Radikalaufklärung -

Radikalaufklärung (eBook)

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2014 | 1. Auflage
277 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-79811-9 (ISBN)
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Seit einem Jahrzehnt gibt es eine intensive Forschung zur »Radikalaufklärung« - dem atheistischen, skeptischen und materialistischen Flügel des Denkens im späten 17. und 18. Jahrhundert. Vor allem Jonathan Israel hat für die aufregende These argumentiert, dass diese radikalen Aufklärer verantwortlich sind für die Errungenschaften der Moderne, für Freiheit und Menschenrechte, Gleichheit und Toleranz, und dass der Spinozismus eine zentrale Rolle bei deren Durchsetzung gespielt hat. In diesem Band setzen sich acht führende nationale und internationale Experten mit Israels These auseinander und zeigen die Vielfalt und Deutungen der Radikalaufklärung auf. Mit Beiträgen von Silvia Berti, Wiep van Bunge, Margaret C. Jacob, Anthony McKenna u. a.

<p>Jonathan I. Israel ist Professor f&uuml;r Geschichte am Institute for Advanced Study, Princeton, USA.</p> <p>Martin Mulsow, geboren 1959, studierte Philosophie, Germanistik und Geschichte in T&uuml;bingen, Berlin und M&uuml;nchen. Er ist Professor f&uuml;r Wissenskulturen der Neuzeit an der Universit&auml;t Erfurt und Direktor des Forschungszentrums Gotha. Zuvor war er Professor f&uuml;r Geschichte an der Rutgers University, Mitglied des Institute for Advanced Study in Princeton und Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. F&uuml;r seine Arbeit wurde er mit dem Anna-Kr&uuml;ger-Preis und dem Th&uuml;ringer Forschungspreis ausgezeichnet. Mulsow ist Mitglied der S&auml;chsischen und der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.</p>

7Jonathan I. Israel, Martin Mulsow
Was ist Radikalaufklärung? – Eine aktuelle Debatte


In den letzten fünf oder sechs Jahren hat sich zwischen Wissenschaftlern unterschiedlichster Provenienz eine lebhafte transatlantische Debatte darüber entwickelt, welchen Stellenwert die Radikalaufklärung hat und wie man diesen Begriff am besten definiert. Neben zwei großen internationalen Konferenzen in Los Angeles und Lyon gab es zu diesem Thema eine ganze Reihe von Kolloquien und Symposien in New York (an der Columbia und an der City University), in Princeton, Rotterdam, Venedig und an der Sorbonne in Paris. Die Diskussion wird seither auf beiden Seiten des Atlantiks und sogar darüber hinaus an zahlreichen anderen Orten mit bemerkenswertem Nachdruck weitergeführt. Worum geht es?

Ganz allgemein kann man die Radikalaufklärung als eine Bewegung von Denkern, Schriftstellern, Pamphletisten und Reformern begreifen, die im späten 17. Jahrhundert aufkam und das ganze 18. Jahrhundert hindurch fortbestand. Sie war im Großen und Ganzen denselben Idealen verpflichtet wie die moderate Aufklärung, die die Hauptströmung der Aufklärung bildete, nämlich der Verehrung der Vernunft, der gesellschaftlichen, religiösen und persönlichen Freiheit, das aber in sehr viel energischerem Maße. Diese radikale Richtung stand nicht nur, wie die restliche Aufklärung, im Widerspruch zu den eingefleischten Verteidigern bestehender Autoritäten, der Tradition und des Glaubens, sondern sie wandte sich auch gegen die moderate Aufklärung von Locke, Newton, Voltaire, Montesquieu, Turgot und Hume – und wurde von diesen bekämpft. Oft verfolgt und unterdrückt, gehörten dieser radikalen Strömung eine beachtliche Anzahl von Menschen an – darunter Adriaan Koerbagh, Franciscus van den Enden, Pietro Giannone, Alberto Radicati, La Mettrie, Theodor Ludwig Lau, Johann Lorenz Schmidt, Johann Friedrich Struensee und Tom Paine. Sie wurden von Regierungen und Rechtssystemen, die zu ihrer Zeit keineswegs als besonders reaktionär galten oder sogar selbst für sich in Anspruch nahmen, »aufgeklärt« zu sein, ins Gefängnis geworfen, ins Exil geschickt, mit dem Bann belegt oder hingerichtet.

