesens und der Insel Utopia. Ein wahrhaft goldenes Buch, nicht weniger heilsam als unterhaltend, vom klaren und redegewandten Mann: Thomas Morus - Bürger und Vicecomes der berühmten Stadt London.' 1535 wird More für seine Weigerung dem Papsttum abzuschwören und seinem König Heinrich VIII gegenüber den Suprematseid zu leisten, hingerichtet und dafür im 20. Jahrhundert von der katholischen Kirche heiliggesprochen.
Berühmt geworden ist diese 'epochemachende Schrift' für den darin enthaltenen utopischen Gesellschaftsentwurf, mit dem der Autor More als Begründer einer neuen literarischen Gattung in die Geschichte eingegangen ist, da in den kommenden Jahrhunderten zahlreiche weitere Schriftsteller das Darstellungsmuster des Berichts von einer idealen Gesellschaft nach dem Vorbild der Utopia abwandeln. Die in der Utopia vorgeführte umfassende Thematisierung ganzer Gesellschaften barg offensichtlich eine solche Suggestivität, dass die Darstellungsform von vielen späteren Schriftstellern übernommen wurde.
Das Werk bietet jedoch weit mehr als die Darstellung einer Utopie. In seinem Werk lässt der Autor seinen fiktiven Protagonisten Raphael Hythlodaeus zunächst in einem ersten Buch mit den realen Figuren Thomas Morus und Petrus Aegidius darüber debattieren, ob es sinnvoll sei, einem Fürsten als Berater zu dienen und welche Missstände in England und Europa bestehen, um ihm schließlich erst in einem zweiten Buch einen fiktiven Reisebericht von der Insel Utopia in den Mund zu legen. Die nova insula Utopia wird von Hythlodaeus als ein ideales Gemeinwesen geschildert, in dem die Institution des Privatbesitzes abgeschafft sei.
Einige der von Hythlodaeus dargelegten Analysen können bis heute Gültigkeit beanspruchen und lassen ihn als einen frühen Soziologen er-scheinen, der gesellschaftliche Strukturprobleme scharfsinnig rekonstruiert. So findet sich eine Rekonstruktion der Abhängigkeit der Diebstahlkriminalität von Motivlagen, die aufgrund der Deklassierung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen entstehen, oder Hythlodaeus arbeitet ein eklatantes Missverhältnis der Einkommen für Tätigkeiten, die zur Aufrechterhaltung eines Gemeinwesens unabdingbar sind, und wenig entlohnt werden, zu solchen, die weniger nützlich erscheinen und beklagt, dass einige 'ein vornehmes und glänzendes Leben in Muße oder überflüssiger Beschäftigung führ[en], während sich Tagelöhner, Fuhrleute, Handwerker und Bauern mit ihrer so schweren und unablässigen Arbeit [...] ohne die überhaupt kein Staat bestehen könnte, doch nur einen so kümmerlichen Lebensunterhalt verdienen.'Zentrales Thema des Werks ist jedoch der Entwurf einer Alternativgesellschaft, in der solche Probleme ein für alle Mal beseitigt seien.
Der Gesellschaftsentwurf ist jedoch bis zur Absurdität hin inkonsistent und widersprüchlich, so dass Hythlodaeus in seinem Reisebericht seinen sozial-kritischen Scharfsinn letztlich wieder verspielt. Die Utopier missachten zum Beispiel nicht nur grundlegende Voraussetzungen familialer Bindungen, indem sie Kinder von Familien willkürlich an andere Familien verteilen, sondern lehnen Gewalt angeblich so sehr ab, dass sie das Schlachten von Tieren Sklaven überlassen, während sie zugleich keine Hemmungen haben Vernichtungskriege gegen andere Völker zu führen. Diese problematische Qualität der Rede des Hythlodaeus wird durch den Autor More in Form des langen Dialoges entfaltet, im Rahmen dessen More seinen Protagonisten sich dafür rechtfertigen lässt, dass er nicht zum 'Helfer des Unsinns' werden möchte, indem er seine Analysen bei Hofe vorträgt. Am Ende lässt der Autor More seine Protagonisten, die mit Hythlodaeus debattieren, zusammen mit den Lesern ratlos zurück und hat somit ein rätselhaftes Kunstwerk gestaltet, in dem man vergeblich gelungene Antworten auf Fragen gesellschaftlicher Strukturprobleme sucht.
