Neurosoziologie (eBook)

Ein Versuch

(Autor)

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2014 | 1., Originalausgabe
262 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73642-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Neurosoziologie - Dirk Baecker
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Die Soziologie hat den steilen Aufstieg der Hirnforschung, der mit dem Aufkommen neuer bildgebender Verfahren seinen Ausgang nahm, bislang eher zögernd beobachtet. Eine soziologische Theorie des Gehirns fehlt, ähnlich wie die Schwerkraft oder den Sauerstoff setzte man das Vorhandensein dieses Organs einfach voraus. Ausgehend von den Berührungspunkten in den Überlegungen, die Autoren wie Heinz von Foerster, Humberto Maturana und Niklas Luhmann zu geschlossenen Systemen anstellten, lässt sich Dirk Baecker nun erstmals auf dieses interdisziplinäre Wagnis »hart an der Grenze der Kompetenzüberschreitung« ein. Man könne, so Baecker, die Neuropublizisten, die aus fragwürdigen Forschungsergebnissen noch fragwürdigere Konsequenzen für den Reformbedarf von Schulen, Gerichten, Sendeanstalten und Internetdiensten ableiten, schließlich nicht ungestraft aus den Augen lassen.

<p>Dirk Baecker wurde 1955 in Karlsruhe geboren. Nach seinem Studium der Soziologie in K&ouml;ln und Paris promovierte und habilitierte er 1986-1992 im Fach Soziologie bei Niklas Luhmann an der Universit&auml;t Bielefeld. Er erhielt das Heisenberg Stipendium von der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Nach Forschungsaufenthalten an der Stanford University in Palo Alto (Kalifornien), der Johns Hopkins University in Baltimore und der &raquo;London School of Economics and Political Sciences&laquo; wurde Baecker 1996 an die Universit&auml;t Witten/Herdecke berufen, wo er den Lehrstuhl f&uuml;r Soziologie inne hatte. Anschlie&szlig;end war Dirk Baecker Professor f&uuml;r Kulturtheorie und -analyse an der Zeppelin University in Friedrichshafen und kehrte 2015 als Professor f&uuml;r Kulturtheorie und Management an die Universit&auml;t Witten/Herdecke zur&uuml;ck.</p>

[Cover] 1
[Informationen zum Buch/zum Autor] 2
[Impressum] 4
Inhalt 7
Der Spalt 11
Gepflegtes Nichtwissen 18
Lesen und Schreiben 30
Öffnung und Schließung 47
Die Idee der Form 58
Ein teleologischer Apparat 72
Beweglich, aufrecht, nackt 87
O (. i, . j) 102
Gestik, Sprache, Emotion 107
Der kantsche Code 127
Abweichende Zwecke 144
Im Medium der Semiose 154
Kein Selbst 168
Sperrklinkeneffekte 192
Ein kognitives Differential 218
Literatur 227

11Der Spalt

Die Hirnforschung ist auch für ein Publikum außerhalb der Neurowissenschaften ein faszinierendes Feld. Zum einen betrifft sie ein Organ, das jeder von uns mit sich herumträgt, mal beschwingend, mal belastend, ein Organ, dem mindestens so viel Individualität zugeschrieben wird wie einem Gesicht (vgl. Mecacci 1984). Zum anderen müssen wir lesen, dass ausgerechnet im Gehirn, wo man sie vermutet, seit das Herz, die Leber und das Zwerchfell ihren Kandidatenstatus als Träger reflexiver kognitiver Funktionen verloren haben, kein Neurowissenschaftler bisher ein Bewusstsein oder einen freien Willen entdeckt hat. Im Gegenteil, die Forschung weist darauf hin, dass uns das Nervensystem in unseren Entscheidungen einige Millisekunden voraus ist (vgl. Libet 2004). Ausgerechnet dort, wo wir die Fähigkeit zur bewussten Kontrolle vermuten, herrschen unbewusste Prozesse, die diese Kontrolle als illusionär erweisen oder, schlimmer noch, als Diener eines fremden Herrn.