Die Radikalaufklärung unterscheidet sich hinsichtlich zahlrei8cher, grundlegender praktischer Ziele von der moderaten Aufklärung: Sollen alle Menschen ›aufgeklärt‹ werden oder nur einige wenige? Wie viel religiöse Toleranz ist erwünscht? Wie viel persönliche und sexuelle Freiheit, wie viel Pressefreiheit? Ist Zensur in irgendeiner Form notwendig? Was ist besser: Monarchie oder Republik, Oligarchie oder Demokratie? Ist eine institutionalisierte Aristokratie wünschenswert oder nicht? Mit welcher Rechtfertigung können Kolonialreiche oder die Sklaverei aufrechterhalten werden? Sollte die Einstellung zu Zölibat, Ehe, Scheidung und zum Suizid verändert werden – und wenn ja, in welche Richtung? Sollten Mädchen die gleiche Erziehung erhalten wie Jungen? Ebenso, ja noch weiter, gingen die Aussichten darüber auseinander, was die theoretischen und moralischen Grundlagen von Gesellschaft, Religion, Politik, Naturwissenschaft und der Aufklärung selbst betrifft. Folglich ist die Radikalaufklärung einer der wichtigsten Schlüssel zum Verständnis des Ursprungs und der intellektuellen Wurzeln wie auch der Widersprüche der Moderne in den westlichen Ländern.

So weit sind sich vermutlich alle Teilnehmer an der aktuellen Debatte einig. Die Schwierigkeiten beginnen dann, wenn Wissenschaftler, Professoren und Studenten versuchen, Wesen und Kern der Radikalaufklärung mit Hilfe historischer, geographischer, philosophischer, naturwissenschaftlicher oder theologischer Terminologie genauer zu definieren. Gleichzeitig müssen sie sich mit den intellektuellen Konsequenzen eines langen, bis in die Zeit der Aufklärung selbst zurückreichenden Prozesses der Marginalisierung, Vergröberung und Verunglimpfung ihres Untersuchungsgegenstandes auseinandersetzen. Auch wenn diese Debatte – wie oben erwähnt – erst in den letzten Jahren an Dynamik gewonnen hat –, wobei einige der Probleme von Margaret Jacob bereits in ihrem Buch The Radical Enlightenment (1981)[1] umrissen wurden –, sind die der Diskussion inhärenten praktischen und theoretischen Kontroversen und Probleme keineswegs neu. Ganz im Gegenteil, offensichtliche Konflikte prinzipieller Art – wie das Problem der Sklaverei in der Karriere von Thomas Jefferson – fallen ins Auge und sie stehen im Widerspruch zu den vertrauten Bezeichnungen, Betrachtungsweisen, Terminologien und Kategorisierungen, wie sie von der moderaten Aufklärung verwendet wurden – und meist 9auch von der Aufklärungsforschung im 20. Jahrhundert, die in dieser Hinsicht deren Nachfolger ist. Peter Gay, der Autor eines umfassenden, mehrbändigen Überblickswerks mit dem Titel The Enlightenment. An Interpretation (2 Bde., 1966-69), ein Wissenschaftler, der dafür bekannt ist, dass er jede Vorstellung von Dualität oder Pluralität innerhalb der Aufklärung ablehnt, betont zum Beispiel, dass »es im 18. Jahrhundert viele Philosophen gab, aber nur eine Aufklärung«. Gleichzeitig hat er mitunter beträchtliche Schwierigkeiten mit seinem ›unitarischen‹ Modell – so zum Beispiel, wenn er in der Einleitung überlegt, »was ein Konservativer wie Hume mit einem Demokraten wie Condorcet gemeinsam hat«,[2] und dabei unterschwellig mitschwingt, dass die Antwort ›ziemlich wenig‹ lauten muss.

