Was geschah im 20. Jahrhundert? (eBook)

Unterwegs zu einer Kritik der extremistischen Vernunft
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2016 | 1. Auflage
348 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74303-4 (ISBN)

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Was geschah im 20. Jahrhundert? -  Peter Sloterdijk
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Peter Sloterdijk ist erwiesenermaßen ein Schriftsteller von Rang. Was nicht jedermann vertraut ist: Er ist ein brillanter Rhetor. Seine in diesem Band gedruckten Vorträge thematisieren, aus unterschiedlichen Perspektiven und zu unterschiedlichen Anlässen, welche Lasten, welche Lehren, welche Hoffnungen das 20. dem folgenden Jahrhundert vermacht hat.
Kein einzelner Begriff, kein einprägsamer Slogan, von »Atomzeitalter« bis »Globalisierung«, beantwortet die im Titel aufgeworfene Frage. Eine reine Ereignis- oder Ideengeschichte kann die Bedeutung dieses Jahrhunderts für die Nachwelt ebenfalls nicht erfassen. Deshalb, so die These von Peter Sloterdijk, sind völlig neue Vorgehensweisen auf allen Feldern notwendig, von der Ökonomie bis zur Philosophie. Und dabei kommt, nicht ohne Sloterdijks Ironie und Metaphernkunst, dem Schatz eine zentrale Stellung zu: Diesen Schatz, also die Natur, die Heimat, das Raumschiff Erde, gilt es zu bewahren gegen die extremistische Vernunft, die das vergangene Jahrhundert prägte. »Der Mensch ist für die Bewohnung und Geschäftsführung der Erde im ganzen verantwortlich geworden, seit seine Anwesenheit auf ihr sich nicht länger im Modus der mehr oder weniger spurlosen Integration vollzieht.«



<p>Peter Sloterdijk wurde am 26. Juni 1947 als Sohn einer Deutschen und eines Niederländers geboren. Von 1968 bis 1974 studierte er in München und an der Universität Hamburg Philosophie, Geschichte und Germanistik. 1971 erstellte Sloterdijk seine Magisterarbeit mit dem Titel <em>Strukturalismus als poetische Hermeneutik</em>. In den Jahren 1972/73 folgten ein Essay über Michel Foucaults strukturale Theorie der Geschichte sowie eine Studie mit dem Titel <em>Die Ökonomie der Sprachspiele. Zur Kritik der linguistischen Gegenstandskonstitution</em>. Im Jahre 1976 wurde Peter Sloterdijk von Professor Klaus Briegleb zum Thema<em> Literatur und Organisation von Lebenserfahrung. Gattungstheorie und Gattungsgeschichte der Autobiographie der Weimarer Republik 1918-1933</em> promoviert. Zwischen 1978 und 1980 hielt sich Sloterdijk im Ashram von Bhagwan Shree Rajneesh (später Osho) im indischen Pune auf. Seit den 1980er Jahren arbeitet Sloterdijk als freier Schriftsteller. Das 1983 im Suhrkamp Verlag publizierte Buch <em>Kritik der zynischen Vernunft</em> zählt zu den meistverkauften philosophischen Büchern des 20. Jahrhunderts. 1987 legte er seinen ersten Roman <em>Der Zauberbaum</em> vor. Sloterdijk ist emeritierter Professor für Philosophie und Ästhetik der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe und war in Nachfolge von Heinrich Klotz von 2001 bis 2015 deren Rektor.</p>

