Schriften zur Ökonomie und Soziologie (eBook)

Lisa Herzog, Axel Honneth (Herausgeber)

(Autor)

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2016 | 1., Originalausgabe
435 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74172-6 (ISBN)

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Schriften zur Ökonomie und Soziologie - Joseph Schumpeter
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Joseph Schumpeter zählt unbestritten zu den bedeutendsten Ökonomen des 20. Jahrhunderts. Seine These, der Kapitalismus beruhe auf »schöpferischer Zerstörung«, ist mittlerweile zu einem geflügelten Wort geworden und mit seinem Buch Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie hat er die Schule der »ökonomischen Theorie der Politik« begründet. Weniger bekannt sind bisher Schumpeters Aufsätze zu Fragen der Ökonomie und Soziologie, unter denen sich einige bahnbrechende Studien befinden, die gerade im Rahmen der neueren Auseinandersetzung um das Verhältnis von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik im Zuge der globalen Finanzkrise von erneuter Relevanz sind. Der Band versammelt eine Auswahl dieser Aufsätze, teilweise zum ersten Mal in deutscher Übersetzung, und wird von Lisa Herzog und Axel Honneth mit einem Nachwort begleitet.

<p>Joseph Schumpeter (1883-1950) war ein &ouml;sterreichischer Wirtschaftswissenschaftler. Zuletzt lehrte er an der Harvard University.</p>

43Die Erklärung des Konjunkturzyklus


I


Die Kindheit jeder Wissenschaft ist gekennzeichnet durch die Vorherrschaft von »Schulen«, d. h. von Körperschaften, die auf bestimmte Doktrinen eingeschworen sind, welche sich toto caelo in bezug auf philosophischen Hintergrund und methodische Grundlagen voneinander unterscheiden und bezwecken, verschiedene »Systeme« zu predigen und – wenn möglich – in jedem Einzelfall unterschiedliche Ergebnisse vorzuweisen, wobei sich jede von ihnen im alleinigen Besitz der Wahrheit und im Kampf für die absolute Erleuchtung gegen die absolute Finsternis wähnt. Aber sobald eine Wissenschaft »Mannesalter« erreicht hat, verlieren diese Dinge allmählich an Bedeutung, ohne jedoch jemals völlig zu verschwinden: Der gemeinsame Boden dehnt sich aus, Vorzüge und Grenzen der »Standpunkte« und »Methoden« werden zur communis opinio doctorum, fundamentale Gegensätze gehen allmählich ineinander über; und die weiterhin bestehenden Unterschiede beschränken sich auf klare Fragen von Tatsachen und analytischen Methoden, die durch exakte Beweise geklärt werden können.

Unsere Wissenschaft ist zwar den Kinderschuhen entwachsen, sie hat aber ihr Mannesalter noch nicht erreicht. Einerseits wird unsere Geduld noch immer durch die Phraseologie von »Schulen« und »Ismen« auf die Probe gestellt, und es eröffnen sich für Produkte mäßiger Qualität noch immer in ausreichendem Maß Möglichkeiten, sich als richtungsweisend auszugeben; aber andererseits zeigt der wirklich lebende Teil unserer Wissenschaft hoffnungsvolle Zeichen jener – wenn ich es so nennen darf – Konvergenz der Bemühungen, die sowohl notwendige als auch hinreichende Bedingung für ernsthafte Leistungen ist. Jene Ökonomen, auf die es wirklich ankommt, unterscheiden sich bei weitem nicht in jenem Ausmaß, wie die meisten Menschen glauben. Sie gehen von denselben Prämissen aus; die Probleme stellen sich ihnen mehr oder weniger in demselben Licht dar; sie nähern sich ihnen mit ähnlichen Methoden; und schließlich weisen ihre Ergebnisse meist auf gemeinsame Ziele hin, obwohl einigen von ihnen daran gelegen ist, Trennendes mehr zu betonen als Gemeinsames. Dies gilt nicht nur für 44die grundsätzlichen Fakten und Methoden, sondern auch für die Randbezirke jedes einzelnen unserer ehrwürdigen Probleme.