Des Rätsels Lösung ist jedoch möglicherweise leichter als befürchtet. Es genügt die Annahme, dass das Gehirn sensorisch wie motorisch nicht reiz-, sondern vorhersagegesteuert ist. Es wartet nicht ab, bis etwas zu tun oder wahrzunehmen ist, sondern es ist auf der Grundlage eines massiv parallel arbeitenden Gedächtnisses laufend damit beschäftigt, dem vorzugreifen, was zu tun und wahrzunehmen ist. Die meisten dieser Vorhersagen werden gehemmt, das nennen wir Denken, ohne uns sicher sein zu können, was daran bewusst, unbewusst, intuitiv oder habituell ist; andere werden realisiert, und auch dann sind wir nicht sicher, ob sich die Vorhersagen bewähren, weil wir es wollen, oder ob die Welt so ist, wie wir sie vorhersagen. In diesem Falle wären wir an 12der Kontrolle unseres Verhaltens durch das Gehirn beteiligt (vgl. Pauen 2004; Pauen/Roth 2008), auch wenn unklar ist, wer sich hier als »wir« angesprochen fühlen darf: mein Bewusstsein, mein Organismus oder meine Gesellschaft. »Wir« sind uns unentwirrbar in die genetische Menschheitsgeschichte, in die eigene Biographie sowie in unsere sozialen Gelegenheiten und Verwicklungen entzogen. Dennoch ist es ein nicht unerheblicher Unterschied, ob wir Menschen uns als Vollzugsorgane eines falsch verstandenen darwinistischen Willens zum Überleben, also mehr oder minder sublimierter libidinöser Energien und genetischer Programme begreifen müssen oder umgekehrt annehmen können, dass »wir« uns einmischen können, indem Biographie, Entscheidung und Bewusstsein eine Rolle spielen.

Wenn das Gehirn vorhersage- und nicht reizgesteuert ist (vgl. Lurija 1973), wird das Problem des freien Willens weniger drängend, weil das Gehirn offenbar autonom ebenso wie pfadabhängig genug anderes zu tun hat, als auf Reize zu reagieren. Zugleich wird jedoch fraglich, was es tut, wenn es sich auf der Grundlage aktuell selektiver Erinnerungen mit seinen Vorhersagen beschäftigt, die meisten davon hemmt, manche verdrängt, andere nur vorsichtig wieder zu Bewusstsein kommen und einen geringen Teil in einer Art Modus der Selbstüberraschung Wirklichkeit werden lässt.

Kaum eine Entdeckung hat die Hirnforschung in den vergangenen Jahrzehnten so sehr stimuliert wie der Befund, dass das Gehirn im sogenannten Ruhezustand nicht untätig ist (vgl. Raichle et al. 2001). Es döst, träumt, erinnert, ahnt, assoziiert, kombiniert das Erlebte mit anderem Erlebtem, das Erwartete mit dem Befürchteten, die Überraschung mit der Hoffnung. Die Annahme von René Descartes, dass das Gehirn nur etwas tut, wenn es gereizt wird, etwa von einem Schmerz in einem Zeh, der einem 13Feuer zu nah kommt (Descartes 1664, S. 68f.), war bereits von Iwan Pavlov widerlegt worden, der jeden äußeren Reiz von inneren Reizen begleitet sah, so dass insgesamt nur von »bedingten Reflexen« die Rede sein kann und sich die Frage stellt, wie das Gehirn, der »Analysator«, zu den »Bedingungen« dieser Reflexe kommt (vgl. Pavlov 1909). Die Entdeckung, dass das Gehirn auch dann etwas tut, wenn der Organismus ruht, legt die Annahme nahe, dass es möglicherweise erst recht etwas tut, wenn der Organismus aktiv wird. Oder will man annehmen, dass das Gehirn die Momente der Inaktivität des Organismus nur nutzt, um sich auch einmal mit sich selbst zu beschäftigen, in einer Art Fernsehzustand des Geistes? Umso interessanter wird jedoch die Frage, in welchem Verhältnis die Beziehung, die das Gehirn zu sich selbst unterhält, zu den Beziehungen steht, die es zur Welt unterhält.

