Moralisierung des Rechts

Kontinuitäten und Diskontinuitäten nationalsozialistischer Normativität

Werner Konitzer (Herausgeber)

Buch | Softcover
246 Seiten
2014
Campus (Verlag)
978-3-593-50168-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Moralisierung des Rechts -
38,00 inkl. MwSt
Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust
Nationalsozialistische Rechtstheorien hoben den Unterschied zwischen Moral und Sittlichkeit auf der einen Seite und Recht auf der anderen Seite so weit wie möglich auf. In den "Nationalsozialistischen Leitsätzen für ein neues Strafrecht" von 1938 formulierte Hans Frank, Hitlers Rechtsanwalt und einer der führenden Vertreter einer "nationalsozialistischen Rechtswissenschaft", kurz und bündig: "Deutsches Rechtsgefühl und deutsches Sittlichkeitsempfinden sind eins."
Was bedeutete dieses "Ideal" der Einschmelzung des Unterschieds von Sittlichkeit, Moral und Recht für die nationalsozialistische Rechtstheorie und Rechtspraxis? Was besagte sie für eine Analyse nationalsozialistischer Vorstellungen von "Ethik" und "Moral"? Und wie weit bestimmte das Fortwirken nationalsozialistischer Moral noch die Rechtsauffassungen der frühen Bundesrepublik?

Prof. Dr. Werner Konitzer ist stellvertretender Leiter des Fritz Bauer Instituts in Frankfurt am Main. Lena Foljanty, Dr. iur., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt am Main.

Inhalt

Vorwort 7

Herlinde Pauer-Studer
»Jenseits vom Chaos und von Interessenkonflikten«
Aspekte der Rechtsentwicklung im NS-System der 1930er Jahre 11

Martin Becker
»Arbeit« und »Gemeinschaft« im NS-Recht und im Recht
der frühen Bundesrepublik 35

Thomas Henne
Ehe und Homosexualität im bundesdeutschen Rechtssystem
der 1950er Jahre: Normen, Werte, Grundgesetz - und ein Film 63

Joachim Vogel
Fortwirkende Einflüsse aus nationalsozialistischer Zeit auf das Strafrecht als Ausdruck übergreifender Entwicklungslinien im Strafrecht des 20. Jahrhunderts 87

David Johst
Die Entdeckung des Unrechtsstaates 127

Tino Plümecke
Ordnen, werten, hierarchisieren
Der sozial dichte Begriff »Rasse« und seine Gebrauchsweisenim Nationalsozialismus 147

Werner Konitzer
Kontinuitäten und Brüche nationalsozialistischer Moralvorstellungen
am Beispiel von Otto Friedrich Bollnows »Einfacher Sittlichkeit« 167

Michael Schefczyk
»Als Deutscher unter Deutschen«: Karl Jaspers' Die Schuldfrage 189

Nicolas Berg
Selbstentnazifizierung einer Komplizenschaft
Die Vorgeschichte des SS-Bekenntnisses von Hans Egon Holthusen und seiner Kontroverse mit Jean Améry 215

