Du Miststück - Meine Depression und ich (eBook)
208 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-403678-6 (ISBN)
Alexander Wendt, geboren 1966 in Leipzig, arbeitet seit 1989 als Journalist unter anderem für den Stern, die Wirtschaftswoche und den Tagesspiegel. Seit 1995 gehört er der Redaktion des Focus an und ist dort Autor zahlreicher Beiträge, Reportagen und Titelgeschichten über Bildung, zeitgeschichtliche Themen, die Energiewende und den Islam. 1991 erhielt er den Axel-Springer-Preis. Im Februar 2014 begab er sich wegen seiner Depression in stationäre und teilstationäre Behandlung. Der Autor und Wirtschaftsjournalist lebt und arbeitet in München.
Alexander Wendt, geboren 1966 in Leipzig, arbeitet seit 1989 als Journalist unter anderem für den Stern, die Wirtschaftswoche und den Tagesspiegel. Seit 1995 gehört er der Redaktion des Focus an und ist dort Autor zahlreicher Beiträge, Reportagen und Titelgeschichten über Bildung, zeitgeschichtliche Themen, die Energiewende und den Islam. 1991 erhielt er den Axel-Springer-Preis. Im Februar 2014 begab er sich wegen seiner Depression in stationäre und teilstationäre Behandlung. Der Autor und Wirtschaftsjournalist lebt und arbeitet in München.
Depression ist kein angenehmes Thema. […] Alexander Wendt schafft es aber, einfühlsam und teilweise gar humorvoll über seine Erfahrungen mit der Krankheit zu erzählen.
Eine gute Mischung aus Theorie und Selbsterfahrung.
Literarisch, klug und alles andere als larmoyant verhandelt der Autor und Journalist das Wesen der Depression.
gelassen, gelehrt, nachdenklich
Wendts Buch macht Betroffenen und Angehörigen Mut. Und das nicht nur, weil es die Geschichte einer Genesung erzählt.
Das Buch ist so packend und gleichzeitig auch mit viel Humor geschrieben […], dass ich die 200 Seiten ohne Unterbrechung gelesen habe
1 / Die Depression und ich, wir zwei
Vielleicht befindest du dich noch im Zustand A wie Abwehr, vielleicht bist du schon weiter, überlegst gerade selbst, in eine Klinik zu gehen, oder du sitzt schon drin, hast gerade deine Tasche neben das Bett gestellt und dir einen Tee geholt. Du möchtest jetzt in deinem Ratgeberbuch Tricks vermittelt bekommen, wie du die Depression von dir abtrennen und aus deinem Leben werfen kannst. Ein solcher Schnitt wäre tatsächlich eine Befreiung. Er funktioniert nur nicht. Die meisten Depressiven müssen lebenslänglich mit ihrer Krankheit zurechtkommen. Sie verschwindet ab und zu unter einer Oberfläche, manchmal von allein, meist mit medikamentöser Hilfe. Aber immer mit der Abschiedsformel des rosaroten Panthers: Ich komm wieder, keine Frage. Du musst also mit einem Zustand leben, den du dir nicht ausgesucht hast, an dem du nicht schuld bist und dem du höchstwahrscheinlich nie ganz entkommst. Das ist die erste Nachricht. Die andere: Du kannst mitbestimmen, wie du mit deiner lästigen Begleitung lebst. Du musst dich nicht unterwerfen. Du brauchst deine Autonomie nicht aufzugeben. Darum geht es in diesem Buch: um die Verteidigung der Autonomie trotz ungünstiger Bedingungen. Aber um ehrlich zu sein, welche zufriedene, gesunde Person hätte überhaupt einen Grund, über ihre Autonomie nachzudenken und einen Verteidigungsplan dafür auszuhecken? (Verzeih mir übrigens die Duzerei. Das ist sonst nicht meine Art. Aber in den Klinken mit den schrägen Türklinken herrscht unter den Patienten traditionell eine Art Gewerkschaftsdu.)
Für ungefähr vier Millionen Menschen in Deutschland gelten die international standardisierten Diagnoseschlüssel F 30 bis F 39, die alle Ausprägungen der Depression von leicht bis tödlich abdecken. Etwa 7000 Depressive begehen pro Jahr in Deutschland Suizid. Sogenannte schwere depressive Episoden zählen zu den potentiell tödlichen Krankheiten. Von denjenigen, die unter einer Major Depression leiden, töten sich etwa fünfzehn Prozent. Unter allen Erziehungsratgebern ist dieser Text deshalb vielleicht der einzige, dem wirklich eine gewisse Notwendigkeit innewohnt, weil er Leben retten kann.
