Zwischen Disziplinierung und Gegenwehr

Wie Prekarisierung sich auf Beschäftigte im Großhandel auswirkt

(Autor)

Buch | Softcover
511 Seiten
2015
Campus (Verlag)
978-3-593-50274-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Zwischen Disziplinierung und Gegenwehr - Thomas Goes
45,00 inkl. MwSt
In Wissenschaft und Politik dominiert die These, dass Prekarisierung die Solidaritäts-und Mobilisierungsfähigkeit für gewerkschaftliches Interessenhandeln hemmt. Dabei werden die individuellen Ungerechtigkeitswahrnehmungen der Betroffenen meist außer Acht gelassen. Auf der Basis von Interviews und Gruppendiskussionen rekonstruiert Thomas Goes Deutungsmuster, mit deren Hilfe Leiharbeiter und prekarisierte Normalbeschäftigte im Großhandel ihre Situation verarbeiten. Seine Forschungsergebnisse fördern die Potenziale solidarischer Interessenpolitik zutage.

Thomas Goes ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Industrie-, Arbeits- und Wirtschaftssoziologie der Universität Jena.

Inhalt

Dank 11
1. Einleitung 13
1.1 Fragestellung, Suchthese und Kontext 15
1.2 Prekarisierung im Großhandel - Forschungsdesign 21
1.3 Reflexive Sozialwissenschaft 25
1.4 Aufbau und Argumentationsgang der Studie 27

A. Analytische und methodische Grundlagen

2. Prekarisierung und solidarisches Interessenhandeln 33
2.1 Kollektives Interessenhandeln und Solidarität 35
2.1.1 Interessen, Situationsdeutungen und kollektive Mobilisierung 37
2.1.2 Exkurs: Handlungsbedingungen, Arbeitsmarktkonkurrenz und soziale Ausdifferenzierung 40
2.1.3 Kognitive Mobilisierungspotenziale - Collective Action Frames 43
2.1.4 Inklusive und exklusive Solidarität als Bedingung kollektiven Handelns 53
2.2 Prekarisierung als Hindernis für kollektives Interessenhandeln? 56
2.2.1 Was ist prekäre Beschäftigung 58
2.2.2 Prekarisierung und geschichtlicher Erfahrungshintergrund 62
2.2.3 Prekarisierung als Herrschaftsregime 69
2.2.4 Zonen der Arbeitsgesellschaft 74
2.2.5 Zerstört Prekarisierung die subjektiven Bedingungen für kollektives Interessenhandeln? 76
2.2.6 Begründung eines Perspektivenwechsels 86

3. Analytischer Zugang - Differenzierung der leitenden Fragen
und der Suchthese 95
3.1 Moralische Ökonomie und Ungerechtigkeit 97
3.2 Das Alltagsbewusstsein: (De-)Mobilisierend und ungleich entwickelt 106
3.2.1 Hegemonie 107
3.2.2 Alltagsbewusstsein 110
3.3 Was ist ein Deutungsmuster? 114
3.3.1 Zentrale Bestandteile eines Deutungsmusters 116
3.3.2 Problem: Soziale Wissensformationen, Deutungsmuster und Tiefenstrukturen 118
3.3.3 Interpretationsrahmen, Deutungsmuster und subjektive Verarbeitungsstrukturen 121
3.3.4 Empirisch zu rekonstruierende Deutungsmusterdimensionen 125
3.4 Reformulierung der leitenden Fragestellung und der Suchthese 127

4. Methoden 132
4.1 Heuristischer Rahmen, Interviews und Diskussionen 134
4.1.1 Problemzentrierte Interviews, Leitfaden und Interviewführung 136
4.1.2 Ablauf der Einzelinterviews 139
4.1.3 Gruppendiskussion, Diskussionsanreiz und Durchführung der Diskussionen 143
4.2 Die Auswertung: Deutungsmusterrekonstruktion durch systematischen Vergleich 146
4.3 Stellenwert und Auswertung der Gruppendiskussionen 151
4.4 Darstellung und Strukturierung der empirischen Ergebnisse 153

5. Sample - Beschreibung der Betriebe, Interviews und Gruppendiskussionen 156
5.1 Einzelinterviews und Gruppendiskussionen 156
5.2 Fallbeschreibungen: Die Betriebe 159
5.2.1 Der Betrieb Traumwelt 159
5.2.2 Der Betrieb Bilbo 165
5.2.3 Fazit: Belegschaften unter Druck 170

B. Empirische Deutungsmusteranalyse

6. Rekonstruierte Deutungsmuster: Ein Überblick 175

7. Staatsorientierter Sozialpopulismus 179
7.1 Typisch Staatsorientierter Sozialpopulismus 179
7.2 Fallbeispiel Jürgen 182
7.2.1 Kognitive Deutungsmusterdimension: Problemdeutungen, Ursachen, Grenzziehungen 182
7.2.2 Prognostizierende Deutungsmusterdimension:
Veränderung, Akteure und Wege des Wandels 194
7.3 Geteilte typische Deutungsmusterelemente in Interviews und Diskussionen 201
7.3.1 Druck, Kritik der reinen Instrumentalität und Wunsch nach Anerkennung 201
7.3.2 Betroffenheit, umfassende Problembezüge und verschwindende Mitte 213
7.3.3 Der Chef, das Gewinnstreben und die Politik 223
7.3.4 Zwischen ›Man müsste sich gemeinsam wehren‹ und alltagsbezogenem Pessimismus 230
7.4 Zusammenfassung 239

8. Exklusiver Sozialpopulismus 241
8.1 Typisch Exklusiver Sozialpopulismus 241
8.2 Fallbeispiel Friedrich 244
8.2.1 Kognitive Deutungsmusterdimension: Problemdeutungen, Ursachen, Grenzziehungen 244
8.2.2 Prognostizierende Deutungsmusterdimension: Veränderung, Akteure und Wege des Wandels 263
8.3 Geteilte typische Deutungsmusterelemente in Interviews und Diskussionen 267
8.3.1 Fehlender Respekt und mangelnde Gegenseitigkeit 267
8.3.2 Festbeschäftigung unter Druck - Zwischen Allgemeinwohl und Angst vor Verdrängung 272
8.3.3 Vom Verschwinden der Mitte, der Sorge um die Zukunft und dem Allgemeinwohl 277
8.3.4 Exklusive Grenzziehung - Zwischen ›kleinem Arbeiter‹ und ›Narrenfreiheit der Anderen‹ 285
8.3.5 Exkurs: Anknüpfungspunkte für autoritären Populismus 302
8.4 Zusammenfassung 308