Autorinnen und Autoren 243

Vorwort Nationalsozialistische Rechtstheoretiker hatten es sich zum Ziel gesetzt, den Unterschied zwischen Recht und Moral so weit wie möglich aufzuheben. Das bedeutete, "ethische Konzepte wie ›sittliche Pflicht‹, ›Anständigkeit‹, ›Ehre‹ und ›Treue‹ auch als Rechtsbegriffe zu verstehen". Auf die Bedeutung dieser Tatsache für die Veränderung des Rechts im Nationalsozialismus haben Rechtshistoriker und Rechtstheoretiker seit den 1970er Jahren wiederholt hingewiesen. Sie rückt jedoch in ein neues Licht, wenn man sie nicht mehr allein von der Seite des Rechts, sondern auch von der Seite der Moral her betrachtet. Moralische Einstellungen werden auf vielfältige Weise kommuniziert: in Liedern, Sinnsprüchen, Erzählungen, Filmen, Gedichten, in wechselseitigen Ermahnungen, lobenden und tadelnden Äußerungen. Philosophen und Theologen formulieren sie aus, systematisieren sie und versuchen sie zu begründen. Weil es sich um Überzeugungen handelt, die jeder einzelne Mensch für sich hegt, kann er sie auch in Absetzung von den Überzeugungen der Menschen in seiner sozialen Umgebung entwickeln. Sie sind in diesem Sinne unhintergehbar individuell. Dadurch unterscheiden sie sich vom Recht, für das charakteristisch ist, dass es sich um ein institutionalisiertes Normensystem handelt. Jedoch ist Moral nicht gänzlich subjektiv. Moralische Gefühle und Urteile haben auch eine wesentliche intersubjektive Dimension. Wer sich über etwas, was er für ein Unrecht hält, empört, erwartet gewöhnlich, dass andere seine Empörung teilen oder zumindest billigen. Ob Handlungen Empörung auslösen oder nicht, ist auch ein Symptom dafür, wie weit bestimmte Überzeugungen geteilt werden. Betrachtet man die Entwicklung von moralischen Einstellungen in den ersten Jahren des nationalsozialistischen Regimes, so stößt man auf eine Reihe von Veranstaltungen, bei denen solche moralischen Gefühle öffentlich inszeniert wurden: Formen moralisch-politischer Vergemeinschaftung wie Totengedenken oder Sonnenwendfeiern. Am markantesten sind aber die verschiedenen Formen öffentlicher Anprangerung, Zurschaustellung und Demütigung, die für die ersten Jahre des Regimes emblematisch geworden sind. Das gilt vor allem für die in der historischen Forschung eingehend untersuchten "Rassenschande"-Pogrome. Diese Pogrome waren keine spontanen Ausbrüche von Massengewalt. Sie hatten quasi-institutionellen Charakter. Insofern wirken sie wie eine zynische Mischung von Recht und Moral. Darin deutet sich an, dass es ein Bestreben gab, die propagierte Volksmoral als eine Art Quasi-Recht zu institutionalisieren. Die Pogrome sind ein Indiz dafür, dass die Öffnung des Rechts zu einer "Volksmoral" ein Vorgang war, der nicht allein von den Folgen, die er für das Rechtssystem hatte, her zu erfassen ist. In der Verzahnung von Recht und Moral vollzog sich eine Entwicklung, die beide Systeme, Recht und Moral, gleichermaßen betraf und die wohl nur in ihrer wechselseitigen Betrachtung angemessen verstanden werden kann. Die Erforschung von moralischen Einstellungen während des Nationalsozialismus und die Frage nach den Kontinuitäten und Brüchen in der Tradierung dieser Einstellungen ist seit mehreren Jahren ein Schwerpunkt in der Arbeit des Fritz Bauer Instituts. Auf einem von mehreren Workshops zu diesem umfassenden Themengebiet wurde die Frage nach dem Verhältnis von Recht und Moral diskutiert. Dort entstand auch der Plan, in einer Vortragsreihe, an der vor allem Juristen und Philosophen beteiligt sein sollten, einzelne Themenbereiche des gesamten Komplexes jeweils alternierend aus der Sicht der Moralphilosophie und aus der Sicht der Rechtsgeschichte bzw. Rechtstheorie zu beleuchten. Dabei sollte zum einen die Frage nach der Verbindung von Recht und Moral, zum anderen die Frage nach Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Zeit nach 1945 im Zentrum stehen. Die meisten der hier versammelten Beiträge sind im Rahmen dieser Vortragsreihe entstanden. Schon bei der Vorbereitung der Reihe zeigte es sich, dass die Idee einer engen Verzahnung der Themenstellungen zwischen Recht und Moral, wie sie für die Erforschung der Sache wohl wünschenswert