Klio dichtet nicht
Edward Gibbon, Barthold Georg Niebuhr, Johann Gustav Droysen, George Grote, Theodor Mommsen - die heute noch imposanten Werke dieser berühmten Althistoriker repräsentieren die auf Quellenkritik gründende Verwissenschaftlichung, die sich seit dem späten 18. Jahrhundert im Umgang mit der Vergangenheit durchsetzte. Dies ging von der Beschäftigung mit der griechisch- römischen Kultur aus und prägte später die gesamte Geschichts- und auch die Sozialwissenschaft, wie die Beispiele von Karl Marx und Max Weber zeigen. Dieses Buch rekonstruiert die Herausbildung einer Leitdisziplin anhand der Werke herausragender Gelehrter.
Wilfried Nippel ist Professor für Alte Geschichte an der HU Berlin.
Inhalt
Einleitung 7
Unterschätzte Ahnen: Forschungen zur römischen Geschichte zwischen Humanismus und Aufklärung14
Ein Autodidakt revolutioniert die Geschichtsschreibung: Edward Gibbon und das Römische Reich35
Das Glaubensbekenntnis des Historikers: Edward Gibbon, das antike Christentum und die Anglikanische Kirche62
Barthold Georg Niebuhr - ein schwieriger Gründervater93
Von den ›Altertümern‹ zur ›Kulturgeschichte‹134
›Hellenismus‹ von Droysen bis Harnack - Eine uneingelöste Ankündigung und interdisziplinäre Missverständnisse149
Historiographie und politisches Engagement - Droysen im Vergleich mit Grote und Palacký177
Der "antiquarische Bauplatz" - Theodor Mommsens Römisches Staatsrecht235
Die Unproduktivität der Sklaverei: Christen, Nationalökonomen, Marx und Weber278
Literatur317
Verzeichnis früherer Publikationen393
Namensregister395
Einleitung In den 1970er Jahren sah sich die Geschichtswissenschaft durch die Thesen des amerikanischen Literaturhistorikers Hayden White herausgefordert, der Geschichtsschreibung als eine Form der Narration verstand, die sich auf eine begrenzte Zahl rhetorischer Muster reduzieren lasse. In Deutschland fand die Debatte über Whites Thesen mit Zeitverzögerung statt. Seine Sammlung theoretischer Aufsätze, Tropics of Discourse (1978), war 1986 in deutscher Fassung mit dem Haupttitel, Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen, erschienen; seine Monographie Metahistory von 1973, in der er seine Thesen auf große Historiker und Geschichtsphilosophen des 19. Jahrhunderts angewendet hatte, erschien in deutscher Übersetzung erst 1991. Obwohl niemand bestritt, dass Historiographie, jedenfalls soweit Geschichte erzählt wird, auch eine Literaturgattung ist und mit den gewählten Erzählstrategien auch bestimmte Interpretationen vermittelt werden, war man sich doch schnell einig, dass es das Ende von Geschichtswissenschaft wäre, wenn der Anspruch aufgegeben würde, dass es um eine auf Quellen gegründete, intersubjektiv nachvollziehbare Rekonstruktion von Vergangenheit gehen müsse. Frappierend war, dass sich White, da jeglicher historischer Forschungspraxis abhold, als unfähig erwiesen hatte, die von ihm behandelten Geschichtswerke wirklich zu analysieren, so dass sich die vorgenommene Zuordnung zu den Darstellungsformen "romantisch/tragisch/komisch/satirisch" als intellektuelles Spiel ohne Erkenntniswert herausstellte. Georg G. Iggers hat 2001 an Whites Behandlung von Ranke kritisiert, dass dieser sich lediglich auf einige Vorworte und andere programmatische Äußerungen konzentriert, Rankes zahlreiche Geschichtswerke über Papsttum und Reformation, französische, englische, preußische Geschichte etc. aber ignoriert habe. Hätte er das getan, wäre deutlich geworden, so Iggers, dass Ranke trotz seiner beteuerten Unparteilichkeit ständig politisch motivierte Urteile abgebe. Dies von Iggers zu lesen, entbehrt im Hinblick auf dessen eigene historiographiegeschichtliche Arbeiten nicht einer gewissen Komik. Sein Buch über die deutsche Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts war in den 1970er Jahren ein großer Erfolg gewesen. Es war eine Variante der ›von Luther/Hegel/beliebiger Name bis Hitler‹-Literatur, ein Sündenregister der chauvinistischen, antidemokratischen, antisemitischen etc. Positionen, die deutsche Historiker vertreten hatten (und gewiss auch der rühmlichen Gegenbeispiele). Dass ihn letztlich nur die politischen Ansichten der Historiker interessieren, hat Iggers dann noch einmal in seiner Kritik an White offenbart. ›Deutsche Geschichtswissenschaft‹ wird bei Iggers auf Werke reduziert, die deutsche Historiker mit politischen Intentionen über deutsche Geschichte geschrieben haben. So wird zum Beispiel Heinrich von Sybel ausführlich