9. Hauptsache Arbeit - Entschärfende Deutungen und pragmatische Arrangements 311
9.1 Typisch Hauptsache Arbeit 311
9.2 Fallbeispiel Gunta 316
9.2.1 Kognitive Deutungsmusterdimension: Problemdeutungen, Ursachen, Grenzziehungen 317
9.2.2 Prognostizierende Deutungsmusterdimension: Veränderung, Akteure und Wege des Wandels 333
9.3 Geteilte typische Deutungsmusterelemente in Interviews und Diskussionen 335
9.3.1 Unzufriedenheiten - aber Hauptsache überhaupt Arbeit 335
9.3.2 Entschärfende und stabilisierende Deutungen 343
9.3.3 Ursache : Elitenhandeln und ausbleibende Empörung 356
9.3.4 Ohnmacht, Leistungsperspektive und pragmatische Arrangement 360
9.4 Zusammenfassung 367

10. Arrangierte Unzufriedenheit und eingeforderte Unterwerfung 369
10.1 Ingrid 370
10.1.1 Kognitive Deutungsmusterdimension: Problemdeutungen, Ursachen, Grenzziehungen 370
10.1.2 Prognostizierende Deutungsmusterdimension: Veränderung, Akteure und Wege des Wandels 393
10.2 Anne 397
10.2.1 Kognitive Deutungsmusterdimension: Problemdeutungen,Ursachen, Grenzziehungen 397
10.2.2 Prognostizierende Deutungsmusterdimension: Veränderung, Akteure und Wege des Wandels 412
10.3 Typisch Arrangierte Unzufriedenheit 414
10.3.1 Deutungsmusterelemente in Interviews und Gruppendiskussion 415
10.3.2 Zusammenfassung 426

11. Prekarisierte Beschäftigte: ›Mobilisierbare Solidargemeinschaft im Werden‹? 429
11.1 Die zentralen Befunde der Deutungsmusteranalyse 430
11.1.1 Kollektivbewusstsein und ungleiche Mobilisierungs- und Solidaritätspotenziale 431
11.1.2 Anerkennung, Ungerechtigkeit und Unzufriedenheit 441
11.1.3 ›Entschärfende und stabilisierende Deutungen‹ 450
11.1.4 Verantwortung der Eliten und Stigmatisierungen anderer Lohnabhängiger 453
11.1.5 Individualisierungen und fragmentierte Solidargemeinschaften 456
11.1.6 Dynamiken betriebs- und gesellschaftsbezogener Legitimationsprobleme 461
11.1.7 Brücken zum Linkspopulismus 468
11.2 Fazit 475

