Geständnisse eines Küchenchefs (eBook)
352 Seiten
Blessing (Verlag)
978-3-641-10620-1 (ISBN)
Montags keine Meeresfrüchte! Das ist noch eine der harmloseren Gefahren, auf die Anthony Bourdain in seinen gnadenlosen, abgründig witzigen Memoiren hinweist. Von der Strandkneipe bis zum Nobelrestaurant hat er alles durchlebt, was diese wahrhaft heiße Szene zu bieten hat. Ein unvergesslicher Blick hinter die Küchentür und eine abenteuerliche Reise in die dunklen Gefilde der kulinarischen Welt.
Anthony Bourdain, geboren 1956 in New York, gelang mit seinem autobiografisch durchwirkten Buch 'Geständnisse eines Küchenchefs' ein Welterfolg, danach legte er u.a. 'Ein Küchenchef reist um die Welt' und 'So koche ich' vor - zuletzt bei Blessing 'Ein bisschen blutig' (2010). Mit drei Jahren konnte er lesen, mit sechs hörte er Miles Davis, mit zwölf rauchte er seinen ersten Joint. Seit seinem 17. Lebensjahr arbeitete Bourdain in der Küche. Er studierte am College von Vassar und absolvierte seine Fachausbildung am Culinary Institute of America (CIA). Rund zehn Jahre lang führte er die Brasserie Les Halles in New York. Seine Fernsehserien 'A Cook's Tour' und 'Eine Frage des Geschmacks' fanden in vielen Ländern großen Anklang. Anthony Bourdain starb im Juni 2018.
Meine erste Ahnung, dass Essen etwas anderes sein kann als eine Substanz, die man sich bei Hunger reinstopft – wie Tanken an einer Tankstelle –, kam nach der vierten Klasse Grundschule. Es passierte auf einer Ferienreise der Familie nach Europa, auf der Queen Mary, im Speisesaal zweiter Klasse. Irgendwo gibt es ein Foto: Meine Mutter mit ihrer Jackie-O-Sonnenbrille, mein jüngerer Bruder und ich in unseren krampfhaft niedlichen Kreuzfahrt-Outfits, alle ganz aufgeregt über unsere erste Fahrt nach Übersee, unsere erste Reise in die Heimat der Ahnen meines Vaters, Frankreich.
Es war die Suppe.
Sie war kalt.
Für einen neugierigen Viertklässler, dessen gesamte Suppenerfahrung sich bis dato auf Campbell’s Tomatencreme und Nudelsuppe mit Huhn beschränkte, war das eine ungeheure Entdeckung. Ich hatte schon in Restaurants gegessen, klar, aber das war das erste Essen, das ich wirklich registrierte. Es war das erste Essen, das ich genoss und, noch wichtiger, dessen Genuss mir im Gedächtnis blieb. Ich fragte unseren geduldigen englischen Kellner, was das denn für eine köstliche, kühle, leckere Flüssigkeit wäre.
»Vichyssoise« war die Antwort, ein Wort, das bis zum heutigen Tag einen magischen Klang hat – obwohl das inzwischen ein müder alter Gaul von Menügericht ist, das ich ein paar tausend Mal zubereitet habe. Ich kann mich an jede Einzelheit dieses Erlebnisses erinnern: wie der Kellner sie aus einer silbernen Terrine in meinen Teller schöpfte, an das Knirschen des Schnittlauchs, den er als Garnitur darüber löffelte, den üppigen, cremigen Geschmack von Lauch und Kartoffeln, den lustvollen Schock, die Überraschung, dass sie kalt war.
Sehr viel mehr ist mir von dieser Überquerung des Atlantiks nicht im Gedächtnis geblieben. Ich sah Boeing Boeing mit Jerry Lewis und Tony Curtis im Kino der Queen und einen Bardot-Streifen. Der alte Dampfer wackelte und stöhnte und vibrierte den ganzen Weg fürchterlich – Muschelbefall am Kiel lautete die offizielle Erklärung –, und von New York bis Cherbourg hatten wir das Gefühl, auf einem riesigen Rasenmäher zu reiten. Mein Bruder und ich langweilten uns schon bald und verbrachten den Großteil unserer Zeit in der »Teen Lounge«, hörten »The House of the Rising Sun« aus der Jukebox oder beobachteten, wie das Wasser wie eine kontrollierte Tsunami im Salzwasserpool auf dem Unterdeck herumschwappte.