Es kann zur Verzweiflung führen, wenn ein Autor versucht, über seine Depression zu schreiben. Beim Autor, versteht sich. Um sich verständlich zu machen, muss er zur Metapher greifen, dem schwächsten aller Stilmittel. Metaphern zur Depressionsbeschreibung fallen von Natur aus über die eigenen Füße, hinken oder stehen im Text wie Falschgeld. Die Depression, so heißt es in vielen einschlägigen Texten, schiebt sich wie ein Milchglas zwischen dich und die Welt. Leider verschwindet nicht nur die Welt hinter einer Wand, sondern auf eine komplizierte Weise auch die eigene Person. Depression bedeutet immer den Abschied vom Selbstverständlichen. Depressive verlieren als Erstes ihr Bild von sich. Nichtdepressiven kommt das unmöglich vor. Und auch demjenigen, der seine erste oder zweite Episode erlebt. Das eigene Bild gehört scheinbar organisch zu jeder Existenz, es kommt jedem, selbst demjenigen, der schon die gegenteilige Erfahrung hinter sich hat, so unverlierbar vor wie der Reisepass, den du im Flughafen schon in der Hand hältst.
»So hohl im Kopf macht mich die Traurigkeit / dass ich mit Mühe kaum mich selbst erkenne«, sagt Antonio, der schwermütige Händler in Shakespeares »Kaufmann von Venedig«. Wenn die Wand zwischen Ich und Welt als Erklärungsmodell nicht taugt, dann vielleicht der Fehler im biographischen Gewebe? Auch dieses Bild kommt in Beschreibungen regelmäßig vor, vor allem, wenn sich jemand die Frage stellt: Bekomme ich die Depression als Quittung für meine schlechte Kindheit? War ich bei der Auswahl meiner Eltern unvorsichtig? Habe ich eine falsche Abfahrt genommen? Zwar können manche Psychologen problemlos jede Depression auf die Kindheit zurückführen, notfalls mit viel Überzeugungskraft. Da aber umgekehrt nicht jeder Liebesmangel in der Kindheit zur Depression führt, taugt auch dieses Modell wenig bis nichts. Dazu kommt, dass die Depression sich über das Leben eines Depressiven auszubreiten pflegt wie eine systemische Vergiftung. Das heißt: Ab einem bestimmten Punkt bildet sie nicht mehr den Fehler im Gesunden. Sie etabliert sich als Normalität.
Leere, schwarzes Loch, Teilzeittod – kein Begriff und kein Vergleich trifft wirklich die Gestalt der Depression. Es braucht dafür schon ein Modell, am besten eines, das so schön und erschütternd ist wie das Bild in Andrew Solomons »The Noonday Demon. An Atlas of Depression«, auf Deutsch erschienen unter dem Titel »Der Schatten des Saturn. Die dunklen Welten der Depression«. Darin erzählt Andrew Solomon von einer Eiche, die ihm auf seinem Spaziergang dicht belaubt und kraftvoll erscheint. Erst aus der Nähe sieht er, dass eine wilde Weinranke sie bis zur Krone überwuchert: »Es war schwer zu sagen, wo der Baum endete und wo der Wein begann.« Was er von weitem für das saftige Grün der Eiche hielt, war in Wirklichkeit ein zweites Wesen, eng verbunden mit dem Baum, der langsam unter seinem Okkupanten erstickte. Das entspricht genau der Dialektik einer tiefgehenden Depression. Sie gehört zu ihrem Träger, dem depressiven Menschen, sie schmiegt sich ihm an, umklammert ihn und verdrängt ihn durch ihr organisches Wachstum Stück für Stück aus dem Leben. Aus diesem Grund fällt es Nichtdepressiven so schwer, sich die Wirkung dieser Krankheit vorzustellen. Natürlich kann auch ein Diabetiker oder Allergiker zu dem Schluss kommen, dass ihn sein eigener Körper angreift. Aber diese Probleme lassen sich lokalisieren, von der Person trennen. Medikamente unterdrücken die Symptome meist effizient. Ein Diabetiker wacht nicht nachts um vier auf, ohne wieder einschlafen zu können. Er weint nicht grundlos. Ihm kommen Freunde nicht plötzlich wie unangenehme fremde Leute vor. Er fühlt sich nicht so, als würde er in einem engen Schacht stecken.