Einige Merkmale der in dem Buch entworfenen Idealgesellschaft, wie etwa die Abschaffung des Privatbesitzes, befeuerten gleichwohl spätere politische Bewegungen. Inhalte des im zweiten Buch geschilderten Gemeinwesenideals sind Bestandteil historisch folgenreicher Ideologien, zum Beispiel der des Kommunismus bzw. Sozialismus. Auch wenn Engels in seinem Aufsatz Der Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft eine Überwindung der reinen Utopie propagiert, beruft er sich doch auf Inhalte des in dem Buch formulierten Gesellschaftsentwurfs.
Die meisten soziologischen, philosophischen und politikwissenschaftlichen Studien zur Thematik der Utopie befassen sich jedoch überraschender Weise kaum detailliert mit der Utopia des Thomas More als der begriffsprägenden Urschrift selbst. Vielmehr werden häufig bestimmte Inhalte, die als Merkmale utopischer Gesellschaftskonstruktionen abstrahiert werden, diskutiert. Utopische Argumentationen erscheinen - vereinfacht betrachtet - häufig in folgender Gestalt: Eine Utopie sei ein auf radikale und grundlegende Kritik bestehender Verhältnisse und ihrer Missstände beruhender Entwurf einer idealen Alternativgesellschaft, die auf anderen Vorausset-zungen beruhe und grundlegend anders verfasst sei, als die kritisierte bestehende Gesellschaft. Da jede Utopie einen Gesellschaftsentwurf präsentiert, ist in ihr notwendiger Weise ein soziologisches Denken enthalten. Allein deshalb schon erscheint eine genauere soziologische Interpretation von utopischen Werken, besonders der Urschrift des Thomas More, sinnvoll.
Da der Entwurf der utopischen Gesellschaft so grundlegend anders ist, erscheint er den Angehörigen der bestehenden Gesellschaft als irreal und nicht verwirklichbar. In der Reaktion auf dieses Problem scheiden sich die Geister in diejenigen, die den pejorativen Bedeutungsgehalt des Attributs utopisch hervorkehren und die Beschäftigung mit Utopien als überflüssig betrachten und diejenigen, die die in den Utopien positivierten Ideale affirmieren und auf historische Entwicklung verweisen, die zeigten, dass manche Utopie später irgendwann zur Wirklichkeit wurde, weil ihre Anhänger nie aufgehört hatten, daran zu glauben, dass sich die Utopie zumindest teilweise verwirklichen ließe und sich dafür einsetzten.
Die äußerliche Betrachtung der historischen Wirkung der Schrift lässt den schillernden Charakter des Werks und seines Autors erahnen und es stellt sich die Frage, worin die Suggestivität des Buches besteht? Beruht die Wirkung des Buches auf der besonderen historischen Position seines Autors oder lässt sich die außerordentliche Wirkung auch werkimmanent begründen? Hat der Autor Thomas More einen genialen Entwurf für die Überwindung sozialer Missstände ersonnen, oder bildet seine Idee die Vorlage für die desaströsen Entgleisungen des Totalitarismus des 20. Jahrhunderts? In welchem Verhältnis stehen die Inhalte des utopischen Ideals zu ihrer spezifischen Präsentationsform? Solche Fragen lassen sich - so die Ausgangsthese der folgenden Analyse - nur durch eine genauere Werkanalyse klären.
Warum eine Detailinterpretation der Utopia des
Thomas More?
Die folgende detaillierte Untersuchung des Werks beruht auf der Annahme, dass es sich bei dem Werk des Thomas More um einen frühen Klassiker der Soziologie handelt. Als solcher kann etwa auch Platons Politeia gelten, auf die in dem Buch vielfach Bezug genommen wird. Als Frühformen des soziologischen Denkens sind diese Werke jedoch keineswegs ausreichend theoretisch erschlossen. Als frühe Form soziologischer Argumentation können nicht nur die in dem Buch vorgestellten Analysen der sozialstrukturellen Gründe für die Entstehung von Kriminalität gelten, die schon bei Marx Erwähnung finden , sondern vor allem auch die im zweiten Teil der Schrift entworfene Phantasie einer Überwindung grundlegender Strukturprobleme von Gesellschaften. Soziologisch ist das in der Schrift vorgeführte Denken schon allein deshalb, weil in ihm grundlegende Überlegungen zum Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, dem Institutionengefüge sowie der Religion zu finden sind. Da es sich jedoch nicht einfach um ein politisches Mani-fest oder eine theoretische Programmschrift handelt, sondern das Werk eine höchst ambivalente, schillernde Gestaltung aufweist, hat es das Denken vieler Interpreten herausgefordert.
