Die politische Differenz (eBook)

Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben
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2013 | 1. Auflage
391 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73287-8 (ISBN)

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Die politische Differenz -  Oliver Marchart
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Kaum ein Begriff wird derzeit heftiger diskutiert als der des Politischen, der im starken Kontrast zu dem steht, was gemeinhin unter »Politik« verstanden wird. Oliver Marchart legt nun den ersten systematischen Vergleich der Denker des Politischen vor. Er unterzieht die Schriften von Jean-Luc Nancy, Claude Lefort, Alain Badiou, Ernesto Laclau und Giorgio Agamben einer kritischen Analyse, verortet sie in den breiteren Strömungen eines Linksheideggerianismus und bezieht sie auf den systematischen Horizont eines Denkens ohne Letztbegründungen. In diesem Horizont zeigen sich die philosophischen, politischen und ethischen Implikationen eines Denkens der politischen Differenz: die heutige Rolle politischer Ontologie, die Möglichkeiten einer »minimalen Politik« und eine demokratische Ethik der Selbstentfremdung.

<p>Oliver Marchart, geboren 1968 in Wien, ist Philosoph und Soziologe. Seit 2016 wirkt er am Institut f&uuml;r Politikwissenschaft an der Universit&auml;t Wien.</p>

Cover 1
Informationen zum Buch/zum Autor 2
Impressum 4
Inhalt 5
Vorwort 7
I. Grundlagen des Postfundamentalismus 11
1. Einleitung: Auf dem abwesenden Grund des Sozialen 13
2. Politik und das Politische: Genealogie einer konzeptuellen Differenz 32
3. Ein Heideggerianismus der Linken? Postfundamentalismus und notwendige Kontingenz 59
II. Spielformen der politischen Differenz 85
4. Der Entzug des Politischen: Jean-Luc Nancy 87
5. Die doppelte Teilung der Gesellschaft: Claude Lefort 118
6. Der Staat und die Politik der Wahrheit: Alain Badiou 152
Exkurs zu Jacques Rancière:Die Polizei und die Politik der Gleichheit 178
7. Das Politische und die Unmöglichkeitvon Gesellschaft: Ernesto Laclau 185
8. Politische Differenz ohne Politik:Giorgio Agamben 221
III. Konsequenzen eines non sequitur 243
9. Politische Ontologie: prima philosophiades Postfundamentalismus 245
10. Minimale Politik:Bedingungen geringsten Handelns 289
11. Demokratische Ethik: Die Selbstentfremdungdes Sozialen 329
Bibliographie 366
Namenregister 387

13Kapitel 1
Einleitung: Auf dem abwesenden Grund des Sozialen


1.1. Die Erfindung des Politischen


Im Jahr 2001 übernahm Pierre Rosanvallon, ein früherer Schüler Claude Leforts, einen der »modernen und gegenwärtigen Geschichte des Politischen« gewidmeten Lehrstuhl am Collège de France. Des Politischen, so betonte Rosanvallon in seiner Inauguralrede, in ausdrücklicher Unterscheidung von der Politik: »Indem ich substantivisch von dem Politischen [du politique] spreche, qualifiziere ich damit sowohl eine Modalität der Existenz des gemeinsamen Lebens als auch eine Form kollektiven Handelns, die sich implizit von der Ausübung der Politik unterscheidet. Sich auf das Politische und nicht auf die Politik beziehen, d. h. von Macht und von Gesetz, vom Staat und der Nation, von der Gleichheit und der Gerechtigkeit, von der Identität und der Differenz, von der citoyenneté und Zivilität, kurzum: heißt von allem sprechen, was ein Gemeinwesen jenseits unmittelbarer parteilicher Konkurrenz um die Ausübung von Macht, tagtäglichen Regierungshandelns und des gewöhnlichen Lebens der Institutionen konstituiert« (Rosanvallon 2003: 14 [Wenn nicht anders in der Bibliographie angegeben, stammen alle Übersetzungen von O. M.]).

