Immanente Kritik

Elemente einer Theorie sozialer Praktiken

(Autor)

Buch | Softcover
475 Seiten
2013
Campus (Verlag)
978-3-593-39856-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Immanente Kritik - Titus Stahl
46,00 inkl. MwSt
Theorie und Gesellschaft
Wenn wir Kritik an unserer Gesellschaft üben wollen, auf welche Normen können wir uns stützen? Nur auf moralische Argumente, die wir von außen an sie herantragen?

Eine Alternative zu »externen « Herangehensweisen bietet die Methode der »immanenten Kritik«, die Normen mobilisiert, die bereits in einer Gesellschaft zu finden sind. Obwohl sich die Tradition der Kritischen Theorie dieser Kritikform verpflichtet fühlt, sind ihre Grundlagen bisher nie geklärt worden.

Die Studie erläutert die Möglichkeit immanenter Kritik unter Rückgriff auf aktuelle Theorien kollektiven Handelns und sozialer Praktiken. Titus Stahl entwickelt ein Modell der Kritik, das die Potenziale herausstellt, die in alltäglichen Formen wechselseitiger Anerkennung existieren.

Dr. phil. Titus Stahl ist akademischer Rat a.Z. an der Universität Frankfurt.

Inhalt
Einleitung9
Teil I: Von der immanenten Kritik zur Sozialontologie
1. Gesellschaftskritik19
1.1 Interne und externe Kritik26
1.2 Rationalität und Kritik30
1.3 Rekonstruktive und immanente Kritik34
2. Interpretation und immanente Kritik52
2.1 Michael Walzer: Der verbundene Kritiker54
2.2 Charles Taylors starke Hermeneutik72
2.3 "Praxis" und "Tradition" bei Alasdair MacIntyre94
2.4 Hermeneutische immanente Kritik und Gesellschaftstheorie119
3. Kritische Theorie der Gesellschaft und immanente Kritik122
3.1 Das Modell kommunikativer Rationalität124
3.2 Das anerkennungstheoretische Modell157
3.3 Zeitgenössische kritische Theorie und immanente Kritik182
3.4 Sozialontologische Fragen an die Theorien der immanenten Kritik184
Teil II: Die sozialontologischen Voraussetzungen immanenter Kritik
4. Kollektive Intentionalität191
4.1 Die sozialontologischen Voraussetzungen immanenter Kritik191
4.2 Kollektive Haltungen197
4.3 Die Notwendigkeit kollektiver intentionaler Zustände204
4.4 Zum Status kollektiver Haltungen207
4.5 Theorien kollektiver Intentionalität216
4.6 Eine normative Theorie kollektiver Haltungen224
4.7 Kollektive Intentionen und intersubjektive Anerkennung242
4.8 Zusammenfassung des Arguments255
5. Die immanenten Normen sozialer Praxis256
5.1 Normen, Praktiken und Regeln259
5.2 Das Problem des Regelfolgens278
5.3 Adäquatheitskriterien für eine Theorie des Regelfolgens292
5.4 Soziale Lösungen des Regelfolgenproblems301
5.5 Ein Anerkennungsmodell sozialer Normativität325
5.6 Soziale Praktiken354
5.7 Zusammenfassung des Arguments368
Teil III: Von der Sozialontologie zur immanenten Kritik
6. Die Möglichkeit immanenter Kritik375
6.1 Rekapitulation: Der Stand des Arguments375
6.2 Fragen an eine Praxistheorie der immanenten Kritik376
6.3 Situationen immanenter Kritik379
6.4 Soziale Normen und sozialer Konflikt380
6.5 Exkurs: Liberale und konservative Praktiken385
7. Immanente Kritik388
7.1 Epistemologie und Praxis der immanenten Kritik388
7.2 Immanente Kritik zwischen Interpretation und Gesellschaftstheorie403
7.3 Immanente Kritik und normativer Fortschritt405
7.4 Exkurs: Die Kritik praktisch vermittelter Widersprüche411
8. Verdinglichungskritik419
8.1 Kritik und Metakritik419
8.2 Was ist Verdinglichungskritik?422
8.3 Der normative Gehalt der Verdinglichungskritik425
8.4 Die Kritik an Lukács' Verdinglichungsbegriff439
8.5 Eine praxistheoretische Rekonstruktion des Verdinglichungsbegriffs442
8.6 Zusammenfassung451
Schluss: Sozialer Konflikt und soziale Hoffnung452
Literatur458
Danksagung474

