Das unmögliche Objekt (eBook)

Eine postfundamentalistische Theorie der Gesellschaft
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2013 | 1. Auflage
479 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-78700-7 (ISBN)

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Das unmögliche Objekt -  Oliver Marchart
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Im Anschluss an sein vielbeachtetes Buch Die politische Differenz legt Oliver Marchart nun die komplementäre Studie zum Begriff der Gesellschaft vor. Es gibt schlechterdings kein Konzept, das unter Sozialwissenschaftlern umstrittener wäre als der eigene Grundbegriff. Gilt er den einen als unverzichtbar, so halten ihn die anderen für überflüssig oder gar schädlich. Entlang der Kämpfe um dieses so notwendige wie unmögliche Objekt »Gesellschaft« präsentiert der Autor eine alternative Geschichte der Sozialwissenschaften von Durkheim bis in die Gegenwart. Zugleich wird erstmals eine systematische Zusammenschau der jüngsten »poststrukturalistischen« Sozialtheorien von Foucault über Latour bis Laclau geleistet. Vor diesem Hintergrund präsentiert das Buch ein engagiertes Plädoyer für die Neubelebung der Gesellschaftstheorie.



<p>Oliver Marchart, geboren 1968 in Wien, ist Philosoph und Soziologe. Seit 2016 wirkt er am Institut f&uuml;r Politikwissenschaft an der Universit&auml;t Wien.</p>

[Cover] 1
[Informationen zum Buch/Autor] 2
[Impressum] 4
[Inhalt] 5
Vorwort: No such thing 7
1. Einleitung: Gesellschaft ohne Grund? Postfundamentalistische Sozialtheorien zwischen Soziologie und Philosophie 15
I. Das Soziale und das Ding: vom Objektivismus zum Objekt 65
2. Gespenstischer Objektivismus Die »spektrale Soziologie« und das überzählige Ding: von Durkheim zu Derrida 67
3. Das Geheimnis dualistischer Gesellschaften und die Null-Institution Der Strukturalismus überholt sich selbst: von Lévi-Strauss zu Deleuze 93
4. Das Verschwinden der Gesellschaft in der Flut der Dinge Die Soziologie der Assoziationen: von Tarde zu Latour 129
5. Gesellschaft als paralogisches Objekt Der Widerstreit und die Extimität von Gesellschaft: Lyotard, Luhmann, Lacan 166
II. Die Negativität des Sozialen: vom agon zum Antagonismus 201
6. Kontingenz und Konflikt Konflikttheorie als Gesellschaftstheorie: Nietzsche, Simmel und die Konfliktsoziologen 203
7. Die Schlacht am Grund der Gesellschaft Zwischen Polemologie und Agonistik: von Weber zu Foucault 231
8. Gesellschaft als antagonistische Totalität Negativität im Neomarxismus: von Adorno zu Althusser 263
9. »Gesellschaft existiert nicht« – Figuren des Antagonismus Der Postmarxismus: von Bourdieu zu Laclau und Mouffe 298
III. Diesseits und jenseits von Gesellschaft Das Soziale und das Politische 331
10. Postfundamentalistische Sozialtheorien Die Hängung des Mobile: Totalität, Negativität, Ding 333
11. Die Seinsblockade des Sozialen Gesellschaftstheoretische Grundbegriffe: Macht, Staat, Hegemonie, Praxis 356
12. Panoramen der Gesellschaftskritik Zeitdiagnostische Konsequenzen: Prekarisierungsgesellschaft und Bewegungsgesellschaft 390
13. Vom Sozialen zum Politischen Die Entfaltung des Antagonismus: Theorie, Affekt, Protest 423
Literatur 451
Namenregister 475

151. Einleitung: Gesellschaft ohne Grund?
Postfundamentalistische Sozialtheorien zwischen Soziologie und Philosophie


1.1. Der gestrandete Wal: Die Monstrosität von Gesellschaft


Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ist die Gesellschaft. Aber um welche Art von Gegenstand handelt es sich hier? Die Sozialwissenschaften bieten auf diese Frage keine eindeutige Antwort; offenbar ist ihr Verhältnis zu dem Begriff überaus gespannt.[1] An ihm haftet etwas vom Odeur der Scharlatanerie, die achtbare Empiriker und selbst viele Sozialtheoretiker auf Distanz gehen lässt. Deshalb waren Sozialwissenschaftler, wie Bruno Latour anmerkt, immer schon bestrebt, ihre Untersuchungen aus dem Schatten der Gesellschaft zu rücken. Nur gelungen sei es ihnen nie. Obwohl sie immer wieder behauptet hätten, »daß Gesellschaft eine virtuelle Realität, eine cosa mentale, eine Hypostase, eine Fiktion sei«, hätten sie sich doch nur ihre eigene Nische eingerichtet in diesem »virtuellen und totalen Körper, von dem sie behaupteten, er existiere nicht wirklich«. Gesellschaft wurde zu etwas, »was stets als eine Fiktion kritisiert wurde und was gleichwohl immer da war als unüberschreitbarer Horizont aller Diskussionen über die soziale Welt« (Latour 2007: 282 f.). Gesellschaft wurde, mit anderen Worten, zu einem unmöglichen Objekt. Nun sei die Zeit gekommen, so Latour, dieses Objekt endgültig zu verabschieden:

Was immer die Lösung war, die Gesellschaft lag, gestrandet wie ein Wal, wie ein Leviathan, an einem Meeresstrand, wo liliputanische Sozialwissenschaftler versuchten, eine passende Bleibe für ihn zu graben. Seit kurzem ist der Gestank dieses verwesenden Monsters unerträglich geworden. Es gibt keine Möglichkeit, die Sozialtheorie zu erneuern, solange der Strand nicht gesäubert und der unselige Gesellschaftsbegriff nicht vollständig aufgelöst ist. (Ebd.: 283)

16Nun ist Latour, wie wir in Kapitel 4 sehen werden, in Wahrheit weit davon entfernt, den Gesellschaftsbegriff, wie hier angekündigt, aus seiner eigenen Sozialtheorie zu verbannen. Doch mit seinem Hang zu drastischen Formulierungen hat er ein deutliches Bild dieses Gegenstands gezeichnet, der im Regelbetrieb empirischer Sozialwissenschaften als ein überflüssiger Fremdkörper aufscheint. Als »gestrandeter Wal«, um bei Latours Metaphorik zu bleiben, ist Gesellschaft nämlich ein Ding anderer Natur und anderen Ausmaßes als alle positiv beschreibbaren Gegenstände des Sozialen. Zum Monster wird es zunächst aufgrund seiner bloßen Monumentalität und also seines Totalitätsanspruchs. Die Zeiten sind vorbei, in denen man mit einem solchen Großobjekt noch ungehindert operieren konnte. Latour begnügt sich allerdings nicht mit der Kritik am Totalitätsanspruch des Begriffs. In der Szene, die er beschreibt, verströmt Gesellschaft einen unerträglichen Gestank der Verwesung. Das Objekt stört und irritiert. Man gewinnt den Eindruck, Aasvögel würden bereits über ihm kreisen. Sein ekelerregender Zustand lässt die Sozialwissenschaft nach Abtransport rufen. Der Strand soll gesäubert, die Seuchengefahr gebannt, der geregelte normalwissenschaftliche Badebetrieb wieder aufgenommen werden.

Der Begriff der Gesellschaft, so das Fazit dieser Fabel, hat sich nach seinem Ableben nicht einfach in Luft aufgelöst. Ulrich Beck spricht von einer dem Erfahrungshorizont des 19. Jahrhunderts entstammenden »Zombie-Kategorie«, die als »lebend-tote« Kategorie nach wie vor herumspukt (Beck 2000: 16). Auch bei Latour macht sich ihr Kadaver unangenehm bemerkbar – und wir werden im Folgenden einige Hypothesen aufstellen, warum er das tut. Selbst für jene, die ihn verleugnen, gleicht er dem, was man im Englischen als »elephant in the room« bezeichnet. Ein Objekt enormen Ausmaßes, dessen Existenz ostentativ ignoriert wird, während ihm zugleich alle auszuweichen bemüht sind. Man fühlt sich an Margaret Thatchers Sinnspruch »There is no such thing as society« im politischen Diskurs erinnert, die damit ein Monster zu begraben aufruft, das doch angeblich gar nicht existiert. Bei solchen Formeln handelt es sich, wie wir sehen werden, um eine Art Exorzismus, das heißt um die spiritistische Beschwörung dessen, was man auszutreiben vorgibt. In dieser Hinsicht ist Latour der letzte in einer langen Reihe von Sozialwissenschaftlern, die sich an diesem Objekt stoßen; er ist aber nicht der erste, der auf dessen unheimlichen Charakter 17aufmerksam wird. Bereits in den 1920er Jahren hat Leopold von Wiese den Objektbereich seiner um Anerkennung kämpfenden Disziplin, die Gesellschaft, als ein »Ungeheuer und Riesenrätsel« bezeichnet (zitiert in Müller-Doohm 1991: 48).[2] Wenige Jahre zuvor hatte Max Scheler diagnostiziert, dass Gesellschaft – basierend auf vertragsförmigen Vereinbarungen – »nur der Rest, der Abfall ist, der sich bei den inneren Zersetzungsprozessen der Gemeinschaften ergibt« (Scheler 1978 [1912]: 106).[3] Die tönniessche Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft wird von Scheler so weit radikalisiert, dass Gesellschaft als bloßes Verfallsprodukt einer sich zersetzenden organischen Ganzheit erscheint. Verglichen mit dem Idealbild der verlorenen Gemeinschaft wird Gesellschaft zum Abjekt im Sinne Kristevas (1980), zu einem Ekel oder gar Schrecken auslösenden Gegenstand (das noch harmloseste Beispiel Kristevas für ein Abjekt ist die Haut auf der Milch).