Mit der Einsicht in die autonome Aktivität des Gehirns stellt sich die Frage danach, wie es tut, was es tut. Man weiß, dass nur ein Bruchteil der Aktivitäten des Gehirns bewusst ist. Die Bewusstseinsphilosophie in der Nachfolge Edmund Husserls weiß also nur begrenzten Rat. Immerhin kann man in dieser Philosophie die Vermutung finden, dass das Bewusstsein ein Aufmerksamkeitszustand ist, der die Aktivitäten des Gehirns begleitet und nur fallweise, Husserl spricht von Intentionalität, aufgerufen wird, um sich zurückgreifend auf Erinnerungen und vorgreifend auf Erwartungen, also retentional und protentional dessen zu vergewissern, was aktuell der Fall ist (vgl. Husserl 1913/1930, S. 162ff.). Aber in welchem Unbewussten finden alle anderen Aktivitäten des Gehirns statt? Und warum haben wir es mit einem Organ zu tun, das für die Produktion der Wahrnehmung der Welt zuständig ist, aber unter allen Objekten in der Welt ausgerechnet sich selber nicht wahrnehmen kann? Hirnforscher sprechen von einer au14toepistemischen Limitation (vgl. Northoff/Musholt 2006); Systemtheoretiker würden von einer blockierten Selbstreferenz reden, die gleichzeitig auf der Element-, Prozess- und Systemebene des neuronalen Systems greift und dafür mit Wahrnehmungsresultaten entschädigt, die wir problemlos der Welt zurechnen, obwohl wir wissen können, dass wir sie ausschließlich unserem Gehirn verdanken. Wer sonst könnte für Hören und Sehen, Riechen und Schmecken, Fühlen und Denken zuständig sein? Das sei die eigentliche Bewusstseinsleistung, hat Niklas Luhmann einmal vermutet: die Wahrnehmung der Leistungen des eigenen Gehirns zu blockieren, den Prozess der Entstehung dieser Wahrnehmung auszublenden und alle Resultate der Wahrnehmung der Außenwelt und nicht etwa der eigenen Wahrnehmungsleistung zuzurechnen; das Bewusstsein löscht Informationen über den Ort, an dem die Wahrnehmung stattfindet (Luhmann 1995a, S. 14f.).

Umso interessanter wird es, diesem faszinierenden Organ auf andere Weise auf die Spur zu kommen. Wenn wir es bewusst nicht wahrnehmen können, müssen wir es auf den Seziertisch legen. Vivisektion statt Introspektion. Die Geschichte der Hirnforschung beginnt mit anatomischen Studien, die zu medizinischen Zwecken an noch lebenden oder bereits toten Opfern von Unfällen, Krankheiten oder kriegerischen Handlungen vorgenommen werden. Sie setzt sich fort als Neurophysiologie, die das Gehirn des Menschen mit Gehirnen anderer Säugetiere und anderer Tiere vergleicht. Und sie oszilliert bis heute zwischen bildgebenden Verfahren der Untersuchung lebender und sezierter Gehirne einerseits und dem Studium von »Ausfällen« im Verhaltensspektrum von Menschen nach unfallbedingten Schädelhirnverletzungen oder aufgrund organischer Störungen (etwa Tumoren) andererseits (vgl. Sacks 1985; Ramachandran/Blakeslee 1998; 15und stilbildend für die Gattung des »neurologischen Romans«, so Oliver Sacks: Luria 1968 und 1972).

Schon Aristoteles wusste, dass das Gehirn sich kühl anfühlt, und schloss daraus, dass es die im Herzen enthaltene Wärme temperiert (Über die Teile der Lebewesen, 652b). Leonardo da Vinci bewies in seinen Zeichnungen genaue Vorstellungen über die Kammern und Ventrikel des Gehirns, die bereits von Galen beschrieben und von der arabischen Medizin überliefert worden waren. Spätestens seit Descartes gibt es keine Hirnforschung ohne Bilder und kein Bild ohne immer wieder neue Ansätze, das Gehirn mit seiner grauen und weißen Substanz, mit seinen Nervenzellen, Synapsen und Glia, mit seinen Blutgefäßen, Hirnregionen und Hirnfunktionen mithilfe von anatomischen Schnitten und histologischen Präparaten sichtbar zu machen. Korbinian Brodmann erstellte auf der Grundlage histologischer Untersuchugen und anatomischer Vergleiche mit Tieren detaillierte Karten der Lappen, Windungen und Windungskomplexe der Großhirnrinde, die maßgebend dazu beitrugen, Regionen und Felder des Gehirns zu unterscheiden, denen verschiedene sensorische, motorische, emotionale, linguistische, analytische und weitere Funktionen zugeordnet werden können. Brodmann sprach von der »funktionellen Dignität des Cortex«, die weniger in der Quantität der Nervenzellen des Säugetiergehirns als vielmehr in ihrer Qualität zu suchen sei, »in der feinen inneren Differenzierung, der Oberflächenentwicklung, d.h. Dendritenzahl, dem Reichtum ihrer Konnektive« (Brodmann 1909, S. 93). Gedacht wird, wenn man so sagen darf, in Windungen und auf Oberflächen, im Schutz von Falten und in der Form von...

Erscheint lt. Verlag 10.3.2014
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Sozialwissenschaften Soziologie Allgemeine Soziologie
Schlagworte edition unseld 52 • EU 52 • EU52 • Gehirn • Neurowissenschaft • Soziologische Theorie
ISBN-10 3-518-73642-6 / 3518736426
ISBN-13 978-3-518-73642-5 / 9783518736425
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