Aber diese kalte Suppe ließ mich nicht los. Ihr Echo blieb, machte mir meine Zunge bewusst, und irgendwie bereitete sie mich auf zukünftige Ereignisse vor.
Mein zweites Schlüsselerlebnis auf meiner langen Kletterpartie zum Chefkoch passierte ebenfalls während dieser ersten Frankreichreise. Nach unserer Landung blieben meine Mutter, mein Bruder und ich bei Verwandten in der kleinen Küstenstadt Cherbourg in einem tristen, kalten Urlaubsgebiet in der Normandie. Der Himmel war fast immer bewölkt, das Wasser unwirtlich kalt. Alle Kinder aus der Nachbarschaft dachten, ich würde Steve McQueen und John Wayne persönlich kennen. Da ich Amerikaner war, glaubten sie, wir wären alle Kumpel, würden zusammen auf der Prärie rumhängen, Pferde reiten und Missetäter niederknallen – also genoss ich umgehend eine gewisse Berühmtheit. Die Strände taugten zwar nicht zum Schwimmen, waren aber übersät von alten Nazi-Bunkern und Kanonenunterständen, von denen viele noch sichtbare Einschüsse und Spuren von Flammenwerfern aufwiesen. Und unter den Dünen gab es Tunnels – alles sehr coole Forschungsgebiete für ein Kind. Meine kleinen französischen Freunde durften, zu meiner Überraschung, sonntags eine Zigarette rauchen, bekamen bei Tisch gewässerten vin ordinaire, und, das Allerbeste, sie besaßen Velo-Solex-Motorräder. Das war die richtige Methode, Kinder zu erziehen, dachte ich mir, traurig, weil meine Mutter diese Meinung nicht teilte.
Während meiner ersten Wochen in Frankreich erforschte ich also unterirdische Gänge, suchte nach toten Nazis, spielte Minigolf, rauchte heimlich, las einen Haufen Tintin- und Asterix-Comichefte, tuckerte auf den Motorrädern meiner Freunde herum und absorbierte durch Beobachtung kleine Lektionen fürs Leben. So brachte beispielsweise ein Freund der Familie, Monsieur Dupont, zu manchen Mahlzeiten seine Mätresse mit, zu anderen dagegen seine Frau, und seine zahlreiche Kinderbrut ließ dieser Wechsel ziemlich kalt.
Das Essen beeindruckte mich im Großen und Ganzen nicht.
Die Butter schmeckte für meinen unentwickelten Gaumen »käsig«. Die Milch, ein Standard-, nein, ein Pflichtritual im amerikanischen Kinderleben der 60er Jahre, war hier nicht trinkbar. Mittagessen bestand eigentlich immer aus sandwich jambon oder croque-monsieur. Jahrhunderte französischer Kochkunst mussten erst noch Eindruck bei mir machen. Was mir am französischen Essen auffiel, war, was sie nicht hatten.
Nach einigen Wochen dieses Programms nahmen wir den Nachtzug nach Paris, wo wir unseren Vater vorfanden und einen schnittigen neuen Rover Sedan Mark III, unseren Reisewagen. In Paris wohnten wir im Hôtel Lutétia, damals ein großer, leicht schäbiger alter Kasten am Boulevard Raspail. Die Menüauswahl für meinen Bruder und mich wurde etwas erweitert auf steak frites und steak haché. Wir machten alles, was Touristen so machen: Kletterten auf den Eiffelturm, picknickten im Bois de Boulogne, marschierten im Louvre an den großen Werken vorbei, schoben Spielzeugsegelboote im Brunnen des Jardin de Luxembourg herum – alles kein wirklicher Spaß für einen Neunjährigen mit einem sich bereits entwickelnden Hang zum Kriminellen. Mein Hauptinteresse zu dieser Zeit war die Erweiterung meiner Sammlung englischer Übersetzungen von Tintin-Abenteuern. Hergés flott gezeichnete Geschichten über Drogenschmuggel, antike Tempel und fremde, ferne Orte und Kulturen waren für mich echte Exotica. Ich zwang meine armen Eltern, mir bei W.H. Smith, der englischen Buchhandlung, für hunderte von Dollars diese Geschichten zu kaufen, nur damit ich aufhörte, über die Entbehrungen Frankreichs zu jammern. Mit meinen kleinen Minishorts ein ständiger Affront, wurde ich zügig zu einem verdrießlichen, launischen, schwierigen Balg. Ich stritt mich ständig mit meinem Bruder, mäkelte an allem und jedem herum, machte mich kurzum zum Klotz am Bein der glorreichen Expedition meiner Mutter.