Literatur 488

Dank Wissenschaftliches Arbeiten ist ein Gemeinschaftsprojekt - auch dann, wenn es manchmal einsam wird am Schreibtisch: Gespräche, Anregungen, Bezüge, Korrekturen, Aufmunterungen und Kritiken, vielfältige Formen der Unterstützung. So wäre auch diese Arbeit ohne eine Vielzahl von Menschen und Institutionen nicht entstanden. Danken möchte ich an erster Stelle Frauke Banse, die mich immer wieder bestärkt hat, auf der richtigen Spur zu sein und sich trotz eigener Promotion Zeit genommen hat, inhaltliche und konzeptionelle Fragen zu diskutieren, wieder und wieder - ein Kraftakt. Donna McGuire hat in zahl-reichen Spaziergängen im Auepark das Leben mit mir diskutiert - und mich so die Anstrengungen der Dissertation zumindest kurzzeitig verges-sen lassen. Philipp Kufferath las nicht nur große Teile meiner Arbeit und gab mir wertvolle Hinweise, sondern wusste mein Vertrauen in meine intellektuellen Fähigkeiten auch immer wieder zu stärken - in den Tief-phasen einer Promotion ist das ein kaum zu überschätzender Freund-schaftsakt. Dass meine Forschung auch für Menschen von Relevanz sein mag, die sich für eine solidarische und demokratische Gesellschaft einsetzen, haben mir Michael Heldt, Violetta Bock und - erneut - Frauke Banse in vielen Gesprächen verdeutlicht. Nestor D'Alessio war für mich in den Jahren der Promotion oft ein Vorbild für Belesenheit, offenes Denken und Lust auf politisches Eingreifen zugleich. Ohne Imke Voigtländer, die das zu lang geratene Manuskript ausgesprochen gründlich formal Korrektur gelesen hat, wären die letzten Monate der Promotion zur Qual geworden - eine Rettung. Zu Dank verpflichtet bin ich auch den GewerkschaftssekretärInnen, Betriebsräten und Beschäftigten, die sich für Interviews und Gruppen-diskussionen zur Verfügung gestellt haben. Mein Blick mag sie zu Beforschten gemacht haben, er ist aber einer kritischen Wissenschaft und Public Sociology verpflichtet, die zur Selbstaufklärung der Subalternen, zur Vergrößerung ihrer solidarischen Handlungsfähigkeit und so vermittelt zu ihrer Emanzipation beitragen möchte. Besonderer Dank gilt natürlich der Hans Böckler Stiftung, die diese Studie überhaupt erst durch ein Stipendium (und einen Druckkosten-zuschuss) möglich gemacht hat. Sehr wichtige Anregungen und Kor-rekturen verdanke ich meinen Betreuern Prof. Dr. Klaus Dörre und Prof. Dr. Stephan Lessenich. Mein Dank gilt auch dem Doktorandenseminar am Lehrstuhl für Arbeits- und Industrie- und Wirtschaftssoziologie der Uni-versität Jena. Die Schwächen meiner Untersuchung habe natürlich nur ich zu verantworten. Widmen möchte ich dieses Buch meiner Mutter, der ich viel verdanke, und meinem Sohn Enno, der die Bedeutung meiner Arbeit immer wieder kreativ-lebendig relativiert hat und auf mich leider öfter verzichten musste als mir lieb war. Berlin, im Juni 2015 Thomas E. Goes 1.Einleitung "Der Gedanke an Glück, an Lust, an Unabhängigkeit - mit dem Imago langhaariger Jugend, die sich dem Druck der Leistungszwänge nicht beugt und noch Konsumhaltungen negiert, neuerdings assoziativ verknüpft - wird dem unerträglich, der sich insgeheim als den immer ums Glück Betrogenen weiß. […]. Kleine Leute erfahren sich als austauschbar, jederzeit ersetzbar: ›Auf den Einzelnen kommt es nicht an.‹ Dies ist der qualitative Gehalt der Disponibilität, die der Kapitalverwertungsprozess ihnen abfordert." (P. Brückner) "Die Widersprüche sind unsere Hoffnung." (B. Brecht) 1998 wurde im Universitätsverlag Konstanz ein dünnes Bändchen veröf-fentlicht, das neoliberalismuskritische Wortmeldungen des französischen Soziologen Pierre Bourdieu versammelt. In der darin enthaltenen Rede "Prekarität ist überall" stellt Bourdieu eine herrschafts- und konfliktsozio-logische Diagnose, die innerhalb der sich in den Folgejahren entwickelnden deutschen Prekarisierungsdebatte weithin Widerhall finden sollte: Mit der Ausweitung unsicherer und ungeschützter Arbeitsver-hältnisse entsteht eine Prekarität, die für die Betroffenen zu zukunfts- und erwerbsbiogra-fischer Planungsunsicherheit führt (Bourdieu 1998b: 97). Die Menschen werden permanent verunsichert, eine "kollektive Mentalität der Angst" ist die Folge. Auch Lohnabhängige, die nicht prekär arbeiten und leben, sind indirekt von Prekarisierung betroffen. Massenerwerbslosigkeit und prekäre Arbeitsverhältnisse führen ihnen vor Augen, dass sie ersetzbar sind. Pre-karität strahlt so verunsichernd aus (ebd.: 97-98). Deklassierungsängste verbreiten sich. Auch die Werte der Solidarität zwischen den abhängig Be-schäftigten werden durch diesen breiten Prekarisierungsstrom in Mitleiden-schaft gezogen (ebd.: 99), die Konkurrenz zwischen den Lohnabhängigen verschärft sich. Prekarität ist daher als Teil einer neuartigen Herrschafts-form zu begreifen (ebd.: 100), die die abhängig Beschäftigten angesichts ihrer Angst vor der sozialen Deklassierung den nun noch mächtigeren Be-schäftigern ausliefert. Mit Blick auf die Lohnabhängigen diagnostiziert Bourdieu gar, dass sie eine Disposition zur Unterwerfung entwickeln, die sie dazu veranlasst, ihre Ausbeutung hinzunehmen (ebd.: 100-101). Kol-lektive Gegenwehr, so die pessimistische Schlussfolgerung, wird innerhalb dieses Herrschaftsregimes unwahrscheinlich (ebd.: 98-99). Düstere Aus-sichten also für solidarisches Interessenhandeln prekärer und prekarisierter Beschäftigter - einerseits. Im gleichen Sammelband findet sich allerdings ebenfalls der kurze Text "Der Mythos der Globalisierung und der europäische Sozialstaat" (Bourdieu 1998a), in dem Bourdieu sich beiläufig mit der Frage beschäftigt, aus welchen Quellen der soziale und politische Widerstand gegen die neoliberale Reformierung der Gesellschaft, deren