Dieses Abjekt Gesellschaft hat immer wieder, wenn nicht Ekel oder Schrecken, so doch Irritationen hervorgerufen. Etwas näher an unserer Zeit treffen wir auf Ralf Dahrendorf, der es in Anlehnung an Durkheim wiederholt mit der Formel vom »Ärgernis der Tatsache der Gesellschaft« belegt (Dahrendorf 1974: 48; vgl. die Kapitel 2 und 7 in diesem Band). Im Alltag erfahren wir unsere soziale Umwelt nicht immer als stabil und verlässlich. Allzu oft stößt unsere Primärerfahrung an etwas Widerständiges: »Gesellschaft ist so allgegenwärtig und zugleich so resistent, daß wir uns ständig an ihr stoßen und reiben« (Dahrendorf 1974: 50). Sie setzt uns im Alltag Grenzen, wie etwa Grenzen der sozialen Mobilität, die erst zu Bewusstsein kommen, sobald wir sie erfolglos überschreiten wollen. Die soziologische Analyse müsse an genau dieser Primärerfahrung der »ärgerlichen Tatsache« namens Gesellschaft anknüpfen:

18[I]mmer sind es soziale Widerstände, die zwischen uns und die Verwirklichung unserer Wünsche treten: die Tatsache der Gesellschaft als Ärgernis. Dies ist keine Floskel. Gesellschaft ist nicht darum schon Ärgernis, weil wir uns gelegentlich über sie ärgern oder weil ihre Normen uns unbequem sind. Gesellschaft ist Ärgernis, weil sie uns zwar durch ihre Wirklichkeit entlastet und vielleicht überhaupt erst die Ausdrucksmöglichkeiten des Lebens gibt, weil sie aber andererseits uns stets und überall mit unüberschreitbaren Wällen umgibt, in denen wir uns einrichten, die wir bunt bemalen und bei geschlossenen Augen fortdenken können, die jedoch unverrückbar stehen bleiben. Gesellschaft ist eine ärgerliche Tatsache, weil wir an sie anrennen wie an eine Mauer – und dies nicht aus Starrköpfigkeit oder Dummheit, sondern im normalen Gang des Lebens. Ihre Unausweichlichkeit macht die Tatsache der Gesellschaft zum Ärgernis. (Ebd.: 50)

Es ist erstaunlich, dass Soziologie und Sozialtheorie kaum Augenmerk darauf gelegt haben, dass sich die von Durkheim bis Dahrendorf immer schon beschriebene Primärerfahrung der Resistenz des Sozialen innerhalb der Sozialwissenschaften an deren Gegenstand wiederholt. Der theoretische Begriff Gesellschaft – ein »verwesendes Monster« – löst nämlich in der Soziologie kaum geringere Irritationen aus als die »ärgerliche Tatsache« der Gesellschaft in unserem Alltagserleben. Niemals konnte sich ein Konsens darüber etablieren, ob die Soziologie überhaupt ein Konzept von Gesellschaft benötigt. Kaum ein soziologischer Begriff, der auf schwächeren Beinen stünde als ihr Grundbegriff. Die Klassiker Weber und Simmel kommen weitgehend ohne ihn aus. Für Sozialphänomenologie, symbolischen Interaktionismus, Ethnomethodologie oder andere Formen der Mikrosoziologie ist Gesellschaft allenfalls ein peripheres Konzept, da das Soziale »von unten« her durch eine Unzahl einzelner Interaktionen aufgebaut ist und sich nie zu einem überwölbenden Kollektivbewusstsein à la Durkheim totalisieren kann.[4] Für die »Neo-Positivisten« der 1960er Jahre ist Gesellschaft ein Konzept, das sich nicht zweckmäßig abgrenzen lässt, in einer empirischen Einzelwissenschaft folglich nichts verloren hat und bestenfalls Sozialphilosophen überlassen werden kann (Scheuch 1969). Gegen Hans Albert, René König und Helmut Schelsky ver19wies die kritische Theorie freilich auf die Unentbehrlichkeit des Konzepts. Doch als »antagonistische Totalität«, wie von Adorno theoretisch gefasst, hält sich Gesellschaft nur durch ihre Widersprüche hindurch am Leben und ist nie anders greifbar als in den Entfremdungserfahrungen, die ähnlich auch Durkheim und Dahrendorf beschreiben.

Es hat sich somit als schwierig, wenn nicht unmöglich erwiesen, das irritierende Ding Gesellschaft sozialtheoretisch auf den Begriff zu bringen. Während die einen dessen Notwendigkeit schlicht abstritten, konnten die anderen den Begriff nur um den Preis seiner Paradoxierung zentral stellen. Denn der Begriff der »antagonistischen Totalität« ist letztlich eine paradoxe, ihre paradoxale Struktur als »dialektisch« missverstehende (und damit deparadoxierende) Formel, und wir werden einer Vielzahl weiterer paradoxer Formeln begegnen, da...

Erscheint lt. Verlag 21.10.2013
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Sozialwissenschaften Soziologie Allgemeine Soziologie
Schlagworte Begriff • Gesellschaft • Soziologische Theorie • STW 2055 • STW2055 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2055
ISBN-10 3-518-78700-4 / 3518787004
ISBN-13 978-3-518-78700-7 / 9783518787007
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