Die Widersprüche des im 20. Jahrhundert allgemein akzeptierten Modells sind also bereits seit langem bekannt. Franco Venturi, der große italienische Aufklärungsforscher, der viel dazu beigetragen hat, dass die restliche Welt die Bedeutung der Entwicklungen in Italien im Verlauf des 18. Jahrhunderts zur Kenntnis nahm, ist sich der Spaltung der Aufklärungsbewegung in Monarchisten und Republikaner sehr bewusst, und der französische Historiker Paul Hazard hebt nicht nur die Bedeutung einer gewaltigen, destabilisierenden, intellektuellen Krise am Ende des 17. Jahrhunderts hervor, sondern er weist auch darauf hin, dass diese Krise hinsichtlich solcher Streitpunkte wie Religionsfreiheit, religiöse Autorität oder der grundlegenden Struktur der Realität zu großer Uneinigkeit unter den Philosophen geführt hat. Ira Wade, ehemaliger Professor für moderne Sprachen in Princeton, hat gezeigt, dass die klandestine philosophische Literatur im frühen 18. Jahrhundert in Frankreich und Holland in zahlreichen Manuskripten zirkulierte – was er eine »nachhaltige philosophische Aktivität« nennt, »die zwar im Geheimen, aber außerordentlich effektiv vonstatten ging«[3] – und dass diese Literatur philosophisch anders und sehr viel oppositioneller, religionsfeindlicher und libertinistischer (und deshalb nach dem Geschmack des Atheisten Baron d’Holbach) war als die offizielle Version der Aufklärung, wie sie sich in den frühen veröffentlich10ten Schriften von Voltaire und Montesquieu abzeichnete. Voltaire machte aus seiner tief empfundenen Bewunderung für Locke und Newton kein Geheimnis. Und auch Montesquieu war offen anglophil und empfahl die konstitutionelle Monarchie Englands mit ihrer sorgfältig austarierten Balance zwischen König, Adel und Volk als das erstrebenswerte Modell für Politik und Gesellschaftstheorie. »Der wichtigste Einfluss auf die Autoren« dieser philosophischen Untergrundliteratur, so schließt Wade im Hinblick auf die anonymen Schriften klandestiner Autoren wie Fontenelle, Du Marsais, Meslier und Lévesque de Burigny wie auch auf den berüchtigten Traité des trois imposteurs aus dem späten 17. Jahrhundert, »war jedoch der Einfluss Spinozas«.[4]

Tiefgreifender Dissens darüber, inwieweit die ›Vernunft‹ Kriterium für die Wahrheit sein kann und wie weit der Reformgeist vorangetrieben werden sollte, ist in der europäischen Aufklärung von Beginn an manifest. Der große französische Philosoph Pierre Bayle, ein in Holland lebender Protestant, versuchte in einer Reihe zwischen 1680 und seinem Tod veröffentlichten Schriften umfassende religiöse Toleranz zu etablieren, Glauben und Vernunft strikt zu trennen, und den Glauben aus der Diskussion gesellschaftlicher Probleme, aus der Politik – und sogar der Moral – so weit wie möglich herauszuhalten. Er sah sich deshalb in seinen letzten Lebensjahren in eine gewaltige Kontroverse mit allen anderen Wortführern der hugenottischen Frühaufklärung, mit Jean Le Clerc, Isaac Jaquelot, Jacques Bernard und Jean Barbeyrac, verstrickt, die alle insistierten, dass Bayles tolerantisme zu umfassend sei, zu indifférentisme führe, und dass Glaube und Vernunft nicht getrennt werden könnten und dürften. In Schriften wie der Continuation des Pensées diverses und Reponse aux questions d’un provincial widersprach Bayle hartnäckig der Ansicht, dass die christliche Religion ganz offensichtlich die vernünftigste Weltsicht sei, die der Mensch haben könne. Dies und seine Insistenz, dass Moral und religiöse Autorität zu trennen seien, so wie das, was einige Zeitgenossen als seinen Krypto-Spinozismus sahen, wurde von den meisten ›aufgeklärten‹ Wortführern aufs heftigste abgelehnt – genauso wie von konservativer Seite.

Der vielleicht deutlichste und wichtigste Unterschied zwischen 11dem Denken der Radikalaufklärung und der Philosophie von Locke, Newton, Leibniz, Voltaire und Hume besteht darin, dass ersteres für die Zukunft der Menschheit allein auf die ›Vernunft‹ setzt, die als einziger Weg zur Wahrheit gesehen wird, während in letzterer eine Art von...

Erscheint lt. Verlag 17.2.2014
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung Politische Theorie
ISBN-10 3-518-79811-1 / 3518798111
ISBN-13 978-3-518-79811-9 / 9783518798119
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