behandelt, dessen Geschichte der Revolutionszeit jedoch nur am Rande erwähnt. Sybels Betonung der verheerenden Folgen protosozialistischer Bewegungen in der Französischen Revolution reflektierte die Furcht vor der sozialen Revolution, die 1848 neue Nahrung in der Angst vor der ›roten Republik‹ gefunden hatte. Aber Sybel hatte eine Vielzahl unpublizierter Materialien benutzt und als einer der ersten die Aktenbestände des ›Wohlfahrtsausschusses‹ ausgewertet. Deshalb mussten sich auch französische Historiker, die seine Bewertung der Revolution überhaupt nicht teilten, mit ihm auseinandersetzen; dass das Werk eines Deutschen zur Revolution 1869 auch in französischer Übersetzung erschien, unterstreicht dies noch einmal. In dieser ›deutschen Geschichtswissenschaft‹ kommen auch Mediävis-ten und Althistoriker nicht vor. Georg Waitz, dessen Seminare in Göttingen von Studenten aus ganz Europa und Übersee besucht wurden, wird nicht erwähnt. Die ausländischen Historiker, die gerade nach der Reichsgründung nach Deutschland und speziell Berlin kamen, waren nicht von dem Wunsch beseelt, dabei zu sein, wie die "ganze Weltgeschichte von Adam an siegesdeutsch angestrichen" wurde, sondern sie wollten sich bei Koryphäen methodisch schulen lassen und/oder sich mit der Ausbildung in historischen Seminaren als mögliche Vorbilder für ihre eigenen Universitäten vertraut machen. Theodor Mommsen kommt bei Iggers nur als politisch engagierter In-tellektueller vor, Eduard Meyer wird einmal wegen seiner Weltkriegspublizistik erwähnt. Wie Arnaldo Momigliano einmal lakonisch bemerkt hat, ist es leichter, Meyers politische Pamphlete zu kritisieren, als seine Auswertung der Papyrusfunde von Elephantine nachzuvollziehen. Die folgenden Untersuchungen gehen von der - eigentlich banalen - Prämisse aus, dass es nicht darauf ankommt, was Historiker über ihre eigene Arbeit sagen, sondern zu analysieren, wie tatsächlich der Weg von den Fragestellungen und Vorannahmen über die Quellenanalyse zur Darstellung verlaufen ist. Dafür kann man sich nicht auf die Auslegung von Vorworten und anderen programmatischen Äußerungen beschränken, wie dies zum Beispiel in den Fällen von Ranke oder Droysen so oft der Fall war. Bei Ranke wurden aus Aperçus über Objektivität als regulative Idee ("wie es eigentlich gewesen", oder: "ich möchte mein Selbst auslöschen") eine ›Geschichtstheorie‹ abgeleitet, die als entweder naiv oder irreführend qualifiziert wurde (siehe Iggers); und Droysen wurde eine Kulturgeschichte des Hellenismus unterstellt, die dann zu einem der wichtigsten nie geschriebenen Werke in der Geschichte der Geschichtswissenschaft avancierte. Die Selbstzeugnisse in Form von Briefen, die im Regelfall zu Lebzeiten der Verfasser nur einem kleinen Adressatenkreis bekannt waren, sind hinsichtlich ihrer (intellektuellen) Biographien einschlägig, besagen meistens aber nur bedingt etwas darüber, wie die jeweiligen Werke im Forschungsdiskurs ihrer Zeit anzusiedeln sind. Wichtiger sind hierfür im Regelfall die unmittelbaren Reaktionen von Zeitgenossen, wie sie sich in Rezensionen oder anderen sofortigen Stellungnahmen ausweisen. Es gilt dann, die möglichen Diskrepanzen zwischen dem zeitgenössischen Echo und den späteren Einschätzungen durch die Fachwissenschaft zu erklären. Geschichtswissenschaft besteht nicht nur oder in erster Linie aus erzählender Geschichtsschreibung, sondern aus Forschung, die sich in Quelleneditionen, Detailuntersuchungen, systematischen Handbüchern usw. ausweist. Das Verhältnis von ›historischer‹ und ›antiquarischer‹ Methode (Momigliano) ist ein Leitmotiv dieses Buches. In der historiographi-schen Praxis kann damit sehr unterschiedlich umgegangen werden. Während Gibbon in Decline and Fall of the Roman Empire seine Verarbeitung einer reichen antiquarischen Literatur ostentativ ausgewiesen hat, fand Theodor Mommsen, dass seine Römische Geschichte nicht der Ort sei, darzulegen, wie er zu seinen Ergebnissen gekommen ist. Damit ist zugleich darauf verwiesen, dass die Fortschritte der deutschen Altertums- und Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, die ihr eine internationale Spitzenstellung sicherten, nicht, wie es einem gern gepflegten Selbstbild entspricht, überhaupt erst den wissenschaftlichen Umgang mit den Zeugnissen der Vergangenheit begründet haben, sondern vor dem Hintergrund einer viel älteren Tradition zu sehen sind. Wenn im Folgenden von ›der Althistorie‹ die Rede ist, muss bedacht