Dies hängt damit zusammen, dass die Darstellung in Form eines Dialoges erfolgt und der Autor seine Überlegungen verschiedenen Protagonisten, die zudem auch nur teilweise vollständig fiktionalen Charakter haben, in den Mund legt. Die Utopia durchzieht ferner eine ironisch-satirische Grundhaltung, die den Leser vor die Frage stellt, ob der Autor More den Gesellschaftsentwurf seines Protagonisten affirmiert.
Während jedoch im angelsächsischen Raum die besondere ästhetische Komplexität des Werks diskutiert wird, erscheint in der deutschen soziologischen und politikwissenschaftlichen Diskussion das durch Bloch, Mann-heim, Freyer, Adorno, Dahrendorf, Elias und andere vorgegebene Diskussionsmuster vorzuherrschen, das sich wesentlich auf die Inhalte der utopischen Gesellschaftskonstruktion im zweiten Buch bezieht, die spezifische sprachliche Form der Darstellung dieser Inhalte jedoch weitgehend ignoriert. Dies ist selbst bei späteren Vertretern der Utopieforschung wie Saage und Waschkuhn der Fall, die wesentliche Merkmale des Buches ignorieren. Die Interpretation Saages etwa kann als Beispiel für eine affirmative Interpretation der Utopia angeführt werden, die die literarischen Qualitäten, insbesondere die ironischen Elemente und die inneren Widersprüche, weitgehend ausblendet.
Auf dem Klappentext der 2011 im Nikol Verlag erschienenen Utopia-Ausgabe in einer alten Übersetzung von Ignaz Emanuel Wessely (1841-1900) findet sich eine die Rezeption bis heute prägende Deutung der Schrift:
'Thomas Morus' ?Utopia? ist der Entwurf einer idealen Gesellschaft, die auf sozialer Gerechtigkeit für alle Menschen, dem Streben nach Bildung, gemeinschaftlichen Besitz und demokratischen Grundzügen beruht.'
Die soziologische Analyse des Werks - so viel kann an dieser Stelle vorweggenommen werden - wird zu dem Ergebnis kommen, dass eine solche Deutung dem Werk nicht gerecht wird. Die Utopia des Thomas More stellt keineswegs die bloße Exposition einer scharfen Kritik an der englischen Gesellschaft des 16. Jahrhunderts und des Entwurfs einer grundlegenden Alternativgesellschaft dar, sondern das Werk führt aufgrund seiner spezifischen Gestaltung die Aporien eines Denkens und die Unglaubwürdigkeit einer Figur vor, der nicht nur der Reisebericht zur Insel Utopia in den Mund gelegt wird, sondern die die Kritik an der englischen bzw. europäischen Gesellschaft und Politik in einem fiktiven Dialog argumentativ verteidigt. Der soziologisch aufschlussreiche allgemeingültige Gehalt des Werks besteht nicht allein in den Argumenten, die die fiktive Figur des Raphael Hythlodaeus entwickelt, sondern in der Vorführung der Inkonsistenzen eines frühsoziologischen Denkens, das mit Verweis auf das Buch als utopisches Denken bezeichnet werden kann.
