Erzählte Prekarität

Autobiographische Verhandlungen von Arbeit und Leben im Postfordismus

(Autor)

Buch | Softcover
382 Seiten
2013
Campus (Verlag)
978-3-593-39899-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Erzählte Prekarität - Ove Sutter
46,00 inkl. MwSt
Arbeit und Alltag

Beiträge zur ethnografischen Arbeitskulturenforschung

Hg. von Irene Götz, Gertraud Koch, Klaus Schönberger und Manfred Seifert


Im postfordistischen Zeitalter sind Beschäftigte prekären Arbeitsverhältnissen und brüchigen Lebensläufen ausgesetzt. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, die eigene Lebenssituation reflexiv zu verorten und sprachlich zu verarbeiten. Dies gilt vor allem für Beschäftigte aus den Bereichen der immateriellen Arbeit, die in hohem Maße mit entgrenzter Arbeit konfrontiert sind und deren Aufgabenfeld insbesondere kommunikative Tätigkeiten umfasst. Ove Sutter weist in einer ethnographischen Untersuchung nach, dass autobiographisches Sprechen und Erzählen eine grundlegende Alltagspraxis darstellt, die Prekarität immaterieller Arbeit zu bewältigen und ihr zu widersprechen.Ausgezeichnet mit dem »Doc.Award« 2012 der Universität Wien und der Stadt Wien für hervorragende Forschungsleistungen.

Ove Sutter ist Juniorprofessor für Kulturanthropologie/Volkskunde an der Universität Bonn.

Inhalt

1 Einleitung


2 AutobiographischesSprechen und Erzählen im Postfordismus

2.1 Das postfordistische Arbeitsparadigma
2.1.1 Fordistisches Normalarbeitsverhältnis und fordistischer Normallebenslauf
2.1.2 Passagen zur postfordistischen Produktionsweise
2.1.3 Hegemonie der immateriellen Arbeit
2.1.4 Ordnungen des Projekts
2.1.5 Verbindungen von Unternehmertum, Subjektivität und Macht
2.1.6 Unternehmerische Strukturierungen der Ware Arbeitskraft
2.1.7 Subjektivierung der Arbeit
2.1.8 Prekarisierung
2.1.9 Destandardisierung und Deinstitutionalisierung des Lebenslaufs

2.2 Autobiographisches Sprechen und Erzählen
2.2.1 Zum Verhältnis von autobiographischem Handeln und Lebenslauf
2.2.2 Sprechen und Erzählen als Handeln - (Inter-)Disziplinäre Zugänge
2.2.3 Historische Verbreitung autobiographischer Muster - Beichte und Therapie
2.2.4 Strukturelle Merkmale des autobiographischen Sprechens

2.3 Schlussfolgerungen
2.3.1 Zusammenfassung
2.3.2 Volkskundlich-kulturwissenschaftliche Sichtweisen auf Eigensinn und Kreativität
2.3.3 Weiterführende Fragen


3 Forschungsprozess

3.1 Methodisches Vorgehen
3.1.1 Leitfadenorientiert interviewen
3.1.2 Beobachten

3.2 Forschungsverlauf
3.2.1 Forschungsphasen
3.2.2 Reflexionen

3.3 Untersuchte Felder der Prekärität immaterieller Arbeit
3.3.1 Prekarität von TrainerInnen in AMS-Kursmaßnahmen
3.3.2 Prekarität von wissenschaftlich Forschenden und Lehrenden
3.3.3 Prekarität der befragten JournalistInnen
3.3.4 Die MAYDAY-Paraden der Prekären


4 Erzählen der Prekarität immaterieller Arbeit

4.1 Selbstermächtigendes Erzählen
4.1.1 Die eigene Arbeitskraft erzählerisch aufwerten
4.1.2 Sich selbst unternehmerisch erzählen
4.1.3 Erzählend Interessenskonflikte führen
4.1.4 Entmächtigung erzählen - (k)ein Gegenbeispiel?

4.2 Habitualisiertes Erzählen
4.2.1 Zum Beispiel (re-)proletarisiertes Erzählen der Prekarität
4.2.2 Narrativer Habitus - kleiner Vorschlag zur Theoriebildung einer praxeologischen Erzählforschung

4.3 Vergeschlechtlichtes und vergeschlechtlichendes Erzählen
4.3.1 Vergeschlechtlichendes Akzeptieren von Prekarität
4.3.2 Prekarisierende Diskriminierung erzählen
4.3.3 Selbstideale feminisierter Prekarität erzählen
4.3.4 Prekarität männlich berichten
4.3.5 Reflexionen - Verschränkungen des Sozialen und Erhebungseffekte

4.4 Zusammenfassung


5 Sich "prekär" nennen und organisieren

5.1 Sich "prekär" nennen
5.1.1 Biogramm von Wolfgang Freyler
5.1.2 Prekarität ist nicht normal und problematisch
5.1.3 Diskursive Verbreitungen des Prekaritätsbegriffs
5.1.4 Sich "prekär" nennen - Theorie-Effekt und Aushandlungspraxis

