'Keine neue Gestapo' (eBook)
464 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-04181-3 (ISBN)
Constantin Goschler, geboren 1960, ist Professor für Zeitgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum und hat unter anderem zahlreiche Bücher zur Geschichte der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte veröffentlicht. Zurzeit beschäftigt er sich neben der Geschichte von Sicherheitspolitik und Geheimdiensten in der Bundesrepublik auch mit der Kulturgeschichte von Vererbung und Umwelt.
Constantin Goschler, geboren 1960, ist Professor für Zeitgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum und hat unter anderem zahlreiche Bücher zur Geschichte der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte veröffentlicht. Zurzeit beschäftigt er sich neben der Geschichte von Sicherheitspolitik und Geheimdiensten in der Bundesrepublik auch mit der Kulturgeschichte von Vererbung und Umwelt. Michael Wala, geboren 1954, ist Professor für Nordamerikanische Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum. Er erforscht zurzeit die Geschichte der Spionageabwehr des Bundesamts für Verfassungsschutz von den Anfängen bis 1990 und hat 2015 zusammen mit Constantin Goschler «‹Keine neue Gestapo›. Das Bundesamt für Verfassungsschutz und die NS-Vergangenheit» veröffentlicht.
Einleitung
Es war eine disparate Gruppe, die der Gründungspräsident des Bundesamts für Verfassungsschutz Otto John Anfang 1953 auf die vor ihr liegende Aufgabe einschwor. Jeder Einzelne, so John in seinem ersten «Betriebsappell» an die knapp einhundert Mitarbeiter – darunter sowohl ehemalige NSDAP-Mitglieder wie frühere Widerstandskämpfer – trage die Verantwortung dafür, «dass unser Volk vor einer nochmaligen Vergewaltigung durch ein Gewalt- und Terrorregime bewahrt bleibt. Jeder von Ihnen kann sich selbst ausmalen, was unser Schicksal sein würde, wenn die Kräfte sich durchsetzen und zur Macht kommen würden, deren Pläne und Umtriebe wir erforschen müssen, damit sie wirksam bekämpft werden können. Die Ersten, die gehängt werden oder ins KZ wandern würden, wären wir!» Mahnend fügte er hinzu: «Ein Fehler, eine Unaufmerksamkeit heute kann entscheidend für die Zukunft werden!»[1] Kaum eineinhalb Jahre später machte John selbst einen entscheidenden «Fehler»: Er ging in die DDR und riskierte mit diesem Schritt, dass das von ihm aufgebaute Amt abgewickelt wurde. Nach seiner Rückkehr in die Bundesrepublik im Dezember 1955 wurde John der Prozess gemacht, der Bundesgerichtshof verurteilte ihn wegen Landesverrats zu vier Jahren Zuchthaus. Das Bundesamt aber hat die teilweise chaotischen Anfangsjahre überstanden, nur in den Schlagzeilen blieb der Verfassungsschutz auch danach fast permanent präsent.
Als wir im November 2011 damit begannen, die Frühgeschichte des Bundesamts für Verfassungsschutz zu erforschen, schlug die öffentliche Erregung über «ehemalige Nazis» in deutschen Ministerien und Behörden seit einigen Monaten wieder einmal hohe Wellen. Die damalige hitzige Debatte hatte sich an den Thesen der Studie Das Amt und die Vergangenheit entzündet, deren Autoren den deutschen Diplomaten der NS-Zeit eine wesentliche Mitverantwortung an der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden zuwiesen.