zentrales Moment Pre-karisierung und Prekarität sind, schöpfen kann. Zentral sind für Bourdieu in diesem Kontext die - in diesem Text staatlich vermittelten - tradierten (Rechts-)Ansprüche, mit denen Menschen neoliberalen Reformen begeg-nen und sie beurteilen. Am größten ist der Widerstand der Menschen ge-gen den Neoliberalismus seiner Ansicht nach in Gesellschaften, die über eine ausgeprägte staatliche Tradition verfügen (ebd.: 42). Denn dieser Staat sei nicht lediglich ein (repressiv wirkendes) Institutionengefüge, er existiere zudem "[…] in den Köpfen der Arbeiter in Gestalt subjektiver Rechts-ansprüche (›das ist mein gutes Recht‹, ›das kann man mit mir nicht machen‹), als Verbundenheit mit ›sozialen Errungenschaften‹" (ebd.: 43). Bourdieu thematisiert hier en passant sozialmoralische Gerechtigkeits- und Sittlichkeitsempfindungen (mein gutes Recht, das kann man mit mir nicht machen), die in der Vergangenheit entstanden sind und in der Ge-genwart fortwirken. Wenngleich Bourdieu diese Gerechtigkeitsvorstellun-gen und Ansprüche lediglich mit sozialen Errungenschaften in Verbindung bringt, die in der Vergangenheit durch staatliche Politik organisiert wurden, besteht theoretisch kein Anlass für diese Beschränkung. Auch durch die Betriebs- und Tarifpolitik im Rahmen der industriellen Beziehungen beispielsweise entstanden soziale Errungenschaften (z.B. Urlaubsansprüche oder Lohnhöhen), die sich auf die Gerechtigkeits- und Normalitätserwar-tungen, die als sozialmoralische Referenzpunkte dienen, auswirkten. Gera-de in diesen sozialmoralischen Dispositionen, die in einer ersten Annähe-rung als ein Repertoire von sozialen Verhaltensregeln und Ordnungs-bildern und die auf grundlegenden Gerechtigkeitsvorstellungen basieren (Vester 2006: 251), sieht Bourdieu Quellen der kollektiven Gegenwehr - andererseits. 1.1Fragestellung, Suchthese und Kontext Zwei Diagnosen stehen zunächst unvermittelt nebeneinander: Führt Prekarisierung zunächst zu Entsolidarisierung und einer Disposition zur Unterwerfung, die Lohnabhängige sich in flexibilisierte Ausbeutungsver-hältnisse fügen lässt, werden sodann die in der Vergangenheit entstande-nen sozialmoralischen Ansprüche und Sittlichkeitserwartungen der Lohn-abhängigen als Quellen der kollektiven Gegenwehr ausgemacht. Denn was lebensweltlich als (un-)zumutbar gedeutet wird, so lässt sich an-knüpfend an Michael Vester folgern, ist abhängig von den normativen Grundorien-tierungen (Vester 2006: 267) und den mit diesen verbundenen Vorstellun-gen darüber, was eine sozial adäquate Lebensweise ist, und welche Bürden legitimerweise auferlegt werden können. Wer also das soziale Kon-fliktpotenzial einschätzen will, das mit der Prekarisierung der Arbeitsgesell-schaft einhergeht und aus ihr hervorgeht, muss die Legitimitätsvor-stellungen und Handlungsorientierungen der direkt und indirekt Betrof-fenen in seine Überlegungen einbeziehen (Imbusch/Heitmeyer 2012b: 326ff.). An dieser möglichen Gleichzeitigkeit von Verunsicherung/Unterwer-fung und möglicher kollektiver Gegenwehr setzt die vorliegende qualitative Studie an. Sie untersucht explorativ, ob es in den sozialen Deutungsmus-tern (Kap. 3.3) von LeiharbeiterInnen und prekarisierten Normalbeschäf-tigten (darunter auch Betriebsräte), mit deren Hilfe sie betriebliche und gesellschaftliche Prekarisierungskonstellationen (Kap. 2.2) interpretieren, geteilte ›kognitive Potenziale‹ für eine inklusiv-solidarische Mobilisierung im Rahmen gemeinsamen Interessenhandelns (Kap. 2.1) gibt. Deuten die in dieser Studie untersuchten prekären ZeitarbeiterInnen und prekari-sierten Normalbeschäftigten ihre betrieblichen und gesellschaftlichen Prekarisierungserfahrungen auf eine Art und Weise, die eine gemeinsame solidarische Mobilisierung für die eigenen Interessen ermöglicht? Oder lassen sich auch in ihren Deutungsmustern die von der Prekarisierungs-forschung häufig betonten entkollektivierenden und de-mobilisierenden Folgen von Prekarisierungsprozessen nachweisen? Gibt es kognitive Mobi-lisierungspotenziale für gemeinsames kollektives Handeln von Leiharbei-terInnen und prekarisierten Normalbeschäftigten? Zugespitzt gefragt: Führt die Prekarisierung der Arbeitsgesellschaft zu negativer Individu-alisierung, disziplinierender Verängstigung und autoritär-populistischen Verarbeitungsformen (Kap. 2.2.5) - oder entstehen in der Konfrontation zwischen Prekarisierungsprozessen und sozialmoralischen Dispositionen der Beschäftigten Potenziale für eine ›mobilisierbare Solidargemeinschaft im Werden‹? Theoretischer Ausgangspunkt für diese Fragen ist die Vermutung, dass direkte und indirekte Prekarisierungserfahrungen mit Hilfe von sozial ge-teilten und gegenüber direkten Einflüssen relativ autonomen Deutungs-mustern (Oevermann 2001a: 23) verarbeitet werden, in denen in vergang-enen Hegemoniekonstellationen (Kap. 3.2) entstandene sozialmoralische Dispositionen abgelagert sind. Hegemoniekonstellationen lassen sich, da sie auf der Berücksichtigung von Ansprüchen, Bedürfnissen und Interes-sen von subalternen Bevölkerungsteilen beruhen, als Anerkennungsord-nungen verstehen - Ordnungen, innerhalb derer und durch die entspre-chende subalterne Interessen und Bedürfnisse nicht nur als gerechtfertigt anerkannt werden, sondern auch eine Tradierung erfahren. In den sozialen Deutungsmustern kann diese Moralische Ökonomie (Edward P. Thompson) auch dann noch fortwirken, wenn die alte Anerkennungsord-nung selbst längst umgebaut wird (ausführlich Kap. 3.1 und 3.2.1). Subjekttheoretisch gehe ich insofern davon aus, dass diese Dispositionen sperrig gegenüber neuen Erfahrungen sind und in keinem direkten Abhän-gigkeitsverhältnis stehen zu veränderten sozialen Lebensbedingungen (Kap. 3.3). Sie sind relativ autonom und Teil des individuellen Alltags-bewusstseins, von dem ich in Anlehnung an Antonio Gramsci annehme, dass es zugleich ungleich entwickelt ist, mit anderen Menschen sozial geteilte Elemente enthält und keineswegs in sich harmonisch bezie-hungsweise frei von Widersprüchen, Ambivalenzen oder Paradoxien ist. Im Anschluss daran geht die hier zu Grunde gelegte Suchthese (ausführlich Kap. 4.1) von der Existenz entsprechender Mobilisierungs-potenziale aus. Sie lautet, dass aus der Konfrontation zwischen Ansprü-chen, Verhaltenserwartungen und Gerechtigkeitsvorstellungen (der Morali-schen Ökonomie), die in den sozialen Deutungsmustern der Beschäftigten abgelagert sind, mit den Herausforderungen und Zumutungen, die aus betrieblichen und gesamtgesellschaftlichen Prekarisierungskonstellationen folgen, konservativ anmutende Ungerechtigkeitsgefühle entstehen. Dieser Protestrohstoff bietet ein sowohl von prekär wie auch von ›normal‹ Be-schäftigten geteiltes kognitives Mobilisierungspotenzial gegenüber ökono-mischen und politischen Eliten (ausführlich Kap. 3.4). Um diese Suchthese zu überprüfen, wird die leitende Fragestellung weiter differenziert. Drei übergeordneten Fragen werden untersucht: Erstens: Wie deuten die befragten Beschäftigten die Prekarisierungspro-zesse, die sie wahrnehmen? Zweitens: Was bedeutet dies für die Möglich-keit, prekär und ›normal‹ Beschäftigte für solidarisches Interessenhandeln gegenüber den Unternehmern zu mobilisieren? Drittens: Werden Prekari-sierungserfahrungen in einer Art und Weise gedeutet, dass sie Spaltungen, Ausgrenzungen und Konkurrenzverhältnisse zwischen den Lohn-abhängigen verschärfen? Die Arbeit knüpft damit an zwei aktuelle Diskussionsstränge innerhalb der Industrie- und Arbeitssoziologie an. Ihr eigentlicher empirischer Gegen-stand sind die subjektiven Verarbeitungsweisen von Prekarisierung. Inso-fern handelt es sich bei der vorliegenden Studie in erster Linie um einen empirischen Beitrag zur Prekarisierungsforschung, die bisher insbesondere für die disziplinierenden sowie die konkurrenzgetrieben individuali-sierenden Folgen und die autoritär-populistischen Verarbeitungsweisen der sog. Neuen sozialen Frage sensibilisiert. Der besondere Blickwinkel der Studie ist allerdings den jüngeren Diskussionen innerhalb der sog. Gewerk-schaftlichen Revitalisierungsforschung (Brinkmann u.a. 2008; Fantasia/ Voss 2004), sowie einem dekonstruktivistischen analytischen Zugang zu kollektivem Handeln und Kollektivakteuren geschuldet (Bruell/Mokre 2009; Laclau 2005; Mouffe 2007). Während Krisendiagnosen innerhalb der Gewerkschaftsforschung Herausforderungen und die Nicht-Adäquanz gewerkschaftlicher Handlungsansätze hervorheben, machen Revitali-sierungsstudien auf vielversprechende Neuorientierungen aufmerksam (Frege/Kelly 2004b: 32-35; Rehder 2008: 440-441; Turner 2004: 3). Um gewerkschaftliche Erneuerungspotenziale zu erkunden, ist meines Erachtens zu beantworten, in welchem Maße Lohnabhängige mobilisie-rungsbereit und mobilisierungsfähig sind. Daher können qualitative Studien zum Beschäftigtenbewusstsein (Brinkmann u.a. 2008: 148) ein wertvoller indirekter Beitrag zur Revitalisierungsforschung sein, wenn-gleich von ihnen keine Handreichungen für die gewerkschaftliche Praxis zu erwarten sind. Im Hintergrund steht das Interesse daran, wie Prekarisierungsprozesse sich auf die Mobilisierbarkeit von Beschäftigten und damit auf die Transfor-mation von struktureller Lohnabhängigenmacht in tatsächliche Handlungs-macht auswirken. Unter ›struktureller Arbeitermacht‹ ist die Macht von Lohnabhängigen zu verstehen, die ihnen aufgrund ihrer Stellung innerhalb des ökonomischen Systems zukommt. Sie lässt sich ausdifferenzieren in ›Marktmacht‹ und ›Produktionsmacht‹. Die Marktmacht bezieht sich auf die Verhandlungsposition auf Arbeitsmärkten (je geringer die Konkurrenz beziehungsweise das Arbeitskräfteangebot, desto größer die Marktmacht), die Produktionsmacht auf die Fähigkeit bestimmter Lohnabhängigen-gruppen, besonders wichtige Sektoren innerhalb des Produktions- und Distributionsprozesses zu kontrollieren, zum Beispiel innerhalb des Logi-stiksektors (Silver 2005: 30-31). Handlungsmacht basiert in meinem Ver-ständnis auf der Mobilisierungsfähigkeit und Unterstützung der Beschäf-tigten selbst, auf der Fähigkeit sich zusammenzuschließen und einver-nehmlich zu handeln. Mit dem Begriff der Handlungsmacht beziehe ich mich auf Hannah Arendts Unterscheidung zwischen Macht und Gewalt: "Macht entspricht der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln. Über Macht verfügt niemals ein Einzelner; sie ist im Besitz einer Gruppe und bleibt nur solange existent, als die Gruppe zusammenhält [Hervor-hebung durch Verf.]." (Arendt 2000: 45) Mobilisierungsprozesse allerdings sind neben anderen Faktoren auch ab-hängig von den jeweiligen Deutungsweisen der Betroffenen selbst (Hyman 1972: 67-68), von den mit Hilfe qualitativer Studien zu untersuchenden sozialen Deutungsmustern also, wie sie im Alltagsbewusstsein artikuliert werden. Ob tatsächlich ein Rohstoff für Proteste beziehungsweise kollek-tive Mobilisierungen vorhanden ist, beeinflusst mit Blick auf die Situation von Lohnabhängigen nicht in erster Linie "[…] der objektive Charakter des Lohnarbeitsverhältnisses, sondern ob Beschäftigte subjektiv Konflikte, Missstände oder Problemlagen wahrnehmen oder zumindest für die Zukunft nicht ausschließen, für die - und auch das ist wichtig - ursächlich das Unternehmen beziehungsweise das Management verantwortlich gemacht wird [Hervorhebung durch Verf.]" (Dribbusch 2011: 233). Es sind demnach nicht ausschließlich die objektiven Bedingungen, sondern in