5.2 Sich "prekär" organisieren
5.2.1 Biogramm von Florian Weilandt
5.2.2 Sich "prekär" organisieren - drei Beispiele
5.2.4 Sich "prekär" organisieren - Symbolische Kämpfe um "Prekarität"

5.3 Zusammenfassung


6 Schlussfolgerungen

Literatur und Quellen

Anhang

"Sutter argumentiert anspruchsvoll: Er verbindet zwei große Forschungsbereiche unseres Fachs, holt im Theoretischen weit aus, bezieht breit Sekundärliteratur auch aus anderen Fächern ein und schildert detailliert die ökonomischen, rechtlichen und politischen Hintergründe seines Feldes." Esther Gajek, Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde

»Sutter argumentiert anspruchsvoll: Er verbindet zwei große Forschungsbereiche unseres Fachs, holt im Theoretischen weit aus, bezieht breit Sekundärliteratur auch aus anderen Fächern ein und schildert detailliert die ökonomischen, rechtlichen und politischen Hintergründe seines Feldes.« Esther Gajek, Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde

1 Einleitung Einstieg "Prekarität ist die Unsicherheit von Lebensverhältnissen durch Widerruflichkeit des Erwerbs" - so lautet die kurze Formel, mit der Martin Dieckmann den Charakter prekärer Arbeits- und Lebensverhältnisse in Anlehnung an Karl Marx' Definition des "freien Arbeiters" als "virtuellen Pauper" auf den Punkt bringt (Dieckmann 2005: 9; Marx 1974: 497). Dieckmann liefert hier nicht nur eine prägnante Definition prekärer Arbeitsverhältnisse, sondern er argumentiert weiter, dass Prekarität derart das generelle Grundmerkmal der Lohnabhängigkeit im Kapitalismus ist. Prekarität ist somit kein historischer Sonderfall einer eingrenzbaren Gruppe von Beschäftigten, sondern betrifft potenziell oder "virtuell" all jene, die nicht über die Produktionsmittel, sondern lediglich über das Vermögen ihrer Arbeitskraft verfügen. Um ihre Existenz und die ihrer Haushaltsangehörigen zu sichern, sind sie gezwungen, ihre Arbeitskraft an jene zu verkaufen, deren Interesse es ist, die Lohnkosten möglichst gering zu halten, um auf dem Markt konkurrieren zu können. Dass die Lohnabhängigen überhaupt einen Käufer ihrer Arbeitskraft finden, ist nicht garantiert. Ab den fünfziger bis zu den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts bestand der Interessenskonflikt zwischen Arbeit und Kapital in den westlichen Wohlfahrtsstaaten zwar weiter, wurde aber für einen Teil der lohnabhängigen Bevölkerung - vor allem fachlich ausgebildete männliche Angehörige der Mehrheitsgesellschaft - entschärft und befriedet. Arbeitsrechtliche Regulierungen wie Kündigungsschutz, Tariflohn, Arbeitszeitbegrenzungen, bezahlter Urlaub und soziale Sicherungsysteme wie Arbeitslosen-, Kranken-, Unfall- oder Pensionsversicherung relativierten die Widerruflichkeit des Erwerbs. Die Arbeitskraft wurde teilweise "dekommodifiziert" (Esping-Andersen 1990), das heißt sie war nur eingeschränkt dem freien Wettbewerb und seinen Konkurrenzlogiken ausgesetzt. Mit der teilweisen Dekommodifizierung der Arbeitskraft wurde der Verlauf des individuellen Lebens planbarer und vorhersagbarer. Es bildete sich die soziale Institution eines Normallebenslaufs heraus, der um das Erwerbssystem herum organisiert war und normierte Erwartungssicherheiten beinhaltete. Damit einhergehend bildeten sich Lebensführungskon-zepte, in deren Mittelpunkt das Leitbild der konsumierenden heterosexuellen Kleinfamilie mit einer weiblichen Mutter und Hausfrau sowie einem männlichen Familienernährer stand, der von der Ausbildung bis zur Pensionierung im selben Betrieb arbeitet. Ebenso grundlegend basierten diese Lebensführungskonzepte auf einer räumlichen und zeitlichen Trennung von Arbeit und Nicht-Arbeit. Die vom Normallebenslauf geprägten Erfahrungen, Wertorientierungen und Praktiken wurden zu einer "historischen Massenerfahrung" (Rosenbaum/Timm 2008: 50). Diese wohlfahrtsstaatlichen Regulierungen und damit einhergehenden Lebensführungskonzepte waren das Ergebnis eines Klassenkompromisses, der sich in langwierigen sozialen Kämpfen herausgebildet hatte und von gesellschaftlichen Machtkonstellationen abhing (vgl. Hauer 2007). Die Sicherung der Lebensverhältnisse der lohnabhängigen Bevölkerung und auch die Erwartbarkeit individueller Lebens- und Erwerbsverläufe war damit nicht garantiert, sondern an gesellschaftliche Kräfteverhältnisse ge-bunden. Sie blieb potenziell widerruflich und umkämpft. Seit Ende der siebziger Jahre haben sich die Kräfteverhältnisse