wäre, noch lange nicht angemessen wird realisiert werden können. Ein wichtiger Grund dafür liegt in der unterschiedlichen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in den Wissenschaftsbereichen Jurisprudenz und Philosophie. Während in der Rechtsgeschichte einzelne Bereiche, etwa die Geschichte des Strafrechts, bereits gut erforscht sind, gibt es für die Geschichte der Moralphilosophie bisher kaum vergleichbare Ansätze. Ebenso fehlt auf Seiten der Moralphilosophie eine systematische Diskussion und Analyse von zentralen Begriffen des Nationalsozialismus, wie etwa dem Begriff der "Rasse" oder dem der "Gemeinschaft". Das ist auch deshalb bemerkenswert, weil in der Gegenwart das moralisch-politische Selbstverständnis sehr häufig in Abgrenzung zum Nationalsozialismus formuliert wird. Vielleicht kann das Jahrbuch hier den Anstoß zu einer weiteren Diskussion geben. Die Vortragsreihe wie auch die Konzeption des Bandes sind in enger Zusammenarbeit mit Lena Foljanty entwickelt worden. Ohne die vielen Diskussionen und Anstöße von ihr wäre beides so nicht zustande gekommen. Ich möchte mich an dieser Stelle bei ihr für die sehr intensive und interessante Zusammenarbeit bedanken. Der Vortrag über die Einflüsse des Nationalsozialismus auf das Strafrecht, den Joachim Vogel im Rahmen der Reihe hielt, ist wohl allen, die ihn gehört haben, wegen seiner brillanten, außerordentlich sachkundigen und allgemeinverständlichen Darstellung besonders in Erinnerung geblieben. Beim anschließenden Abendessen lernte ich Joachim Vogel als einen humorvollen und vor allem herzensguten Menschen kennen. Professor Vogel konnte den Vortragstext, in dem er auch auf die Forschungen des Fritz Bauer Instituts zum Problem der Moral im Nationalsozialismus näher eingegangen war, nicht mehr zu einem eigenen Beitrag umarbeiten. Er starb am 17. August 2013 bei einem tragischen Unfall. Mit Genehmigung des Berliner Wissenschafts-Verlages drucken wir hier Auszüge aus seiner 2004 erschienenen Studie Einflüsse des Nationalsozialismus auf das Strafrecht ab. Die Untersuchung ist aus dem berühmten Vortrag hervorgegangen, den Joachim Vogel 2003 auf der Bayreuther Tagung der deutschen Strafrechtslehrer gehalten hat Frankfurt am Main, August 2014 Werner Konitzer "Jenseits vom Chaos und von Interessenkonflikten" Aspekte der Rechtsentwicklung im NS-System der 1930er Jahre Herlinde Pauer-Studer Bereits 1933 passten führende Juristen ihre Staats- und Rechtslehren der neuen politischen Situation und der NS-Ideologie an. Ihre ausgefeilten Begründungen der neuen Staatsform beschönigten die schon im Februar und März 1933 klar erkennbaren Überschreitungen etablierter normativer Standards durch das NS-Regime. Die Aura und Autorität des Faches wurde für eine professionelle Normalisierung des politischen und rechtlichen Ausnahmezustandes eingesetzt. Die Juristen lieferten den theoretischen Beitrag zu den normativen Grundlagen des NS-Systems und trugen zur relativ hohen inneren Stabilität und Akzeptanz des Regimes in der Phase bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges bei. Die Argumente der NS-Rechtstheoretiker zielten darauf ab, eine normative Logik in der Entwicklung von der Weimarer Republik zur nationalsozialistischen Herrschaft aufzuzeigen. Die nationalsozialistische Revolution galt ihnen als historisch zwangsläufiges Ergebnis der angeblich politisch unhaltbaren Zustände in der Weimarer Republik. Der Übergang zum Nationalsozialismus und zum Führerstaat wurde mit plakativen Überlegungen untermauert, die metaphysisch konnotierte Ideen und Formeln ins Spiel brachten. Eine besondere Funktion kam dabei der ideologischen Moralisierung des Rechts zu. Das Ziel des folgenden Beitrages ist es, einige dieser normativen Verschiebungen näher zu beleuchten. Gegen den liberal-bürgerlichen Rechtsstaat und die liberale Freiheitskonzeption Die Begeisterung der regimetreuen Rechtstheoretiker für die neue historische Situation ist unverkennbar. Ihre Botschaft lautet im Wesentlichen: Die Überwindung der Weimarer Republik, der exemplarischen "Verfallsform des bürgerlichen Rechtsstaates", durch die "nationale Bewegung" war unabdingbar. In der neuen Staatsform, dem