gleichem Maße die subjektiven Wahrnehmungen der potenziell zu Mobilisierenden, von denen Erfolg oder Misserfolg von Mobilisierungs-versuchen abhängen: "Actors need to assign meaning to […] material conditions, to interpret them in ways to bridge different views and concerns of heterogeneous groups and to mobilize these groups." (Lévesque/Murray 2012: 3). Um einem möglichen Missverständnis vorzugreifen: Es geht bei diesem Forschungsansatz gerade nicht darum, ob die durch Prekarisierung ent-standenen neuen Spaltungen, die konkurrenzgetriebenen Individualisie-rungs- und Disziplinierungstendenzen oder die damit möglicherweise ein-hergehenden Formen sozialer Schließung aufgrund besonderer Wahrneh-mungsweisen der Betroffenen überwunden oder aufgehoben werden können; im Vordergrund steht vielmehr, welche Potenziale einer (interess-en-)politischen Vermittlung in den sozialen Deutungsmustern vorhanden sind, aus denen sich gemeinsame Mobilisierungen und Solidarität prekär und ›normal‹ arbeitender Beschäftigter entwickeln können. Damit soll die empirisch konstatierte Erosion der sozialstrukturellen Bedingungen von Solidarität (Streeck 1979: 76), die beispielsweise mit der Fragmentierung von Belegschaften durch den Einsatz von Leiharbeit oder Werkverträgen stattfindet, ausdrücklich nicht in Abrede gestellt werden. Mit dem Begriff der (interessen-) politischen Vermittlung möchte ich hingegen an eine (de-) konstruktivistische Forschungsperspektive auf Kollektivakteure anknüp-fen. Kollektivakteure werden dabei nicht als homogene Blöcke identischer Einzelner (d.h. Abwesenheit von Differenz und Widersprüchen), sondern als Ensemble von unterschiedlichen Menschen verstanden. Die Einigung zu einem Kollektivakteur ist demzufolge immer bereits ein Ergebnis poli-tischer Konstruktionen (Schulz 2007: 226). Das Gefühl der Zusammengehörigkeit bildet sich erst innerhalb politischer, sozialer und/ oder ökonomischer Auseinandersetzungen mit einem Gegner (Banse: 2003: 34), das heißt jede "[…] Identität ist relational und jede Identität erfordert zwangsläufig die Bestätigung einer Differenz, das heißt die Wahrnehmung von etwas ›anderem‹, das sein ›Außerhalb‹ konstituiert" (Mouffe 2007: 23). Eine wichtige Rolle innerhalb dieses Vermittlungsprozesses spielen An-sprüche und Forderungen, die von Einzelnen gegenüber diesem Außen formuliert werden (Bruell/Mokre 2009: 7). Die Einheit einer Gruppe be-ziehungsweise die Entstehung von Kollektivakteuren ist aus dieser Per-spektive das Ergebnis einer Artikulation dieser Forderungen (Laclau 2005: IX-X) gegenüber einem Adressaten. Für die Entstehung von Kollektiv-akteuren ist demnach nicht die bereits gegebene Identität von Interessen, Forderungen oder Bedürfnissen entscheidend, sondern vielmehr, ob sie auf eine Art vermittelt werden können, dass ein ›Wir‹ entstehen kann, das sich gegenüber einem ›Sie‹ abgrenzen lässt (Mouffe: 2007 23-24). Forder-ungen zu artikulieren bedeutet in diesem Zusammenhang, sie gegenüber einem Außen (dem Nicht-Wir) vorzutragen und dabei einen gemeinsamen Nenner zu finden. Zwischen den einzelnen nicht-identischen Ansprüchen und Forderungen müssen Äquivalenzen entwickelt werden können (Laclau/Mouffe: 2006: 167-175), das heißt zwischen ganz unterschiedli-chen Einzelelementen muss eine Gemeinsamkeit oder Zusammengehörig-keit herausgestellt werden (Schulz 2007: 226). Ob dies gelingt, ob ›Äquiva-lenzketten‹ gebildet werden können, ist unter anderem davon abhängig, ob einzelne Forderungen, die von Einzelnen oder Teilgruppen erhoben wer-den, durch ihren Adressaten erfüllt werden oder nicht. Nur dann, wenn Forderungen nicht erfüllt und ihre Träger also enttäuscht werden, wird der Boden für sog. Äquivalenzketten mit anderen Forderungen bereitet (Nonhoff 2007b: 13; Marchart 2008: 249). Nicht also eine an sich gegebene Identität, sondern eine besondere Beziehung gegenüber dem Adressaten von Kritik, Ansprüchen und Forderung - dem sog. ›konstitutiven Außen‹ - rückt damit als Konstitutionsbedingung von Kollektiven in den Blick. Insgesamt ist aus dieser Perspektive also nicht entscheidend, ob von vorn-herein (soziale, ökonomische oder politische) Übereinstimmungen gegeben sind, sondern ob Identifikationsprozesse möglich sind, durch die sich ein ›Wir‹ entwickeln kann (Mouffe 2007: 27-28). Während gegenüber diesem konstitutiven Außen eine Art negative Gemeinsamkeit erfahren werden kann, ist die positive Vermittlung von Einzelnen auch mit Hilfe sog. ›leerer Signifikanten‹ möglich (Nonhoff 2007b: 13). Der Ausdruck leerer Signifi-kant bezeichnet positive Bezugspunkte, mit denen sich eine Vielzahl von Einzelnen identifizieren können und die insofern vereinigend wirken können. ›Leer‹ heißt, dass die inhaltliche Bedeutung des Bezugspunktes un-scharf genug sein muss, damit sich eine möglichst große Zahl von Einzelnen positiv darauf beziehen kann. Heißt der leere Signifikant bei-spielsweise ›soziale Mitte‹ oder ›soziale Gerechtigkeit‹, dann darf der Be-deutungsgehalt nicht zu klar sein, damit der Brückenschlag zwischen unter-schiedlichen Einzelnen gelingen kann. Einem wirksamen leeren Signifikan-ten gelingt es "[…] das Gemeinsame einer Menge von ansonsten heteroge-nen oder gar sich widersprechenden Elementen auszudrücken […]" (Schulz 2007: 227). Je unspezifischer die Bedeutung, desto mehr Menschen können sich mit ihren eigenen Ansprüchen, Bedürfnissen oder Forderungen darauf be-ziehen. Aus einer derartigen Perspektive ist nicht entscheidend, ob prekär und ›normal‹ Beschäftigte identische Probleme empfinden und Forderungen oder Ansprüche erheben, sondern ob ihre jeweiligen Ansprüche und Inte-ressen miteinander zu Äquivalenzketten verknüpft werden können, sich ähnliche Adressaten von Kritik und Forderungen als konstitutives Außen abzeichnen und sich geteilte symbolische oder ideologische Bezugspunkte als leere Signifikanten herauskristallisieren, auf die sich viele prekär und ›normal‹ Beschäftigte beziehen können. 