zwischen Arbeit und Kapital in den westlichen Industrienationen verschoben. Fortan tritt für einen wachsenden Teil der Beschäftigten das strukturelle Grundmerkmal der Lohnabhängigkeit, die Widerruflichkeit des Erwerbs und damit die soziale Verunsicherung der Lebensverhältnisse, wieder stärker zutage. Zwar gibt es weiterhin einen großen Teil umfassend geschützter und regulierter Normalarbeitsverhältnisse, diese geraten aber zunehmend durch eine wachsende Zahl wenig sozial abgesicherter sowie räumlich und zeitlich entgrenzter Arbeitsverhältnisse unter Druck. Die erkämpfte ›Normalität‹ der Erwartbarkeit des eigenen Lebens- und Erwerbsverlaufs wird zunehmend widerrufen. Dieser Widerruf führt jedoch nicht zu einer einfachen Rückkehr zur Prekarität oder "Proletarität" (Roth 1994) der frühen Industrialisierung. Die aktuellen Politiken sozialer Verunsicherung treffen auf vergesellschaftlichte Individuen, die nicht aus vor- oder nichtkapitalistischen Lebenswelten herausgerissen wurden, sondern bereits "hoch entwickelte kapitalistische Subjekte" (Dieckmann 2005: 13) sind. Sie treffen auf Lebensführungskonzepte und damit verbundene Formen des Wahrnehmens, Denkens und Handelns, in denen die subjektiven Erfahrungen von Planbarkeit und Vorhersagbarkeit des eigenen Lebens- und Erwerbsverlaufs sowie der räumlichen und zeitlichen Trennung von Arbeit und Nicht-Arbeit aus mehreren Jahrzehnten fordistisch-wohlfahrtsstaatlicher Regulierung nachwirken. Die aktuellen Prozesse der Prekarisierung und die damit einhergehende Destandardisierung und Deinstitutionalisierung von strukturierend wirkenden sozialen Lebenslaufmustern führen zu einer Zunahme "biographischer Unsicherheit" (Wohlrab-Sahr 1993). Lohnabhängigkeit unter den Bedingungen prekärer Arbeits- und Lebensverhältnisse ist in westlichen Wohlfahrtsstaaten zu einem nicht ›normalen‹, ungewohnten und verunsichernden Alltagskonflikt geworden, mit dem die Betroffenen umzugehen gezwungen sind. Die Subjekte werden nun in verstärktem Maße dazu aufgerufen, sich selbstverantwortlich und eigeninitiativ um die zukünftige Absi-cherung ihrer sozialen Existenz zu kümmern. Sie werden dazu aufgerufen, biographisch zu handeln, das heißt über ihren bisherigen Lebens- und Erwerbsverlauf zu reflektieren und strategische Entscheidungen hinsichtlich dessen weiteren Verlaufs zu fällen. Die mit der Prekarisierung einhergehende räumliche und zeitliche Entgrenzung von Arbeit und Nicht-Arbeit bewirkt darüber hinaus, dass immer mehr alltägliche Situationen und Erfahrungen in diese strategischen Reflexionen des eigenen Lebens miteinbezogen und damit erwerbsbiographisch relevant werden. Die Prozesse der Prekarisierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse steigern den Bedarf an biographischer Selbstthematisierung. Deren steigende Relevanz trifft insbesondere für Beschäftigte aus jenen Bereichen der prekären "immateriellen Arbeit" (Hardt/Negri 2002, 2004; Lazzarato 1998) zu, deren Arbeitsverhältnisse vor allem intellektuelle sowie sprachliche Tätigkeiten wie die Aneignung, Produktion und kommunikative Vermittlung von Wissen und Informationen umfassen. Die Subjektivität wird hier zur zentralen Ressource im Produktionsprozess. Meine vorliegende Forschung nimmt aktuelle Formen biographischen Handelns in Lebenssituationen der Prekarität immaterieller Arbeit in den Blick. Ich untersuche die biographischen Handlungsformen des autobiographischen Sprechens und Erzählens. Ich untersuche autobiographisches Sprechen und Erzählen prekär Erwerbstätiger aus den Bereichen der Erwachsenenbildung, der wissenschaftlichen Forschung und Lehre sowie des Journalismus. Diese drei Sektoren sind beispielhafte Arbeitsfelder, in denen die Erwerbstätigen mit "neuen kulturellen Spaltungslinien" (Dörre 2009: 24) konfrontiert sind und unter dem Druck stehen, ihr Selbstverständnis und damit zusammenhängend ihre Lebensführung mit den neuen biographischen Unsicherheiten abzustimmen.

Erscheint lt. Verlag 7.11.2013
Reihe/Serie Arbeit und Alltag ; 7
Verlagsort Frankfurt
Sprache deutsch
Maße 140 x 213 mm
Gewicht 474 g
Themenwelt Sozialwissenschaften Ethnologie Volkskunde
Schlagworte Arbeit / Arbeitswelt • Biographie • Biographieforschung • Erzählforschung • Ethnologie • Kulturanalyse • Kulturtechniken • Lebenslauf • Post-Fordismus
ISBN-10 3-593-39899-0 / 3593398990
ISBN-13 978-3-593-39899-0 / 9783593398990
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