autoritären Führerstaat, finde der Einzelne innerhalb der Volksgemeinschaft die ihm angemessene Stellung und seine ethische Lebensbestimmung. Der Führer garantiere durch seine Person eine Ordnung, die den "Gesamtnutzen vor den Eigennutzen" stelle und "jedem das Seine" zugestehe. Einig sind sich die NS-Juristen in der Ablehnung des Liberalismus und der liberalen Staatskonzeption. Das liberale Rechtsdenken werde bestenfalls der historischen Entwicklung des 19. Jahrhunderts, nicht aber den neuen politischen Herausforderungen im 20. Jahrhundert gerecht. Für die NS-Rechtstheoretiker kommt die Epoche des liberal-bürgerlichen Rechtsstaates bereits im August 1914, mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, an ihr Ende. Die Weimarer Republik wird von ihnen zur historisch verfehlten Staatsform stilisiert: In einem von Parteikonflikten und instabilen Regierungen ohne wirkliche politische Autorität geprägten politischen Kontext würden die Rechtsgrundlagen und normativen Strukturen des bürgerlich-liberalen Staates implodieren. Die Weimarer Republik konnte demnach nur scheitern - sie war nach den NS-Juristen der Versuch, eine überholte Staatsform in das 20. Jahrhundert mit seinen völlig veränderten politischen Gegebenheiten herüberzuretten. Das Erlebnis des Krieges, insbesondere das "Fronterlebnis", bedingt gemäß den NS-Theoretikern eine intensive und bislang unbekannte Begegnung mit Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit. Das Fronterlebnis verkörpert für sie keine isolierte persönliche Erfahrung der einzelnen Soldaten, sondern eine kollektive Wir-Erfahrung. Eine individualistische Form der Identität und Selbstbestimmung lehnen sie folglich als "unzeitgemäß" ab. Das kriegsbedingte Kollektiverlebnis wird zum Ausgangspunkt einer neuen Staatsform aufgewertet. So benützt der Rechtswissenschaftler Otto Koellreutter die Fronterfahrung, um die politische Ordnung des NS-Staates als notwendiges Ergebnis der historischen Abläufe zu konstruieren: "Durch den Weltkrieg, der den politischen Zusammenbruch der bürgerlichen Welt zur Folge hatte, trat im Nationalsozialismus eine andere politische Ausgestaltung der nationalen Idee hervor. Denn der Nationalsozialismus bedeutet die Übertragung und die Durchsetzung des Fronterlebnisses im politischen Leben, gegen die herrschende ›Bürgerlichkeit‹. Diese neue nationale Idee baut bewußt auf einer gesunden völkischen und damit auf einer sozialen Grundlage auf." Dass die NS-Bewegung zum Gegenprinzip gegen die liberale Demokratie werden konnte, verdankt sich nach Koellreutter dem "Frontkämpfertum", also jenen, die "von Gemeinschaft nicht nur redeten, sondern sie und das aus ihr erwachsende Führertum erlebt hatten". Entsprechend erfolgt dann der Angriff auf die Weimarer Republik als eine Staatsform, der die innere Beziehung zum deutschen Volke fehle und die sich rechtstheoretisch im positivistischen und substanzlosen Formalismus erschöpfe. Wie Koellreutter schreibt: "Der Novemberumsturz des Jahres 1918 brachte in Deutschland einen äußerlichen Sieg der formalen Demokratie und des Rechtspositivismus. Aber das durch das Erlebnis des Weltkriegs hindurchgegangene deutsche Volk und vor allem die deutsche Jugend der Nachkriegszeit durchschauten in immer stärkerem Maße die Brüchigkeit dieses Rechtskonstruktivismus, der in der ›reinen‹ Rechts- und Staatslehre Kelsens seine letzte bis ins äußerste folgerichtige Durchführung gefunden hatte. Der Staat wurde für ihn zum Endpunkt einer bloßen Konstruktion und mit der Rechtsordnung definiert." In den Schriften Reinhard Höhns findet sich Koellreutters Geschichtsinterpretation bestätigt: Der Erste Weltkrieg habe eine politische Situation geschaffen, der nur eine auf der Gemeinschaftsidee gegründete Form des Staates Rechnung tragen könne. Nach Höhn schuf das Fronterlebnis "die Gemeinschaft der Frontsoldaten", die "ihre Fortsetzung in der nationalsozialistischen Bewegung und ihren Formationen" fand. Und Höhn fügt hinzu: "Stärkste Gemeinschaftspersönlichkeit ist der Führer." Die Kritik an der Substanzlosigkeit und den fehlenden materialen Rechtsinhalten der Weimarer Republik wird von Ernst Forsthoff in der prägnanten