Das Problem des Konjunkturzyklus ist ein gutes Beispiel. Es stellte sich den Ökonomen der klassischen Periode und ihren unmittelbaren Nachfolgern im Lichte der auffallenden Tatsache immer wiederkehrender »Krisen« dar. Zwei erste Ergebnisse wurden rasch erzielt. Eines besagte – nur negativ, aber von größter »diagnostischer« Wichtigkeit –, daß ein generelles Überangebot unmöglich ist; das andere, daß Krisen ein wesentlicher Bestandteil des kapitalistischen Prozesses sind – ich sollte lieber sagen, daß es höchst wahrscheinlich ist, daß sie dies sind – und nicht bloß gelegentliche, unter Hinweis auf die im Einzelfall unterschiedlichen Umstände individuell erklärbare Zusammenbrüche, die immer dann auftreten, wenn irgend etwas hinreichend Wichtiges schiefgeht.[1] Aber abgesehen von diesen beiden Erkenntnissen, erstreckte sich die Diskussion auf fundamental unterschiedliche Auffassungen über den kapitalistischen Prozeß, wobei jeder Autor unterschiedliche Schlußfolgerungen aus unterschiedlichen Prämissen zog, bis die Diskussion schließlich in einer Atmosphäre theoretischer Hoffnungslosigkeit erschlaffte. Dann kam der große Impuls, den wir dem Genie von Clément Juglar verdanken. Er brachte zunächst das wirkliche Problem ans Tageslicht, indem er zeigte, daß Krisen nur Elemente einer viel breiteren und tieferen zyklischen Bewegung sind; zweitens gelang es ihm, diese zyklische Bewegung empirisch zu beschreiben; und drittens trug er wesentlich zu ihrer Erklärung bei. Er fand nur wenige unmittelbare Nachfolger, wie Des Essars. Aber später setzte dann der große Schwall von deskriptiven Studien des Zyklus ein, ein charakteristisches Merkmal der modernen Ökonomik, die – vielleicht nicht bewußt von Juglar inspiriert, aber dennoch auf Grund der Logik der wissenschaftlichen Situation aus 45seiner Quelle fließend – uns in die Lage versetzen, dort etwas zu sehen, wo unsere Vorgänger darauf angewiesen waren zu erraten. Dieser Sturzbach liefert uns von allein keine Lösung des Problems. Außerdem ist ein Teil seiner Fluten besser dazu geeignet, uns die besonderen Merkmale individueller Zyklen verstehen zu helfen, als die große Frage, warum es überhaupt so etwas wie Zyklen gibt, zu beantworten. Aber es eröffnen sich für den Analytiker, dessen Methoden mittlerweile stark verbessert sind, unendlich viele Möglichkeiten, Erklärungen zu finden und sie zu verifizieren. Somit haben wir, vielleicht zum ersten Mal, ein Stadium erreicht, in dem Tatsachen und Probleme klar und in demselben Licht vor uns liegen und in dem Analyse und Beschreibung im Sinne des Geistes der Naturwissenschaften zusammenarbeiten.

II


Dies ist nun tatsächlich die Linie, auf der wir uns jetzt bewegen. Sie tritt in den besten Arbeiten klar zutage, z. B. in der wichtigen Theorie von Spiethoff. So hoffnungsvoll die Situation auch sein mag, verlangt sie aber nach Fähigkeiten, die nur selten vereint zu finden sind. Und da nur wenige wie Professor Pigou die vollendete Beherrschung der statistischen Fakten und die Kunst ihrer Behandlung mit einer unerreichten Meisterung der analytischen Maschinerie vereinigen, so erscheint es nur natürlich, wenn wir uns seinem jüngsten Werk auf diesem Gebiet[2] mit den höchsten Erwartungen nähern. Sie haben sich weitestgehend erfüllt. Das Buch stellt eine bewundernswerte Leistung dar. Es ist schier unmöglich, innerhalb der Grenzen eines Artikels einen adäquaten Eindruck von seinen fruchtbaren und originellen Beiträgen zu vermitteln. Wir werden uns daher hauptsächlich auf den ersten Teil: »Verursachung« beschränken und davon absehen – es sei denn beiläufig –, in eine Erörterung der weitläufigen und komplexen Fragen, die im zweiten Teil: »Remeduren« behandelt werden, einzutreten.