Damit erwies sich eine konzeptuelle Differenzierung zwischen la politique und le politique bzw. zwischen derPolitik und dem Politischen als endgültig kanonisiert, die in den letzten Jahrzehnten in der politischen Theorie und Philosophie Fuß gefasst hatte. Im deutschen Sprachraum wurde sie von zwei der bedeutendsten historischen Wörterbücher schon seit vielen Jahren registriert (Sellin 1978; Vollrath 1989); inzwischen ging sie auf die eine oder andere Weise in Einführungen in die Politik ein (Meyer 2000, auch Meyer 1994). Sie wurde zu Zwecken der Sozialanalyse produktiv gemacht (Negt/Kluge 1992; Beck 1993) und wird derzeit erneut aufgegriffen (Bedorf/Röttgers 2010; Bröckling/Feustel 2010; Buden 2009). Auch in der englischsprachigen Welt wurde the political in Differenz zu politics zu einem durchaus geläufigen theoretischen Terminus (Beardsworth 1996; Dillon 1996; Stavrakakis 1999; Arditi/Valentine 141999; Williams 2000). Es kann aber kein Zweifel daran bestehen, dass die Differenz zwischen Politik und dem Politischen ihre maßgebliche Ausarbeitung im französischen Denken erfuhr. Bereits 1957 wurde sie mit Paul Ricœurs Aufsatz »Das politische Paradox« eingeführt (siehe Kapitel 2) und in den 1980er Jahren von Jean-Luc Nancy und Philippe Lacoue-Labarthe an deren Centrede recherches philosophiques sur le politique aufgenommen, von wo aus sie weitere Philosophen wie Claude Lefort, Alain Badiou und Jacques Rancière motivierte, ihre politischen Theorien in Begriffen der Differenz von la und le politique zu reformulieren oder zumindest mit dieser kritisch abzugleichen.

Natürlich produzieren diese Theoretiker – hinzuzufügen wären Ernesto Laclau, Chantal Mouffe, Giorgio Agamben, Roberto Esposito und viele andere – eine große Bandbreite an Spielformen des Begriffs des Politischen. Die unterschiedlichen Spielformen werden nicht durch einen übergeordneten Rahmen zusammengehalten, sondern eher durch Familienähnlichkeiten, die von der gemeinsamen Distanz gegenüber dem landläufigen Politikverständnis bestimmt sind. Die folgende Untersuchung stellt nicht zuletzt einen Versuch dar, diese Familienähnlichkeiten und die theoretische Konstellation, der sie entstammen, etwas systematischer zu erfassen. Im zweiten Kapitel werden wir einen kurzen Abriss der Begriffsgeschichte des Politischen geben. Dabei wird sich zeigen, dass zumindest zwei Traditionslinien – eine auf Carl Schmitt und eine auf Hannah Arendt zurückgehende – unterschieden werden müssen. In den in Teil II versammelten Kapiteln wird dann die Konstellation aktueller Theoretiker des Politischen vorgestellt – darunter Nancy, Lefort, Badiou, Rancière, Laclau und Agamben. Zwar greifen diese gelegentlich auf schmittianische oder arendtianische Denkfiguren zurück, sie bilden aber doch eine eigenständige, im Rahmen der französischen Heidegger-Rezeption situierte Traditionslinie.

Die vergleichende Darstellung dieser Theorien ist zweifelsohne hilfreich, um den Familienähnlichkeiten im Begriff des Politischen auf die Spur zu kommen. Es würde aber nicht ausreichen, verschiedene Begriffsdefinitionen einfach nur aneinanderzureihen. Was man mit Heidegger die »Grundfrage«[1] dieses Denkens nennen 15muss, erfordert einen etwas riskanteren Schritt: Nicht nur soll die konzeptuelle Genealogie des Begriffs des Politischen nachgezeichnet werden, darüber hinaus soll nach dem Grund seiner ursprünglichen Ablösung von jenem der Politik (bzw. des Sozialen) gefragt werden. Warum erweist sich »Politik«, als ein alleinstehendes Konzept, unter Bedingungen aktueller Theoriebildung als unzureichend und muss um einen weiteren Begriff ergänzt werden?

Unserer Hypothese nach verweist die politische Differenz, und als solche soll die Differenz zwischen der Politik und dem Politischen im Folgenden bezeichnet werden, symptomatisch auf die Krise des fundamentalistischen Denkhorizonts. Unter Fundamentalismus (foundationalism) sind besonders jene Positionen zu verstehen, die von fundamentalen, d. h. revisionsresistenten Prinzipien, Gesetzen oder objektiven Realitäten ausgehen, die jedem sozialen oder politischen Zugriff entzogen sind. Ein einst wirkmächtiges Beispiel ist der ökonomische Determinismus, also die Annahme ökonomisch bestimmter historischer Entwicklungsgesetze, wie sie von Teilen der marxistischen Tradition verfochten wurde. Letztbegründungsphilosophien und -wissenschaften dieser Art gelten heute als ausgestorben. Doch man darf sich nicht täuschen. Der Fundamentalismus lebt in vielen Ansätzen fort – man denke nur an den Neoliberalismus und dessen Behauptung von den unabänderlichen Naturgesetzen des Marktes oder an all die hochsubventionierten Versuche, soziale und psychologische Identitätsmerkmale in den menschlichen Genen aufzuspüren. Es wäre also ein wenig verfrüht, im wissenschaftlichen und theoretischen Fundamentalismus ein Relikt der Vergangenheit zu vermuten – ganz zu schweigen von den politischen Neo-Fundamentalismen, die alles daransetzen, Gesellschaft wieder auf unwandelbare Prinzipien zu gründen.