Formulierung auf den Punkt gebracht, dass der Liberalismus notwendig im "agnostisch disqualifizierte[n] Staat" ende. Seine Einwände richten sich gegen den individualistischen Freiheitsbegriff und die zweckrationale Sicht des Politischen, die den Staat auf einen "Apparaturstaat" reduziere. Fehle ein substantielles gemeinschaftsorientiertes Rechtsverständnis, so sei die Konsequenz die Wendung zum instrumentell organisierten "bürokratischen Rechtsstaat", der aber, wie Forsthoff kritisiert, dem Einzelnen nicht gerecht werde: "Eine politische Haltung, die kein eigentliches Gemeinschaftsbewußtsein kennt, die keine Beziehung zu Volk und Volkstum, zu Ehre, Würde und Tradition hat, kann die Staatsorganisation nur rechtfertigen als eine Versicherung auf größtmögliche Ungestörtheit in der privaten Existenz, die man Freiheit nannte. Der liberale Staat rechtfertigte sich aus dem sogen. status negativus (individuellen Freiheitsbereich) des Staatsbürgers. So versteht es sich von selbst, daß das Gesetz der Zweckrationalität unter den Gesetzen, die einen Staat dieser Art formten, das bestimmende und vorherrschende sein mußte. Das Resultat dieser Entwicklung war der zweckrational, berechenbar und präzise funktionierende, von Max Weber mit unübertrefflicher Richtigkeit gezeichnete bürokratische Apparaturstaat." Die angeblich richtungslose Weimarer Republik vermittle den Bürgern weder Halt noch Orientierung noch klare Überzeugungen vom "Richtigen" und "Falschen". Demgegenüber wird der Führer zur epistemischen und normativen Autorität aufgebaut. Im Gegensatz zur Weimarer Republik, einer - in Forsthoffs Worten - "Demokratie ohne Volk" mit "vielfach antiquierten Freiheiten", die "den Versuch zum Staat ohne Substanz" bedeutete, gewinne der Führerstaat seine Substanz aus der Volksgemeinschaft und dem Führer und dessen Mythos. Eine Konsequenz der von den NS-Juristen entwickelten Theoriegeschichte ist also die dominante Stellung des Gemeinschaftsgedankens. Dies erklärt, warum die Volksgemeinschaft in der nationalsozialistischen Rechts- und Staatskonzeption als Rechtsquelle und Rechtsprinzip gilt. Jenseits der liberalen Freiheitskonzeption: Die obsolete Kategorie der "subjektiven öffentlichen Rechte" Die historische These einer notwendigen Entwicklung hin zum nationalsozialistischen Führerstaat wird von einer Reihe von theoretischen Forderungen begleitet. Einen besonderen Angriffspunkt in den nationalsozialistischen Rechtslehren bildet der Begriff der "subjektiven öffentlichen Rechte". Subjektive öffentliche Rechte sind Rechte des Einzelnen gegenüber dem Staat, sie bilden den Kern der liberalen Grundrechte. Gemäß der demokratischen Verfassung der Weimarer Republik umfassen die als liberale Grundrechte geltenden Freiheitsrechte unter anderem das Recht der freien Meinungsäußerung und der Pressefreiheit, das Vereins- und Versammlungsrecht, das Wahlrecht und das Postgeheimnis. Eine solche Gruppe elementarer individueller Rechte konnte den Nationalsozialisten nur hinderlich sein und konterkarierte ihre politischen Ziele. So erklärt Otto Koellreutter vollmundig: "Daß es liberale Grundrechte, also in diesem Sinne ›echte‹ Grundrechte, im deutschen Führerstaate nicht mehr geben kann, ist selbstverständlich. Denn die liberalen Grundrechte und die mit ihnen Hand in Hand gehende Überbetonung der ›wohlerworbenen‹ Rechte und der subjektiven öffentlichen Rechte widersprechen der Gemeinschaft als dem politischen Grundwert des Nationalsozialismus. In Auswirkung einer individualistischen Staats- und Rechtsidee wirkten sich diese Grundrechte für den Aufbau eines völkischen Gemeinschaftslebens schädlich aus." Politisch waren die Fakten bereits Ende Februar 1933 geschaffen. Die Reichstagsbrandverordnung vom 28. Februar 1933 rechtfertigte mit dem Hinweis auf die Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung weitgehende Beschränkungen der in der Weimarer Verfassung verbürgten Freiheits- und Grundrechte. Die NS-Juristen liefern also mit ihrer Kritik am Konzept der subjektiven öffentlichen Rechte nachträglich den theoretischen Überbau für die politischen Eingriffe des NS-Regimes in die Freiheits- und Rechtssphäre der Bürgerinnen