Meine erste depressive Phase erlebte ich 1999. Wie die meisten Depressiven vermied ich den Begriff Depression, ging nicht zum Arzt, nahm keine Medikamente, sondern wartete einfach ab. Es handelte sich um eine leichte Episode. Ich kam mit dieser Methode zurecht. Danach folgten zwei mittlere Episoden mit ärztlicher Behandlung und Medikamenten. Leider den falschen. Anfang 2014 kehrte die Depression auf eine Weise zurück, dass ich froh darüber war, einen Platz in einer psychiatrischen Klinik zu bekommen. Auf meine Medikamente freute ich mich. Jedenfalls erlebte ich ein dem Zustand angemessenes Freudesurrogat. Die Zwanzig-Milligramm-Pillen halfen tatsächlich. Sie helfen mir noch immer.
Auch wenn es paradox klingt, neben der Pharmazie führt in einer Klinik auch das vorübergehende Leben unter anderen Depressiven zu neuen Erkenntnissen. Wenn sich ein mittelschwerer Neuzugang die Geschichte eines chronisch Kranken mit Dutzenden Psychiatrieaufenthalten oder die einer Patientin mit dreißig Zentimeter langer Narbe am Unterarm erzählen lässt, dann erscheint ihm sein eigener Fall schlagartig leichter. Und selbst wer ähnliche Erfahrungen hinter sich hat, der interessiert sich für Techniken des Durch- und Davonkommens. Ohne die Hoffnung, irgendwie durchzukommen, lässt sich ein Buch über psychische Krankheiten weder schreiben noch lesen.
Merkwürdigerweise dauerte es sehr lange, bis sich die Vorstellung der Depression als Störung der Hirnchemie in der Gesellschaft durchsetzte, merkwürdig deshalb, weil der deutsche Nervenarzt Wilhelm Griesinger schon 1845 eine rationale Beschreibung der Krankheit veröffentlichte. Aber auch ohne das Studium psychiatrischer Schriften erkannten erstaunlich viele Betroffene, dass es sich bei dieser Krankheit um etwas anderes und zugleich Eigenes handeln muss. Der dänische Philosoph Søren Kierkegaard nannte seine Depression die treueste Freundin, die ich habe, Winston Churchill, in seiner manisch-depressiven Konstitution, schrieb von dem schwarzen Hund, der ihm regelmäßig zulief, um ihm dann wieder im Abstand hinterherzutrotten; der Autor Simon Borowiak, um eine Stimme aus der ganz und gar aufgeklärten Gegenwart zu nennen, spricht von seiner Lebensbegleitung als garstige Vettel. Schon wenn das Bedrohliche einen Namen bekommt, büßt es Macht ein. Ein imaginiertes Schattenwesen – Freundin, Hund, Vettel – besitzt gegenüber Solomons erstickender Ranke als Metapher sogar den Vorteil, einen Wechsel von Zuständen zwischen akuter Umklammerung und vorläufiger Lockerung zu beschreiben.
Das Miststück lässt sich nicht abschütteln. Aber erziehen. Es lässt sich durchschauen, beeindrucken, austricksen. Nie bis zu seiner Wirkungslosigkeit, aber eben auch nicht ohne Teilerfolg. Wie bei jeder Erziehung geht es erstens um Dominanz. Selbst jemand, der gerade seine Tasche in einer psychiatrischen Klinik auspackt, trägt immer noch die Krone eines autonomen Menschen. Er besitzt auch in der schlimmsten Störung immer noch Verstand und Willen und sollte sich das notfalls als Mantra aufsagen: Verstand und Willen, und sich die Krone der Autonomie bildlich vorstellen, mit Strass und blendender Aura. Zweitens gehören rote Linien zum Konzept jeder Erziehung. Ein Depressiver kann mit einiger Mühe so etwas wie einen Panikraum einrichten, in der er seine wichtigsten Erinnerungen, seine Vorstellungen von sich selbst und seine Beziehungen zu den wichtigsten Menschen verstaut, und er kann der Depression befehlen, diesen Raum niemals zu betreten. Notfalls muss er diese Schätze mit dem Flammenwerfer verteidigen.
Wie behält man am besten die Kontrolle gegenüber einem notorisch herrschsüchtigen Gegner? Durch Distanz....
Erscheint lt. Verlag | 10.3.2016 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Alexander Wendt • Antidepressiva • Autobiographie • Behandlung • Betroffener • Depression • Erfahrungsbericht • Humor • Krankheit • Miststück • Psychiatrie • Psychologie • Sachbuch • Therapie • Volkskrankheit |
ISBN-10 | 3-10-403678-0 / 3104036780 |
ISBN-13 | 978-3-10-403678-6 / 9783104036786 |
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