Es gibt in Wirklichkeit – vorbehaltlich einer später eingeführten Qualifikation – vier Gruppen von Problemen, die unter den Titel »Industrielle Schwankungen« fallen: saisonale Schwankungen, 46»Zyklus«, »lange Wellen« und säkularer Trend. Professor Pigous Analyse beschränkt sich auf die zweite, und wir werden seinem Beispiel folgen, obwohl wir uns des Gefühls nicht erwehren können, daß die beiden zuletzt genannten binnen kurzer Zeit die Aufmerksamkeit der Forscher auf diesem Gebiet in Anspruch nehmen werden und daß die Probleme des Konjunkturzyklus ohne deren Berücksichtigung nicht befriedigend behandelt werden können.

Nun begegnet man von Anfang an einer Unterscheidung, deren Trivialität ihr nichts von ihrer Wichtigkeit nimmt. Mit »Theorie des Konjunkturzyklus« können wir zunächst einmal eine Analyse irgendeines historisch aufgezeichneten Zyklus meinen oder, aus einer solchen Analyse vieler oder aller aufgezeichneten Zyklen hervorgehend, eine gründlich erforschte Geschichte des Phänomens. Das bedeutendste Beispiel dieses Typus ist wohl Professor Mitchells Buch.[3] Zweitens können wir mit diesem Begriff eine allgemeine, möglichst erschöpfende Theorie all derjenigen Elemente, die an den von uns beobachteten Phänomenen mitwirken, sowie ihres Zusammenwirkens meinen. Drittens können wir wiederum etwas anderes meinen, nämlich eine Theorie dessen, was wir als die fundamentale Ursache begreifen. Die Mißachtung dieser Unterscheidung hat wiederholt zu Mißverständnissen geführt. So hat Pareto die Auffassung vertreten, die Frage nach »dem« Ursprung des Zinssatzes ergebe keinen Sinn; der Zins sei offensichtlich das Ergebnis aller Elemente des ökonomischen Systems. Obwohl es natürlich richtig ist, daß der Zinssatz in jedem Zeitpunkt eine Funktion aller anderen in diesem Zeitpunkt existierenden Größen ist, folgt daraus nicht, daß jene Frage vergeblich ist; und diese Behauptung ist offenbar nur geeignet, die Dinge weiter zu verwirren. Denn nirgendwo ist die angesprochene irrige Ansicht trügerischer und gefährlicher als im speziellen Fall der Theorie der Konjunkturzyklen. Denn nirgendwo ist es schwieriger, das Grundsätzliche vom Zufälligen zu sondern, oder leichter, die Unzulänglichkeiten einer Erklärung durch eine Fülle von nebensächlichen Erwägungen, und die Mangelhaftigkeit der Analyse entweder unter Berufung auf die 47Komplexität der Details, die immer so überzeugend wirkt in den Augen der »Praktiker«, oder das berühmte Prinzip der ökonomischen Interdependenz, das gelegentlich eine ganze Reihe von analytischen Sünden verbirgt, zu kaschieren.

Professor Pigous Theorie ist vom zweiten Typ. Ich will jedoch damit nicht den Eindruck entstehen lassen, er böte keine »fundamentale Erklärung« des Phänomens. Aber er beabsichtigt mehr als das, und gerade die Reichhaltigkeit des Überblicks macht das Buch so wertvoll – nicht nur für den Forscher, sondern auch für den Unternehmer, dessen Bedürfnissen mit einer »reinen« Theorie der Ursache oder der Ursachen des Zyklus nur wenig gedient ist – und sichert ihm einen hohen Rang in der ersten Reihe der Beiträge auf diesem Gebiet. Man läßt ihm keine Gerechtigkeit widerfahren, wollte man nur die fundamentale Erklärung des Zyklus, die es anbietet, behandeln und außer acht lassen, daß es im Zuge seiner Argumentation viele Probleme der industriellen Schwankungen im allgemeinen löst. Beschränkungen des Platzes zwingen uns jedoch gerade dazu,...

Erscheint lt. Verlag 13.6.2016
Nachwort Heinz D. Kurz
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Wirtschaft
Schlagworte Bruno-Kreisky-Preis 2015 • Deutscher Preis für Philosophie und Sozialethik 2019 • Ernst-Bloch-Preis 2015 • Kapitalismus • Ökonomie • Soziologie • STW 2112 • STW2112 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2112
ISBN-10 3-518-74172-1 / 3518741721
ISBN-13 978-3-518-74172-6 / 9783518741726
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