und Bürger. Ihre Argumente zielen wiederum auf die Kontextgebundenheit der juridischen Begriffe. Der Idee subjektiver öffentlicher Rechte wird von den NS-Rechtstheoretikern eine gewisse historische Berechtigung zugestanden. Die Relevanz individueller Freiheitsrechte im Rahmen der konstitutionellen Monarchien des 19. Jahrhunderts gilt als unbestritten. Denn Anspruchsrechte gegen den Monarchen, den zur "juristischen Staatsperson" aufgewerteten Souverän, bilden nach den NS-Juristen ein zentrales Element der im Zuge bürgerlicher Emanzipationsbestrebungen einsetzenden Ausbildung des liberalen Rechtsstaates. So betont Reinhard Höhn, dass die konstitutionelle Entwicklung im 19. Jahrhundert "auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts das individualistische Rechtssystem durch die Einführung der Grundrechte, der subjektiven öffentlichen Rechte und vor allem der juristischen Staatsperson, die an die Stelle des souveränen Fürsten tritt, vertieft" und damit "das individualistische Rechtssystem als ein System von Beziehungen zwischen Individuen vollendet" habe. Doch die klar erkennbare "historische Bedingtheit des individualistischen Systems" verlange nach einer Neuorientierung und einer neuen Begrifflichkeit. Höhns Argumentation geht gänzlich konform mit der Linie von Hans Frank, dem Präsidenten der Akademie für Deutsches Recht, für den im nationalsozialistischen Staat gleichfalls die Kernthesen der liberalen Rechtsauffassung, insbesondere "die Gewaltentrennung in ihrer liberalen Ausprägung, ihr Freiheitsbegriff, ihre Auffassung vom Wesen des Staates und das liberale Staats- und Untertanenverhältnis und damit auch die Lehre von den Grundrechten und den subjektiven öffentlichen Rechten ihre Bedeutung verloren" haben. Ernst Forsthoff versucht sich an einem über die historische Ebene hinausreichenden systematischen Argument, warum die Kategorie der Freiheitsrechte im NS-System entbehrlich sei. Da subjektiv-öffentliche Rechte als Schutz- und Anspruchsrechte gegen den Staat konzipiert seien, komme dieser Kategorie nur in einem System Bedeutung zu, in dem sich Souverän und Bürger antagonistisch gegenüberstünden. In einer politischen Situation, in der ein klar erkennbarer Souverän mit politischer Macht fehle, verliere die Idee subjektiver öffentlicher Rechte ihre Basis. So schreibt Forsthoff, dass es nur, solange "der König als außergesetzlicher Souverän herrschte", einen "wirklichen Gegenspieler" gab, "gegen den es einen Sinn hatte, Eigengesetzlichkeiten und Freiheiten in Anspruch zu nehmen" und einzufordern. Seine weitere Folgerung lautet: Da die Weimarer Republik mit ihren instabilen und schwachen Regierungskoalitionen praktisch über keinen mit politischer Autorität ausgestatteten Souverän verfügte, fehle der normative Rahmen für eine Verankerung des Begriffs der subjektiven öffentlichen Rechte. In einer solchen Situation des Machtvakuums könne die Berufung auf individuelle Rechte nur zu ungeregelten Interessendynamiken und letztlich zum Chaos führen. Interessant sind die Implikationen von Forsthoffs Begründung hinsichtlich der Stellung des Führers. Nach der Logik seines Arguments ist der Führer kein absolutistischer Souverän, vor allem sei er keine außergesetzliche Instanz. Denn der Führer, so die Maxime der NS-Jurisprudenz, verkörpere das Gesetz.

Erscheint lt. Verlag 6.11.2014
Reihe/Serie Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust
Co-Autor Martin Becker, Nicolas Berg, Thomas Henne, David Johst, Werner Konitzer, Herlinde Pauer-Studer, Michael Schefczyk, Tino Plümecke, Joachim Vogel
Verlagsort Frankfurt
Sprache deutsch
Maße 141 x 213 mm
Gewicht 330 g
Themenwelt Geschichte Allgemeine Geschichte 1918 bis 1945
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung Politische Theorie
Schlagworte Bundesrepublik Deutschland • Deutschland • Drittes Reich / 3. Reich; Recht • Drittes Reich; Recht • Holocaust; Jahrbuch • Holocaust / Shoah; Jahrbuch • Moral • Moralisierung • Nachkriegszeit • Nationalsozialismus • Nationalsozialismus (Ideologie)
ISBN-10 3-593-50168-6 / 3593501686
ISBN-13 978-3-593-50168-0 / 9783593501680
Zustand Neuware
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