Da spätere Utopien vor allem das zweite Buch des Reiseberichts von einem Besuch in der Idealgesellschaft zum Vorbild nehmen, wird die Urutopie besonders in Überblicksdarstellungen, den späteren Werken angeglichen, so dass die Einbettung des Reiseberichts in den Dialog um die Fürstendienerschaft im ersten Buch übergangen wird. Der stillschweigende Reduktionismus der deutschen Deutungstradition von Bloch bis Saage hat seine Wurzeln also in deren methodisch niemals explizit begründeten Praxis, einen umfassenden Überblick über die verschiedensten Formen der literarischen oder theoretischen Utopien zu bieten. Dies führt notwendig zu Einschränkungen in der Detailtreue der Interpretation der einzelnen Werke. Die Utopia des Thomas More rangiert dabei als eine unter vielen Utopien, so dass ihr Sonderstatus als Urschrift nicht ausreichend gewürdigt wird. Wie reduziert die mögliche Interpretation der Utopia des Thomas More bei den Vertretern der deutschen Utopieforschung ausfällt, lässt sich etwa daran schon erkennen, dass Ernst Bloch die Behandlung der Schrift von Thomas More in seinem mehr als 1600 Seiten umfassenden Werk Das Prinzip Hoffnung ganze sieben Seiten Wert ist. Richard Saage widmet in dem ähnlich umfassenden vierbändigen Werk Utopische Profile der Utopia gerade Mal 22 Seiten.
Es ist ferner auffällig, dass keine historisch-kritische deutsche Textaus-gabe des Werks existiert, obwohl auch unter Historikern die Bedeutung der Schrift für das politische Denken als unstrittig gilt. Diese stiefmütterliche Behandlung der Urutopie in der deutschsprachigen Soziologie und Politikwissenschaft rührt vielleicht auch aus der Ambivalenz her, die dem utopischen Denken eigen ist, das nicht zuletzt aufgrund der katastrophalen Totalitarismen des 20. Jahrhunderts in Misskredit geriet. Erst in letzter Zeit scheint ein wiederauflebendes Interesse im deutschsprachigen Raum erkennbar, das auch die im angelsächsischen Raum seit den sechziger Jahren geführte Debatte um die korrekte Interpretation des Werks berücksichtigt. Die im Folgenden entfaltete Deutung versucht diese Debatte aufzunehmen und einen eigenen soziologischen Beitrag zur Interpretation des Werks zu formulieren und dabei das im Werk gestaltete soziologische Denken heraus-zuarbeiten.
Die Utopia als Kunstwerk
Es soll eine Deutung entwickelt werden, die das Werk als ein Kunstwerk versteht, obwohl es sich zweifellos nicht um einen Roman oder ein Theaterstück handelt. Zwar bildet die Dialogform das Grundgerüst des Werks und es wird das Handeln teilweise fiktionaler Figuren beschrieben, im Vordergrund steht jedoch primär das Sprechhandeln der Protagonisten nicht die Bewältigung praktischer Krisen. Vielmehr wird ihnen im Rahmen eines fiktionalen Settings die Möglichkeit eröffnet, Überlegungen zur Konzeption eines idealen Gemeinwesens auszuformulieren. Insofern dominiert im Werk die begriffliche Argumentation, so dass die These, es handele sich um ein Kunstwerk, durchaus begründungsbedürftig erscheinen muss. Dies soll an dieser Stelle jedoch nicht vorab postulatorisch geschehen, sondern es soll im Verlaufe der Interpretation verdeutlicht werden, welchen Gewinn die soziologische Rekonstruktion aus der methodischen Prämisse, die Utopia ließe sich werkimmanent interpretieren, verspricht.
Die Rezeption des Werkes nach dem Muster späterer Utopien als Ent-wurf einer Idealgesellschaft, in der wesentliche Probleme gelöst seien, verkürzt, wie erwähnt, das Werk und wird diesem nicht gerecht. Obwohl die Frage nach gesellschaftlichen Problemen und ihrer Behebung zentrale Gegenstände bilden, ist der utopische Gesellschaftsentwurf eingebettet in einen Dialog, der über dessen Inhalte hinaus thematisiert, welche Merkmale eine Praxis aufweist, die diese utopischen Inhalte vertritt. Eine genaue Analyse des Textes kann herausarbeiten, dass der Autor Thomas More den utopischen Gesellschaftsentwurf anders als viele seiner Nachfolger nicht affirmativ propagiert, sondern die Praxis seiner Propagierung kritisch betrachtet und Aporien gestaltet, die den Entwurf prägen. Am Ende lässt eine genauere Ausdeutung der Person des Hythlodaeus und den Widersprüchen und Inkonsistenzen seines Reiseberichts wenig übrig, das als Erfüllung eines Ideals bestand hat. Vielmehr wird erkennbar, wie wichtig die Ironie im Werk ist.