1.2Prekarisierung im Großhandel - Forschungsdesign Antworten auf die oben gestellten Fragen versuche ich auf der Basis einer explorativen Rekonstruktion der sozialen Deutungsmuster von prekär ar-beitenden LeiharbeiterInnen und prekarisierten Normalbeschäftigten zu entwickeln, die in zwei Großhandelsbetrieben beschäftigt sind. Die vorlie-gende Studie ist explorativ, weil sie sich auf die Rekonstruktion von Deu-tungsmustern einer speziellen Beschäftigtengruppe, wahrscheinlich eines einzelnen sozialen Milieus beschränkt. Wie Prekarisierte aus anderen Mili-eus (Pelizzari 2009) oder anderen Branchen ihre Erfahrungen deuten, kann auf der Basis dieser Arbeit nur begründet spekuliert werden. Wenn im Fol-genden von den Prekären oder den prekarisierten Normal-beschäftigten die Rede ist, dann immer unter dem Vorzeichen dieser Einschränkungen. Es versteht sich methodologisch von selbst, dass empirisch ungeprüfte Verallgemeinerungen der in Kapitel 10 erörterten Schlussfolgerungen und weiterreichenden Thesen auf der Basis eines qualitativen Samples unzuläs-sig sind. Gegenüber der bis dato publizierten empirischen Prekarisierungsforschung zeichnet sich die vorliegende Studie durch zwei Besonderheiten aus, die im Fogenden kurz resümiert werden sollen. a) Vergleich - Geteilte Deutungen von Prekären und Prekarisierten: Im vorherigen Abschnitt wurde bereits ausführlich der besondere analytische Zugang und die daraus folgende Fragestellung vorgestellt. Eine inhaltliche Wiederho-lung erübrigt sich daher an dieser Stelle. Abschließend sei lediglich die grundsätzliche Vergleichsperspektive (Kap. 4.2) der vorliegenden Untersu-chung hervorgehoben. Da in der Forschungsliteratur insbesondere auf die Individualisierung und Entkollektivierung hingewiesen wird (zum Beispiel auf die Spaltung in Stamm- und Randbelegschaften), die aus Prekarisie-rungsprozessen folgen können, lege ich ein besonderes Augenmerk darauf, ob es Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den sozialen Deutungsmus-tern von LeiharbeiterInnen und prekarisierten Normalbeschäftigten gibt. Im Zentrum der Studie steht daher nicht nur die Frage nach den Inhalten und der inneren Logik der Deutungsmuster, die sich aus den Äußerungen von LeiharbeiterInnen sowie prekarisierten Normalbeschäftigten rekon-struieren lassen; von vornherein werden außerdem Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausgearbeitet, die sich möglicherweise in und zwischen den von prekären LeiharbeiterInnen und prekarisierten Normalbeschäf-tigten genutzten Deutungsmustern abzeichnen. Die vorliegende Studie untersucht somit nicht nur, ob kognitive Mobilisierungs- und Solidaritäts-potenziale innerhalb der rekonstruierbaren sozialen Deutungsmuster vorhanden sind, sondern fragt zugleich, ob und in welchem Maße diese von den befragten prekären LeiharbeiterInnen und prekarisierten Normal-beschäftigten (sozial) geteilt werden. b) Prekarisierte und Prekäre in ›Dienstleistungsbetrieben unter Druck‹: Ein be-sonderes Merkmal dieser Studie ist zudem, dass in ihr Beschäftigte unter-sucht werden, die in zwei Unternehmen arbeiten, die in einer ›prekären Dienstleistungsbranche‹ (Kap. 5) agieren. Auch die formal Normalbeschäf-tigten werden hier in besonderem Maße mit betrieblichen Prekarisierungs-prozessen konfrontiert. Ein Gros der empirischen Prekarisierungsforschung, die sich mit den Verarbeitungsweisen von Prekarisierung und Prekarität durch die Subjekte selbst auseinandersetzt, konzentrierte sich bisher auf Industriebranchen (zum Beispiel der Einsatz von LeiharbeiterInnen in der Automobilindu-strie) oder untersuchte einzelne Beschäftigte aus unterschiedlichen Bran-chen und Betrieben (Brinkmann u.a. 2006; Pelizzari 2009). Insbesondere die Frage aber, wie prekäre Erwerbs- und Lebenslagen interessenpolitisch von Beschäftigten verarbeitet werden, die in Branchen der einfachen Dienstleistungstätigkeiten arbeiten, ist bisher nicht befriedigend beant-wortet worden. Selten oder gar randständig (Artus 2008b; Manske 2007; Schnell: 2009) blieben innerhalb der empirischen Forschung bisher Unter-suchungen, die den subjektiven Reaktionen von Beschäftigten nachspüren, die innerhalb derselben ›prekären Dienstleistungsbranche‹ arbeiteten - Branchen, in denen oftmals hohe Anteile atypischer und/oder prekärer Be-schäftigungsverhältnisse zu finden sind. Und dies, obwohl in den entspre-chenden Sektoren wie Handel, im Hotel- und Gaststättengewerbe oder auch im Bereich der einfachen personenbezogenen Dienstleistungen besonders häufig prekär beschäftigt wird, nicht selten unter repressiven be-trieblichen Kontrollbedingungen und Managementstilen (Artus 2008b: 27-28). Dies gilt insbesondere für die sog. unstrukturierten oder Jedermanns-arbeitsmärkte innerhalb der Dienstleistungsbranchen. Sie zeichnen sich da-durch aus, dass die notwendigen Qualifikationen ›on the job‹ erlernt wer-den können (Pelizzari 2009: 116). Arbeitskräfte sind insofern, unter den ge-gebenen gesetzlichen Regelungen, verhältnismäßig leicht austauschbar. In diesen Arbeitsmarktsegmenten sind die hohen tariflichen und interessen-politischen Standards, wie sie in Deutschland insbesondere in der Auto-mobilindustrie, im Öffentlichen Dienst oder dem Maschinenbau gelten beziehungsweise galten, weitgehend unbekannt. Im Gegenteil, oftmals do-minieren hier "[…] aufgrund eines schwachen kollektivvertraglichen Schu-tzes prekäre Normalarbeitsverhältnisse (Vollzeit- bis geringe