Meine Eltern gaben ihr Bestes. Sie schleppten uns überallhin mit, von Restaurant zu Restaurant, und wanden sich zweifellos jedes Mal vor Scham, wenn wir auf steak haché (mit Ketchup natürlich) und einer Cola bestanden. Schweigend ertrugen sie mein ständiges Genörgel über käsige Butter, meine anscheinend nicht enden wollende Freude an der Reklame für einen populären Softdrink der damaligen Zeit: Pschitt. »Ich will Shit! Ich will Shit!« Sie schafften es, meine Augenverdreherei und mein Herumgehampel zu ignorieren, wenn sie Französisch sprachen, und sie versuchten mich anzuregen, etwas zu finden, irgendetwas, das mir Freude machen würde.
Und dann kam die Zeit, in der sie schließlich die Kinder nicht mehr mitnahmen.
Ich kann mich gut daran erinnern, weil es so ein Schlag ins Gesicht war. Es war ein Weckruf dafür, dass Essen wichtig sein konnte, eine Herausforderung für meine angeborene Kampfeslust. Mir wurde etwas verweigert, und schon öffnete sich eine Tür.
Der Name der Stadt war Vienne. Wir waren weit gefahren, um hierher zu kommen. Meinem Bruder und mir waren gerade wieder die Tintins ausgegangen, und wir waren stinkend mies drauf. Die französische Landschaft mit ihren anmutigen baumgesäumten Straßen, Hecken, bestellten Feldern und Bilderbuchdörfern bot wenig Kurzweil. Meine Eltern hatten inzwischen Wochen gnadenloser Quengelei und viele Mahlzeiten in gespannter und stetig unangenehmer werdender Atmosphäre erduldet. Sie hatten pflichtschuldigst unsere steak haché, crudités variées, sandwich jambon und Ähnliches bis zum Erbrechen bestellt. Sie hatten unser Genöle ertragen, von wegen die Betten wären zu hart, die Kissen zu weich, die Nackenrollen, die Toiletten und die Installationen zu seltsam. Sie hatten uns sogar ein bisschen gewässerten Wein erlaubt, weil man das in Frankreich offenbar machte – aber auch, damit wir die Klappe hielten. Sie hatten meinen Bruder und mich, die beiden hässlichsten Amerikaner, überallhin mitgenommen.
In Vienne war das anders.
Sie stellten den blitzenden neuen Rover auf dem Parkplatz eines Restaurants ab, das recht viel versprechend La Pyramide hieß, reichten uns einen offensichtlich gebunkerten Stapel Tintins … und ließen uns dann im Auto!
Es war ein harter Schlag. Kleiner Bruder und ich wurden über drei Stunden im Auto gelassen, eine Ewigkeit für zwei arme Kinder, die ohnehin schon halb irre vor Langeweile waren. Ich hatte reichlich Zeit, mich zu fragen: Was kann es denn so Tolles hinter diesen Mauern geben? Sie aßen dort. Das wusste ich. Und es war ganz sicher eine Riesensache. Selbst mit meinen hirnlosen neun Jahren konnte ich die nervöse Vorfreude, die Aufregung, ja fast so etwas wie Ehrfurcht erkennen, mit der meine geplagten Eltern sich dieser Stunde genähert hatten. Und ich hatte den Vichyssoise- Vorfall noch ganz frisch im Gedächtnis. Essen konnte, wie es schien, wichtig sein. Es konnte ein Ereignis sein. Es barg Geheimnisse.
Heute weiß ich natürlich, dass La Pyramide auch schon im Jahr 1966 das Zentrum des kulinarischen Universums war. Bocuse, Troisgros, alle hatten sie dort ihre Zeit absolviert, hatten ihre Knochen der legendär Furcht erregenden Knute des Eigentümers Ferdinand Point ausgeliefert. Point war der Großmeister der...
Erscheint lt. Verlag | 28.2.2013 |
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Übersetzer | Dinka Mrkowatschki |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Kitchen Confidential |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Biografie • Biographien • eBooks • Gourmet • Kulinarische Reise • Sternekoch |
ISBN-10 | 3-641-10620-6 / 3641106206 |
ISBN-13 | 978-3-641-10620-1 / 9783641106201 |
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Größe: 2,1 MB
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