Und doch bleibt kein Grundlegungsversuch unhinterfragt. Dem Fundamentalismus macht ein Phänomen zu schaffen, das Claude Lefort mit dem Wort von der Auflösung der »Grundlagen aller Gewißheit« (Lefort 1990a: 296) treffend kennzeichnet. Kein gesellschaftlicher Akteur ist heute in der Lage, ein bestimmtes Zeichen der Gewissheit zum positiven Fundament des Sozialen, der Politik oder des Denkens zu erheben. Was daher an den Bruchstellen des 16fundamentalistischen Horizonts sichtbar wird, ist jenes Denken des Postfundamentalismus, das im Zentrum unserer Untersuchung steht.[2] Unter Postfundamentalismus wollen wir einen Prozess unabschließbarer Infragestellung metaphysischer Figuren der Fundierung und Letztbegründung verstehen – Figuren wie Totalität, Universalität, Substanz, Essenz, Subjekt oder Struktur, aber auch Markt, Gene, Geschlecht, Hautfarbe, kulturelle Identität, Staat, Nation etc.

Wie in Kapitel 3 ausgeführt wird, erweist sich der Postfundamentalismus aber nicht einfach als Gegenparadigma zum Fundamentalismus (dann würde es sich um einen bloßen Antifundamentalismus handeln). Wenn sich der Postfundamentalismus als neuer Horizont eröffnet, so nur in Form eines sich ausdehnenden Randes des fundamentalistischen Horizonts (Schürmann 1990: 4). Und zwar deshalb, weil im postfundamentalistischen Denken die Notwendigkeit (partieller) Gründungen nicht rundheraus bestritten wird. Eher arbeitet man mit der Hypothese von der Abwesenheit einesletzten, nicht einesjeden Grundes. In keiner Weise wird von den Postfundamentalisten, die wir im Folgenden diskutieren, also behauptet, wir lebten in Gesellschaften, die aller Fundamente verlustig gegangen wären – das unterscheidet deren Ansätze von einem inzwischen etwas aus der Mode gekommenen anything goes-Postmodernismus oder von Simulationstheorien à la Baudrillard. Bestritten wird die Möglichkeit von Letztbegründungen, nicht die Notwendigkeit partieller und immer nur vorläufiger Gründungsversuche. Nicht zu Unrecht spricht Judith Butler (Butler 1992) daher von contingent foundations – d. h. von einer Vielzahl kontingenter, umkämpfter und früher oder später scheiternder Versuche, das Soziale mit Fundamenten zu versehen.

Man sieht bereits, dass der Postfundamentalismus die im weitesten Sinne politische Dimension des Sozialen in den Vordergrund rückt. Nicht alle sozialen Fundamente haben sich in Luft aufgelöst, so die postfundamentalistische These, sondern der Geltungsanspruch eines jeden Fundaments ist umkämpft und steht prinzipiell zur Disposition. Er kann nur hervorgehen aus dem unabstellbaren Spiel konkurrierender Gründungsversuche. Damit bleibt die Di17mension der Gründung selbst dort noch präsent, wo ein letzter Grund abwesend ist. Ja, mit einer für das postfundamentalistische Denken typischen Volte muss man sogar sagen: Nur unter der notwendigen Bedingung der Abwesenheit eines letzen Grundes werden überhaupt plurale und partielle Gründungsversuche möglich. So gesehen bleibt im postfundamentalistischen Denken der »Grund« anwesend in Form notwendiger Abwesenheit (wir werden dieses Argument in Kapitel 3 ausführen). Oder wie Lefort und Gauchet in erkennbar heideggerianischer Terminologie...

Erscheint lt. Verlag 15.4.2013
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Demokratie • Politisches Denken • Politische Systeme • STW 1956 • STW1956 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1956
ISBN-10 3-518-73287-0 / 3518732870
ISBN-13 978-3-518-73287-8 / 9783518732878
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