Peter Sloterdijk wurde am 26. Juni 1947 als Sohn einer Deutschen und eines Niederländers geboren. Von 1968 bis 1974 studierte er in München und an der Universität Hamburg Philosophie, Geschichte und Germanistik. 1971 erstellte Sloterdijk seine Magisterarbeit mit dem Titel Strukturalismus als poetische Hermeneutik. In den Jahren 1972/73 folgten ein Essay über Michel Foucaults strukturale Theorie der Geschichte sowie eine Studie mit dem Titel Die Ökonomie der Sprachspiele. Zur Kritik der linguistischen Gegenstandskonstitution. Im Jahre 1976 wurde Peter Sloterdijk von Professor Klaus Briegleb zum Thema Literatur und Organisation von Lebenserfahrung. Gattungstheorie und Gattungsgeschichte der Autobiographie der Weimarer Republik 1918–1933 promoviert. Zwischen 1978 und 1980 hielt sich Sloterdijk im Ashram von Bhagwan Shree Rajneesh (später Osho) im indischen Pune auf. Seit den 1980er Jahren arbeitet Sloterdijk als freier Schriftsteller. Das 1983 im Suhrkamp Verlag publizierte Buch Kritik der zynischen Vernunft zählt zu den meistverkauften philosophischen Büchern des 20. Jahrhunderts. 1987 legte er seinen ersten Roman Der Zauberbaum vor. Seit 2001 ist Sloterdijk in Nachfolge von Heinrich Klotz Rektor der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe sowie dort Professor für Philosophie und Ästhetik.

Von der Domestikation des Menschen zur Zivilisierung der Kulturen Zur Beantwortung der Frage, ob die Menschheit zur Selbstzähmung fähig ist


§ 1 Pastorale Metaphysik: Die Entdeckung des Domestikationsproblems


Daß Menschen zu sich selbst und ihresgleichen Verhältnisse einnehmen können und müssen, die mit Verben wie Zähmen, Züchten und Hüten umschrieben werden: diese anthropologische Erkenntnis tauchte in der Ideenevolution des Westens zwei Mal in völlig eigensinnigen Zusammenhängen auf, jedesmal an wichtigen geistesgeschichtlichen Wendungen. Die erste Erscheinung des Vorstellungskomplexes verbindet sich mit dem Namen Platons. Der Gründer der athenischen Akademie stieß bei seinen Versuchen, die traditionelle Praxis der Erzieher und Staatslenker in präzisen Begriffen neu zu fassen, auf eine Art von anthropologischer Differenz, die das Menschenwesen von innen her zerklüftet. Weil Menschen in Hochkulturen nicht von Natur aus sein können, was sie gleichwohl wie von Natur aus sind, müssen sie als einzelne erzogen und als Staatsbürger einer vernünftigen Lenkung unterstellt werden. Erziehung und politische Führung sind die beiden Praxisfelder, in denen die Unfähigkeit des hochkulturellen Menschen, sich ohne Anleitung anderer zu verwirklichen (antik gesprochen: der eigenen Natur zu gehorchen), sich besonders auffällig manifestiert. Bei der näheren Bestimmung der pädagogischen und staatskybernetischen Funktionen greift Platon auf Bilder und Analogien zurück, die der pastoralen Sphäre entnommen sind. Vor allem der Dialog Politikós zeigt Platons politische Pastoraltheorie in voller Entfaltung. In diesem Kontext begegnet man der bekannten und immer noch etwas skandalösen Wendung, die Kunst des Staatslenkers sei eine »Hüte-Kunst« für ungefiederte, ungehörnte, unvermischt begattete Zweibeiner, mit dem bedeutsamen Zusatz, es handle sich – da Tyrannei bei Griechen im allgemeinen und Philosophen im besonderen niemals in Frage kommt – um eine freiwillige Aufsicht über eine Herde von freiwillig zusammenlebenden Lebewesen (Politikós, 276e). Dem griechischen Rationalismus ist die Überzeugung eigen, der Mensch könne nur durch eine spezifische Askese – das heißt ein System nachhaltiger Übungen – von seinen unvernünftigen Neigungen abgebracht und zum Einzug ins Haus der Vernunft bewogen werden. Es erübrigt sich, an dieser Stelle zu zeigen, wie die platonische Pastoralanthropologie Schule gemacht hat. Dank einer Reihe von Übersetzungen und Reformulierungen hat sie, vor allem nach ihrer Amalgamierung mit der neutestamentlichen Figur des Guten Hirten, eine tiefe Spur im okzidentalen Imaginären hinterlassen. Aus ihr sind die Bilder von Herden und ihren Hirten hervorgegangen, die seit fast 2000 Jahren der christlichen Gemeindelogik zugrunde liegen.