[2] Bald darauf befeuerten die Enthüllungen über die Terrorgruppe NSU und seit Juni 2013 den amerikanischen Geheimdienst NSA das Interesse an der Vergangenheit des Bundesamts: Mehr als zehn Jahre lang hatten die Rechtsextremisten vom «Nationalsozialistischen Untergrund» vorwiegend türkische Geschäftsleute erschossen, ohne dass Polizei oder Verfassungsschutz das ausländerfeindliche Motiv dieser Mordserie erkannt hatten; die Enthüllungen des Whistleblowers Edward Snowden über die Ausspähungen der National Security Agency wiederum warfen die grundsätzliche Frage auf, welche Informationen westliche Geheimdienste eigentlich sammeln, wer sie dabei kontrolliert und wozu sie diese Daten schließlich nutzen. Im Fall des Bundesamts für Verfassungsschutz wollten viele vor allem wissen, wie stark diese Behörde in ihren früheren Jahren durch einstige Gestapo- oder SS-Offiziere geprägt worden war – und ob sich das offenkundige Versagen gegenüber dem NSU darauf zurückführen ließ. Weiten Teilen der Öffentlichkeit galt als ausgemacht, dass das Bundesamt aufgrund solcher Prägungen seit jeher auf dem «rechten Auge» blind sei und sich seine Mitarbeiter daher in erster Linie damit beschäftigten, kritische Stimmen von links zu bespitzeln. Bislang ließen sich solche Annahmen mangels Quellenzugang allerdings weder bestätigen noch widerlegen.[3]
Historiker sollten sich nicht blindlings in tagesaktuelle Debatten stürzen und vorschnelle Bewertungen abgeben. Gleichwohl bildet das Bedürfnis der Öffentlichkeit nach Orientierung einen legitimen Ausgangspunkt, um die eigenen Erkenntnisinteressen zu klären, die im besten Sinne der historischen Aufklärung dienen sollten. Das Interesse an der Geschichte des Bundesamts für Verfassungsschutz speist sich zum einen aus der grundsätzlichen Spannung zwischen dem Transparenzanspruch von Demokratien und der Praxis von Nachrichtendiensten, die in allen Ländern von einer Kultur des Geheimnisses geprägt ist. Aus dieser Spannung erwächst ein permanentes Misstrauen, das durch periodisch wiederkehrende Skandale geschürt wird und sich regelmäßig in öffentlicher Empörung Bahn bricht. Zum anderen spielt im konkreten Fall des Bundesamts das spezifische Problem der frühen Bundesrepublik eine wichtige Rolle, welche Positionen man früheren Nationalsozialisten in der Nachkriegsgesellschaft zubilligen wollte; beim Aufbau einer Organisation, die ausdrücklich die Verfassung eines neuen demokratischen Staates schützen sollte, gewann diese Frage eine besondere Brisanz.
Schon den Zeitgenossen der 1950er Jahre war bekannt, dass sich unter den Verfassungsschützern der ersten Stunde eine Reihe früherer Gestapo-Angehöriger befanden, ungeklärt blieb hingegen bis heute, wie viele dieser Personen für das Bundesamt arbeiteten und wie sich ihre Beschäftigung auf das Amt selbst auswirkte. Die Frage nach den Ursachen, dem Ausmaß und den Folgen solcher personellen Kontinuitäten stand somit am Anfang unserer Untersuchung. Die Darstellung konzentriert sich dabei auf die Zeit von der Gründung des Bundesamts im Jahr 1950 bis zum 1975 vollzogenen Wechsel an der Spitze, wobei der Endpunkt vor allem dem vorgegebenen «biographischen Sicherheitsabstand» Rechnung trägt. In diesem Vierteljahrhundert wuchs die Kölner Behörde auf rund zweieinhalbtausend Mitarbeiter an und erweiterte ständig ihre Aufgaben. Damit reagierte die Bundesregierung auf eine wahrgenommene Zunahme der Gefahren, umgekehrt führte dies allerdings auch dazu, dass der Verfassungsschutz selbst vielen Beobachtern immer mächtiger und somit gefährlicher erschien. Das vorliegende Buch greift die in den öffentlichen Debatten formulierten Probleme auf und stellt seine Fragen vor dem Hintergrund eines grundsätzlichen gesellschaftlichen Interesses an der Rolle von Geheimdiensten in Demokratien. Zugleich widmet es sich der Frage, wie die Zeitgenossen die Probleme des Verfassungsschutzes wahrnahmen; diese Wahrnehmungen sind inzwischen längst zu einem historischen Untersuchungsgegenstand geworden, und das gilt insbesondere für die Skandale des Bundesamts. Vier zentrale Untersuchungsperspektiven bestimmen somit diese Darstellung:
Erstens verdeutlicht dieses Buch den zeithistorischen Ort des Bundesamts und rückt es dazu in den Kontext der Entwicklung der nationalen und transatlantischen Sicherheitsarchitektur im Kalten Krieg. Nicht nur die Zusammenarbeit mit den Landesämtern für Verfassungsschutz erwies sich von Anfang an als problematisch (und wie zuletzt das Versagen angesichts der Terrorserie des NSU verdeutlichte, konnten diese Schwierigkeiten bis in die jüngste Vergangenheit hinein nicht beseitigt werden), auch die Kooperation des Bundesamts mit dem Bundesnachrichtendienst, dem Bundeskriminalamt und später dem Militärischen Abschirmdienst litt häufig unter unklaren Abgrenzungen und nicht zuletzt an der Konkurrenz der Dienste untereinander. Die Zusammenarbeit mit den Nachrichtendiensten der westlichen Bündnispartner wiederum wurde unter den Bedingungen der alliierten Besatzungsherrschaft begründet, und wenngleich sich inzwischen zwar ein zunehmend partnerschaftlicheres Verhältnis entwickelt hat, haben die beiden Seiten niemals auf Augenhöhe agiert; das gilt bis zum heutigen Tag. Wie also entwickelte sich die Rolle des Bundesamts in diesem Kontext zwischen 1950 und 1975? Und wie wirkte sich die nationale und transatlantische Sicherheitsarchitektur auf seine Struktur, seine Personalpolitik und seine Tätigkeit aus?
Die Historisierung der öffentlichen Auseinandersetzung um das Bundesamt betrifft zweitens die Frage nach der Rolle von Mitarbeitern des Bundesamts, die bis 1945 Angehörige von Gestapo oder SS gewesen waren. In diesem Buch geht es uns allerdings nicht in erster Linie darum, die Identität «alter Nazis» im Bundesamt zu enthüllen. Zwar haben wir Personal und Personalpolitik des Bundesamts systematisch untersucht, allerdings soll in diesem Zusammenhang auch danach gefragt werden, wie sich die zeitgenössischen Kriterien dafür, was als «NS-Belastung» galt, veränderten und welche konkreten Konflikte um Mitarbeiter des Bundesamts daraus resultierten.[4] Bezeichnenderweise entzündeten sich Skandale wegen der Beschäftigung solcher Personen nur selten daran, dass neue Tatsachen über ihre Vergangenheit enthüllt wurden. Daher rührte auch das in vergangenheitspolitischen Auseinandersetzungen immer wieder auftretende Phänomen, dass die jeweils Betroffenen gar nicht so recht begreifen mochten, wie ihnen geschah: Sie selbst meinten, das Kapitel ihrer NS-Vergangenheit sei mit dem Ende der Entnazifizierung Anfang der 1950er Jahre geschlossen worden.
Drittens schildert dieses Buch, wie die Mitarbeiter des Bundesamts auf ihre politische Umwelt blickten und welche Gefahren sie dort lauern sahen. Hierbei muss zunächst geklärt werden, wen oder was sie eigentlich schützen sollten und wollten – nicht wenige scheinen den Begriff «Verfassungsschutz» jedenfalls eher als Tribut an den Zeitgeist denn als Beschreibung ihrer Kernaufgabe verstanden zu haben. Wie veränderten sich die im Bundesamt herrschenden Vorstellungen über die dominierenden politischen Gefahren? Wie reagierten seine Mitarbeiter auf die dramatischen Veränderungen der politischen Landschaft, von der Hochzeit des Kalten Krieges über die Zeit der Entspannungspolitik bis zur Ära des internationalen Terrorismus? Und inwieweit wurden ihre Gefahreneinschätzungen durch die vielzitierten vermeintlichen «braunen Wurzeln» des Verfassungsschutzes beeinflusst?
Viertens befasst sich...
Erscheint lt. Verlag | 25.9.2015 |
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Zusatzinfo | Zahlr. s/w. Abb. |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Zeitgeschichte ab 1945 |
Geisteswissenschaften ► Geschichte | |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | APO • Bundesamt für Verfassungsschutz • Hans Jess • Hubert Schrübbers • Innere Sicherheit • Kalter Krieg • NS-Vergangenheit • Otto John • Studentenbewegung |
ISBN-10 | 3-644-04181-4 / 3644041814 |
ISBN-13 | 978-3-644-04181-3 / 9783644041813 |
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Größe: 2,2 MB
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