Teilzeitbe-schäftigung) sowie prekäre Arbeitsverträge […]" (ebd.: 116). Im Unterschied zu Beschäftigten in fachberuflichen Arbeitsmärkten sind Lohnabhängige in Jedermannsarbeitsmärkten einem höheren Konkur-renzdruck ausgesetzt, sind sie doch (theoretisch) schnell durch neu anlern-bare Arbeitskräfte zu ersetzen. Ihre interessenpolitische Verhandlungs-macht kann daher als relativ gering eingeschätzt werden (Pelizzari 2008: 200). Entsprechende Untersuchungen sind auch angesichts der Verlagerung des Arbeitskampfgeschehens vom industriellen Sektor in die Dienstleis-tungsbranchen, die seit Mitte der 1990er und ganz besonders seit Anfang des neuen Jahrtausends zu konstatieren ist, um so dringlicher (Dribbusch 2011: 251-252). Laut Heiner Dribbusch drückt sich diese Entwicklung "[…] vor allem in einer Zunahme von Streiks sowie in der Vergewerkschaft-lichung traditionell eher streikabstinenter Berufsverbände aus. Den Hintergrund bildete eine zunehmende Aggressivität der privaten und öffentlichen Arbeitgeber-verbände infolge veränderter nationaler und internationaler Konkurrenzbe-dingungen" (ebd.: 251). Insbesondere in Dienstleistungssektoren muss dafür gekämpft werden, dass es beispielsweise überhaupt Tarifverträge gibt (ebd.: 252). Ein Beispiel einer derartigen sowohl hinsichtlich der Arbeitsmarktposition als auch der interessenpolitischen Realitäten ›potenziell prekären Dienstleistungsbran-che‹ ist der von mir untersuchte Großhandel. In den beiden Betrieben, in denen die prekarisierten Normalbeschäftig-ten (darunter BetriebsrätInnen) und LeiharbeiterInnen arbeiteten, die an der vorliegenden Untersuchung teilgenommen haben, geraten auch die Arbeits- und Lohnbedingungen der ›Kernbelegschaften‹ unter Druck. Die arbeitsrechtlichen Unterschiede und Lohndifferenzen zwischen ihnen und LeiharbeiterInnen bleiben zwar beträchtlich, dennoch waren beide Belegs-chaften zum Untersuchungszeitpunkt untertariflich bezahlt. Im Betrieb Bilbo ist der Rückgriff der Geschäftsführung auf Leiharbeit darüber hinaus verbunden mit einem betrieblichen Konflikt um beabsichtigte Lohnkür-zungen, denen sich der Betriebsrat in den Weg stellt. Seit er einer Neuord-nung der Lohngruppen, die zu Lohneinbußen für einen beträchtlichen Teil der Belegschaft geführt hätte, nicht zustimmte, wurden keine Festanstel-lungen mehr vorgenommen. Anfallende Mehrbelastungen wer-den nach Auskunft des Betriebsrates durch Leiharbeit abgedeckt - Leiharbeit, ohne-hin ein normales personalpolitisches Instrument, um saisonale Spitzen ab-zufangen, wird insofern permanent im Betrieb genutzt. Im Betrieb Traum-welt wird ebenfalls untertariflich bezahlt. Während bei Bilbo die Festbeleg-schaft allerdings nicht abgebaut wurde, sank die Zahl der Festangestellten laut Betriebsrat bei Traumwelt kontinuierlich, während die der Prekären wuchs. Betriebsrat und Belegschaft klagen außerdem über eine Intensivie-rung der Arbeits- und Leistungsanforderungen. In beiden Betrieben kann demnach meines Erachtens von einer ›Normalisierung der prekären Be-schäftigung‹ und einer ›Prekarisierung der Normalarbeit‹ gesprochen werden (ausführlich Kap. 5.2.3). Die Unterscheidung zwischen prekär und nicht prekär Beschäftigten bleibt zwar wichtig; mit der Formulierung ›Prekarisierung der Normalarbeit‹ sollen allerdings die Verschlechterungen der Arbeits- und Lohnbedingungen von Kernbelegschaften hervorgehoben werden, die bei einem dualistischen Verständnis von prekär und nicht pre-kär, ›bad jobs‹ und ›good jobs‹, aus dem Blick geraten können (Hürtgen 2008: 115, 118). Deshalb wird hier von prekarisierten Normalbeschäftigten (darunter Betriebsräte) gesprochen. Untersucht werden die leitenden Fragen und die oben dargestellte Suchthese mit Hilfe von Interviews und Gruppendiskussionen. Den empi-rischen Kern der Studie bilden 16 Problemzentrierte Interviews und fünf Gruppendiskussionen, die ich im Wesentlichen in der ersten Hälfte des Jahres 2010 und der ersten Hälfte des Jahres 2011 mit prekär beschäftigten LeiharbeiterInnen und prekarisierten Normalbeschäftigten aus zwei Betrie-ben des Großhandels geführt habe. Zum Teil handelt es sich bei den Normalbeschäftigten um Betriebsräte. Sie sind allerdings nicht vollständig für die Betriebsratsarbeit freigestellt und gehen täglich ihrer normalen Er-werbsarbeit nach. Die Einzelinterviews wurden im Sinne des Problemzentrierten Inter-views (PZI) (Witzel 1982, 2000) anhand eines flexibel gehandhabten Leit-fadens durchgeführt. Die Gruppendiskussionen wurden in Anlehnung an Verfahrensvorschläge organisiert, die sich in der Methodenlehre Ralf Bohnsacks (Bohnsack 1997) finden. Das Auswertungsverfahren kombi-niert Elemente des auf Typenbildung ausgerichteten systematisch verglei-chenden Verfahrens nach Udo Kelle und Susann Kluge (Kelle/Kluge 2010, Kluge 2000) und - angelehnt an die Dokumentarische Methode - Schritte einer formulierenden und punktuell reflektierenden Interpretation (Nohl 2006: 45ff.; ausführlich Kap. 4).

Erscheint lt. Verlag 17.8.2015
Reihe/Serie Labour Studies ; 10
Zusatzinfo 11 Abbildungen und 3 Tabellen
Verlagsort Frankfurt
Sprache deutsch
Maße 141 x 214 mm
Gewicht 645 g
Themenwelt Sozialwissenschaften Soziologie Allgemeine Soziologie
Sozialwissenschaften Soziologie Mikrosoziologie
Sozialwissenschaften Soziologie Spezielle Soziologien
Schlagworte Arbeitssoziologie • Arbeitssoziologie,Prekarisierungsforschung,Leiharbeit,Deutungsmusteranalyse,Prekarität,Sozialpopulismus,Dienstleistung • Deutungsmusteranalyse • Dienstleistung • Leiharbeit • Prekarisierungsforschung • Prekarität • Sozialpopulismus
ISBN-10 3-593-50274-7 / 3593502747
ISBN-13 978-3-593-50274-8 / 9783593502748
Zustand Neuware
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