Die zweite Entdeckung der Notwendigkeit, den Menschen zum Menschen abzurichten, geschieht unter radikal veränderten Umständen im 19. Jahrhundert, nachdem Darwin durch seine Naturalisierung der Gattungsgeschichte den Menschen an das Ende einer Evolutionsreihe gestellt hatte, die den nun so genannten homo sapiens zu einem Vettern der Menschenaffen erklärte. Seither wird die traditionelle pädagogische Frage, wie der Mensch zum Menschen zu bilden sei, von einem biologisch-evolutionären Drama überlagert. An die Stelle der Spannung von Unvernunft und Vernunft tritt jetzt der Antagonismus von Wildnis und Zivilisation oder, um in mythologischen Ausdrücken zu sprechen, von dionysischen und apollinischen Kräften. In dieser Lage erst kann die Rede von Domestikation einen ernsten Ton annehmen. Die Formung des Menschen ist jetzt nicht mehr nur metaphorisch als Einzug ins Haus der Vernunft zu denken, sie soll buchstäblich als Umzug aus der tierischen Wildheit in die zivilisierte Häuslichkeit begriffen werden. An dieser Stelle erfolgt Nietzsches beunruhigende Intervention: Er hatte als einer der ersten begriffen, daß der Generationenprozeß im litteralen Sinn immer auch Selbstzüchtungen impliziert, und zwar, wie er meinte, üblicherweise im Sinne einer fortschreitenden Selbstverharmlosung nach dem Leitbild priesterlicher und antiaristokratischer Vorurteile. Daher die provozierenden Verse aus dem Gesang Von der verkleinernden Tugend im dritten Teil von Also sprach Zarathustra:

»Sie wollen im Grunde einfältiglich Eins am meisten: dass ihnen Niemand wehe thue … Tugend ist ihnen das, was bescheiden und zahm macht: damit machten sie den Wolf zum Hunde und den Menschen selber zu des Menschen bestem Hausthiere.«

Begnügen wir uns hier mit der Feststellung, Nietzsches Beobachtungen seien weiterhin gut nachvollziehbar; seine Sorgen jedoch sind nicht mehr die der Gegenwart. Während der Verfasser von Also sprach Zarathustra sich an dem Problem abarbeitete, wie man den unterdrückten Glanz der Wildnis vor dem totalen Sieg der kastrierenden Zivilisation schützen könne, stellt sich für uns eher die Frage, wie es gelingt, der Wiederkehr der Verwilderung auf der Höhe der Zivilisation Einhalt zu gebieten.

§ 2 Jenseits der Zähmung: Von der Pädagogik zur Offenlegung der Neotenie und zurück