werden, dass es (noch) nicht um eine institutionell eigenständige Disziplin geht, sondern nur um den Gegenstand des wissenschaftlichen Interesses, das Männern mit vielfältigen öffentlichen Rollen gemein war. Da gibt es den Typus des Privatgelehrten (Gibbon) ebenso wie den des Politiker-Historikers in den unterschiedlichen Ausprägungen von Niebuhr und Grote. Selbst bei den Universitätsprofessoren ist Mommsen als Professor für Römische Geschichte und Altertumskunde in Berlin (ab 1861) eine Ausnahme, und dies auch erst in einem neuen Karriereabschnitt, nachdem er zuvor Professuren für Römisches Recht bekleidet hatte. Dagegen hat Droysen in Kiel, Jena und Berlin Professuren für Geschichte bekleidet und - wie viele andere im 19. Jahrhundert - gleichermaßen über Alte und Neue Geschichte gelehrt und geforscht. Die Antike war immer Forschungsgegenstand von Gelehrten verschie-dener Fachrichtungen, Philologen, Historikern, Rechtswissenschaftlern, Theologen und Philosophen. Das gilt im 18. und 19. Jahrhundert selbst-verständlich auch für Wissenschaftler, die man pauschal (und zum Teil anachronistisch) als historisch orientierte Nationalökonomen bezeichnen kann. Wenn auch, wie hier an den Beispielen der Diskussion über antike Sklaverei von David Hume und Adam Smith bis zu Karl Marx und Max Weber gezeigt wird, bei ihnen ein spezifisches Gegenwartsinteresse domi-niert, so kommen doch auch sie nicht umhin, sich mit der antiken Überlieferung auseinanderzusetzen. Die biographischen Aspekte werden in den folgenden Kapiteln in un-terschiedlicher Ausführlichkeit berücksichtigt. Das spiegelt meine Einschätzung ihrer variierenden Bedeutung für das wissenschaftliche Werk (oder für dessen althistorisch einschlägigen Teil) wider. Niebuhrs Wissenschaft lässt sich am besten aus seinem lebenslangen Schwanken zwischen den Rollen des ›Geschäftsmanns‹ und des Forschers erklären; Mommsens Rollen als Forscher einerseits, als Intellektueller und Honoratiorenpolitiker andererseits lassen sich, ungeachtet aller Überlappungen in der öffentlichen Wahrnehmung, manchmal vielleicht auch in der Selbstwahrnehmung, durchaus voneinander trennen. Gewiss geht es bei diesen Untersuchungen auch immer um die Frage, ob und wie die Autoren eine politische Botschaft verkünden wollen und wie sie, auch wenn dies nicht ihre erklärte Absicht ist, beim Umgang mit den Quellen von außerwissenschaftlich begründeten Erfahrungen, Wertvorstellungen und Zielen geleitet werden. Aber aufschlussreich wird dies erst, wenn man zeigen kann, wie sich das auf den Umgang mit der Überlieferung auswirkt. Der Charme (manchmal auch die Frustration) bei der Erforschung der griechisch-römischen Antike besteht bekanntlich darin, dass sich alle, jedenfalls hinsichtlich der literarischen Quellen, auf den gleichen Quellenbestand beziehen, der über die Jahrhunderte einen nur geringen Zuwachs erfahren hat. Das bedeutet auch, dass kein Forscher seine Argumente auf faktisches Exklusivwissen gründen konnte, so wie es in der Mittleren und Neueren Geschichte der Fall war, seitdem Historiker Archivbestände auswerteten und andere ihre Befunde nur dann im Detail hätten überprüfen können, wenn sie die gleiche Arbeit noch einmal gemacht hätten; oder wenn es sich sogar um Arkanwissen handelte, weil der betreffende Historiker privilegierten oder exklusiven Zugang zu Materialien hatte, der anderen verwehrt war. Die Argumentation mit antiken (literarischen) Quellen kann dagegen jeder Interessierte mit einem einfachen Griff ins Bücherregal einer Bibliothek oder im eigenen Arbeitszimmer überprüfen.
Erscheint lt. Verlag | 7.11.2013 |
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Reihe/Serie | Campus Historische Studien ; 69 |
Verlagsort | Frankfurt |
Sprache | deutsch |
Maße | 141 x 214 mm |
Gewicht | 495 g |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Geschichte ► Allgemeines / Lexika |
Sozialwissenschaften ► Pädagogik ► Allgemeines / Lexika | |
Schlagworte | Adolf von Harnack • Alte Geschichte • Altertum • Althistorie • Antike • Aufsatz • Aufsätze • Barthold Georg Niebuhr • Christentum • Edward Gibbon • Elisabeth Charlotte Welskopf • Forschungen • Griechische Antike • Gustav Droysen • Hellenismus • klio • Max Weber • römische Antike • Theodor Mommsen • Universalgeschichte • Wissenschaftsgeschichte |
ISBN-10 | 3-593-39954-7 / 3593399547 |
ISBN-13 | 978-3-593-39954-6 / 9783593399546 |
Zustand | Neuware |
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