Die Analyse wird jedoch auch zu dem Ergebnis kommen, dass der Autor More die reduktionistische Lesart seines Werks selbst durch bestimmte Deutungsangebote empfiehlt, da er sie im Titel und - wie eine genauere Analyse zeigen wird - im vorangestellten Brief nahelegt. Die Gestaltung des Werks stellt den Leser vor ein Problem. Er gerät in eine Situation, in der er sich entscheiden muss: Entweder er wählt eine oberflächliche Lektüre. Dann wird er den Vorschlägen der Protagonisten folgen, den Bericht von der Insel Utopia als einen Bericht über ein ideales Gemeinwesen interpretieren und die Aussagen zur damaligen englischen Gesellschaft als eine Kritik an ebendieser deuten, die durch die Konstruktion der utopischen Alternative verbessert werden könnte, oder aber er entscheidet sich für eine genauere Lektüre und wird seine Aufmerksamkeit auf den Protagonisten richten, der zunächst eine Kritik an der englischen Gesellschaft formuliert und dann berichtet, er habe ein Gemeinwesen kennengelernt, das die analysierten Probleme grundsätzlich nicht aufweise. Die Zweifel an der Glaubwürdigkeit dieser Figur werden nur einem Leser auffallen, der sich in der Lektüre primär nicht von dem Wunsch leiten lässt, in dem utopischen Vorschlag eine umfassende Lösung sozialer Probleme zu finden.
Die folgende Untersuchung der Schrift knüpft an die kultur- und wis-senssoziologische Tradition der Werkanalyse an, wie sie unter anderem von Adorno theoretisch begründet und durchgeführt wurde. Adorno hat sich selbst zwar engagiert mit dem Thema der Utopie auseinandergesetzt die Utopia des Thomas More jedoch nie zum Gegenstand einer näheren Betrachtung gewählt. Die folgende Analyse orientiert sich insbesondere an dem Begriff des immanenten Formgesetzes von Adorno. Der Begriff des autonomen Kunstwerks ist bei Adorno durch dessen immanente Struktur begründet:
'Im autonomen Kunstwerk wird jegliches Mittel gerechtfertigt durch die Funktion, die es für die anderen und alle für das Ganze haben, das kraft eines solchen Funktionszusammenhangs zum Sinn, zu mehr als bloßer Erscheinung wird.'
Kunstwerke eignen sich als privilegierte Gegenstände soziologischer Re-konstruktion, indem nicht der in ihnen vorfindliche etwaige begriffliche Gehalt auf seine Übereinstimmung mit externen soziologischen Annahmen hin überprüft wird, sondern eine an das immanente Formgesetz des Werks sich anschmiegende Rekonstruktion vollzogen wird. Diese setzt zwar theoretische Annahmen voraus, lässt es jedoch nicht mit einer bloßen Applikation bewenden. Vielmehr wird die immanente Form als Trägerin einer Sinnstruktur begriffen, die sich nur feinanalytisch rekonstruieren lässt.
Ein weiteres Begriffspaar, das sich für die Begründung einer kunstsoziologischen Rekonstruktion der Utopia des Thomas More anführen lässt, ist die Unterscheidung zwischen sinnlicher und begrifflicher Erkenntnis, die auf Baumgarten zurückgeht. Wurde die Utopia bislang in der Soziologie, Politikwissenschaft und Philosophie vornehmlich unter dem Blickwinkel der in ihr vorfindbaren begrifflichen Erkenntnisgehalte verstanden, so soll im Folgenden das Moment der sinnlichen Erkenntnis Berücksichtigung finden.
Mag es bei musikalischen, filmischen oder bildnerischen Kunstwerken unmittelbar anschaulich sein, dass der begriffliche Gehalt der Kunstwerke durch den sinnlichen überlagert wird, so ist dies bei sprachlichen Kunstwerken erläuterungsbedürftig. Die Mittel der sinnlichen Erkenntnis liegen in sprachlichen Kunstwerken einerseits bei der Gestaltung von Entsprechungen zwischen begrifflich scheinbar disparaten Sachverhalten sowie andererseits bei den sprachlichen Suggestionsmittel, die in der Utopia zum Beispiel in der satirischen Gestaltung zu finden sind. Die Darstellung des utopischen Gemeinwesens im Werk folgt nicht den Regeln einer begrifflich durchgearbeiteten Argumentation, sondern weist zahllose Ungereimtheiten, Widersprüche und Inkonsistenzen auf. Diese sind erkennbar intendiert und keineswegs Folge eines Unvermögens des Autors. Somit sind sie Bestandteil der Suggestivität des Werkgegenstandes. Das Werk inszeniert den utopischen Bericht, anders als viele spätere Utopien, nicht als ein affirmatives Plädoyer für die entworfene Gesellschaftsform, sondern der Bericht weist bestimmte Merkmale auf, die ihn und die Person, die den Bericht formuliert, prinzipiell zweifelhaft erscheinen lässt.