Der spezifische Beitrag des 20. Jahrhunderts zur Neubeschreibung der conditio humana ging von der Einsicht aus, daß die Kategorien der Evolutionstheorie nicht ausreichen, um Domestikationen zu beschreiben – weder bei Haustieren im allgemeinen noch beim König der Haustiere, dem Menschen. Generationenreihen, die einem Trend zur Domestikation folgen, unterliegen nicht dem gewöhnlichen Selektionsdruck einer rein natürlichen Umwelt. Sie profitieren von einem halb natürlichen, halb kulturell geschaffenen Sonderklima, in dem nicht notwendigerweise die optimal an die externe Natur Angepaßten überleben, vielmehr die Exemplare, die mit den Binnenverhältnissen am besten zurechtkommen: Dies sind die Lebewesen, die sich durch eine besondere Agilität, eine erhöhte Lernfähigkeit, eine gewinnende Soziabilität und schließlich durch bioästhetische Vorzüge auszeichnen. Ein naturgeschichtliches Vorspiel hierzu bieten die nestbauenden Lebewesen, insbesondere Vögel, aber auch einzelne Reptilien, wie der bekannte mexikanische Salamander, der zeitlebens seine larvale Form behält, daneben aber insbesondere jene Mammiferen, die ihrem Nachwuchs einen hohen Standard an Nestsicherheit und Brutpflege zu bieten imstande sind. Bei solchen Lebewesen beobachten Biologen einen Komplex von Merkmalen, der seit dem späten 19. Jahrhundert mit dem Ausdruck Neotenie, das heißt Fixierung von Jugendeigenschaften (bzw. durch das Konzept des Paidomorphismus), beschrieben wird. In dasselbe Feld gehört der Trend zur Vorverlegung des Geburtszeitpunkts, der dazu führt, daß hochgradig unreife Junge zur Welt kommen – ein Merkmal, das ohne luxurierende Nestsicherheit nicht zu denken ist. Alle diese Tendenzen bündeln sich bei homo sapiens, dessen Nachwuchs sich zum Zeitpunkt der Geburt durch eine extreme Unreife auszeichnet. Die menschliche »Frühgeburtlichkeit« – so der terminus technicus, den Adolf Portmann um die Mitte des 20. Jahrhunderts geprägt hat – zieht nicht nur die Tatsache nach sich, daß die juvenile Phase im menschlichen Lebenszyklus ungewöhnlich verlängert wird; sie führt zu dem paradoxen Effekt, daß die im biologischen Sinn »erwachsenen« Exemplare aussterben, indessen die verfrühten, die larvalen oder fötalen Formen das Fortpflanzungsmonopol erlangen. Nach Louis Bolk, dem holländischen Paläoanthropologen, dem diese schon in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts formulierten dramatischen Einsichten zu verdanken sind, ist die evolutionstheoretische Wahrheit über homo sapiens in der provozierenden These enthalten, wonach dieser eine Gattung von kulturell und biologisch erfolgreichen Primatenföten darstellt, die ihrer Juvenilisierung zum Trotz eine fortpflanzungsfähige Species bilden.

Mit diesen Hinweisen auf die neotenische Kondition der Menschengattung verbindet sich eine dritte Entdeckung der menschlichen Domestikation, die den beiden vorangehenden eine neue Bedeutung verleiht. Die Offenlegung des Neotenie-Geheimnisses untermauert die Einsicht der Kulturanthropologen, daß der Mensch von elementaren Stufen an als Kulturgeschöpf begriffen werden muß. Die fundamentale Kulturalität des Menschen zeigt sich von nun an unter einem doppelten Licht: Zum einen bedeutet Kultur die Fortsetzung eines biologischen Nestprivilegs mit zivilisatorischen Mitteln – in diesem Kontext meint Domestikation weder den Einzug ins Haus der Vernunft noch den ins Haus der Zivilisation, sondern die graduelle Umgestaltung von Nestsicherheiten zu architektonischen Sicherungen und soziotechnischen Privilegien. Man erkennt seither mit größerer Deutlichkeit, wie Kultur insgesamt als ein umfassender Brutkasten funktioniert, der sich um ihre Mitglieder legt. Zum anderen wird durch diese Überlegungen deutlich, daß homo sapiens bis in seine innersten Antriebslagen von kulturellen Steuerungen abhängig ist. Nach dem Abbau der rein biologischen Orientierungsprogramme infolge seiner extremen Neotenie müssen die Verluste kompensiert werden, die homo sapiens infolge der jetzt fehlenden Innenlenkung durch Instinktsysteme und die verlorene feste Umweltkopplung der Gehirne erlitten hat. Die Kompensation geschieht mit Hilfe von Systemen der symbolischen Führung, die Instinkte durch Autoritäten ersetzen – ein Motiv, das um die Mitte des 20. Jahrhunderts in den Schriften Arnold Gehlens entfaltet wurde. Die symbolischen Ordnungssysteme entlasten jedes einzelne Menschenjunge von der von ihm allein unmöglich zu lösenden Aufgabe, die Erfahrungen und Erfindungen...

Erscheint lt. Verlag 7.3.2016
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Literatur Romane / Erzählungen
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Essays • Europa • Globalisierung • Menschheitsgeschichte • Prinzip Sofort • Sachbuch • Sphären • spiegel bestseller • Spiegelbestseller • SPIEGEL-Bestseller • ST 4781 • ST4781 • suhrkamp taschenbuch 4781 • Traum • Wohlstand
ISBN-10 3-518-74303-1 / 3518743031
ISBN-13 978-3-518-74303-4 / 9783518743034
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