Es wird in der Utopia des Thomas More nicht nur die entworfene Gesellschaft selbst thematisiert, sondern auch das Denken, das zu einem solchen Entwurf führt und darüber hinaus die Sozialfigur des Protagonisten, der den Entwurf vorträgt, der als eine Frühform des Intellektuellen angesehen werden kann. Die Interpretation versteht sich daher auch als ein Beitrag zu soziologischen Rekonstruktion der Figur des Intellektuellen.
Methodisch orientiert sich die Analyse an Prinzipien der objektiv-hermeneutischen Sequenzanalyse, die sinnstrukturellen Zusammenhängen in einer 'künstlich naiven' Interpretation unter Beibehaltung der sequenziellen Struktur des Werkes nachgeht. Dabei wird angenommen, dass sich die spezifische Suggestivität des Werks sequenziell entfaltet. Das heißt, die Reihenfolge der Darstellung, die Entwicklung des Dialoges sowie die Ab-folge der Themen bergen eigene Bedeutungsgehalte. Ferner ist das imma-nente Formgesetz des Werks nicht durch Bezüge auf Sachverhalte und Wissensbestände außerhalb des Werks zu ergründen, sondern nur in den Gehalten, die im Werk erschlossen werden können. Die 'epochemachende' Bedeutung des Werks kann nicht allein dadurch erklärt werden, dass es in einem rekonstruierbaren humanistischen Diskurs eingebettet ist oder dass es auf vorangegangene, zum Beispiel antike Autoren wie Platon oder Lukian Bezug nimmt. Solche im Werk enthaltenen Bezüge setzen die spezielle Kenntnis der Werke voraus, auf die sich die Utopia bezieht und ihre Rekonstruktion ist zweifellos ein lohnendes Feld der geisteswissenschaftlichen Forschung, wie sie in der Literatur umfangreich zu finden ist. Die Kenntnis dieser Zusammenhänge kann aber nicht beim Leser vorausgesetzt werden. Hätte das Werk nur bei einem fachlich gebildeten Spezial-publikum Interesse gefunden, wäre seine 'epochemachende' Wirkung nur schwer erklärbar. Suggestiv ist die Utopia jenseits der zahlreichen impliziten Verweise auf ein spezielles Bildungswissen. Eine werkimmanente Rekonstruktion macht es sich zur Aufgabe, diese immanente Suggestivität zu bestimmen.
Die folgende Untersuchung unterscheidet sich insofern von anderen Monographien der Utopieforschung, als sie weder Vergleiche verschiedener Utopien formuliert, noch die literaturgeschichtliche Entwicklung der Gattung Utopie betrachtet. Die vielen literarischen Bezüge innerhalb des Werks bleiben weitgehend unberücksichtigt. Die Nicht-Offensichtlichkeit der Inkonsistenzen ist Teil der Gestaltung. Sie wurde nicht selten als Ausdruck der Intention des Autors interpretiert, dem Leser nicht nur eine Deutung zu präsentieren, sondern diesen dazu zu veranlassen, selbst Deutungsbemühungen zu unternehmen. Dieses Moment der Werkgestalt nimmt die folgende Analyse zum Ausgangspunkt.

Erscheint lt. Verlag 8.9.2016
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Sozialwissenschaften Soziologie Allgemeines / Lexika
Schlagworte Gesellschaftsentwurf • Idealgesellschaft • Soziologie des Intellektuellen • Thomas Morus • Utopie • Utopisches Denken
ISBN-10 3-593-43511-X / 359343511X
ISBN-13 978-3-593-43511-4 / 9783593435114
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