Einleitung Im September 1843 schreibt Karl Marx aus Bad Kreuznach - wo er nur kurze Zeit zuvor Jenny von Westphalen geheiratet hatte - einen Brief an seinen Freund Arnold Ruge, in dem er sich über die gegenwärtige Lage der philosophischen Gesellschaftskritik beklagt. In der Vergangenheit, so Marx, sei die Philosophie stets von der Vorstellung geprägt gewesen, dass die Auflösung aller Rätsel in ihrem Pulte [liege], und die dumme exoterische Welt […] nur das Maul aufzusperren [hatte], damit ihr die gebratenen Tauben der absoluten Wissenschaft in den Mund flogen. Auch wenn er es als Verbesserung beschreibt, dass die Philosophie im Begriff sei, diese dogmatische Sicht auf ihre eigene Rolle zu überwinden, beklagt er doch, dass jetzt eine gewisse "Anarchie" unter den Reformern seiner Zeit ausgebrochen sei. Es herrsche insbesondere Verwirrung bezüglich der richtigen Inhalte einer philosophischen Kritik. Diese Verwirrung verdankt sich jedoch, so Marx, einem methodischen Fortschritt, den er zu seiner Vollendung zu bringen beabsichtigt. Dieser methodische Fortschritt besteht darin, dass sich eine neue Form der Kritik entwickelt. Es ist das kennzeichnende Prinzip dieser neuen Form der Kritik, so Marx, daß wir nicht dogmatisch die Welt antizipieren, sondern erst aus der Kritik der alten Welt die neue finden wollen. Bei der von Marx beschriebenen, neuen Art der Kritik handelt es sich also um eine Kritik, die nicht in dem Sinne dogmatisch verfährt, dass sie zunächst rein theoretisch, ohne Bezug auf die empirische Realität bestimmte normative oder moralische Prinzipien entwirft und diese dann erst in einem zweiten Schritt an die soziale Welt heranträgt. Vielmehr soll diese neue Kritik die soziale Realität, wie sie ist, ernst nehmen, und aus dieser sozialen Realität selbst die Normen gewinnen, die die "neue" Welt regieren sollen. Eine solche nicht-dogmatische Kritik muss sich also als eine Kritik verstehen, die aus den bestehenden sozialen und philosophischen Verhältnissen kritische Prinzipien entwickelt, die in diesen Verhältnissen in irgendeinem, noch zu erklärenden Sinne bereits angelegt sind. Zugleich soll eine solche Kritik aber diese bestehenden Verhältnisse weiterhin transzendieren, also wirkliche Kritik bleiben. Beim Schreiben dieser Zeilen hatte Marx sicher nicht die Absicht, die bisherige Philosophie dafür zu kritisieren, dass sie zu radikal gewesen sei. Eine nicht-dogmatische Kritik kann (und muss) aus seiner Sicht die Normen der real existierenden Gesellschaft durchaus ablehnen. Wenn die neue Form der Kritik ihre Normen aus der Kritik der alten Welt entwickelt, kann es daher nicht darum gehen, die existierenden Vorstellungen davon, wie Menschen leben sollen, bloß aufzugreifen. Vielmehr sollen aus den Potenzialen der existierenden sozialen Verhältnisse neue Normen geschöpft werden. Wie genau dies zu verstehen ist, erfahren wir in diesem Brief aber nicht. Auch wenn also keineswegs klar ist, was genau die Vorgehensweise dieser neuen Form der Kritik auszeichnet, sollte sich das von Marx angedeutete Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Theorie für die weitere Geschichte der Kritischen Theorie als prägend erweisen: Die verschiedenen Generationen und Ansätze dieser Tradition sind nicht dadurch verbunden, dass sie sich stets auf die gleichen normativen Maßstäbe beziehen oder gar dieselben politischen Veränderungen angestrebt hätten. Sie teilen vielmehr eine methodische Annahme. Dabei handelt es sich um die Festlegung darauf, dass die kritische Sozialphilosophie ihre Prinzipien nicht unabhängig von der sozialen Realität entwickeln darf, sondern dass sie sich als Aufklärung der sozialen Realität über sich selbst verstehen muss. Diese Methode ist die Methode der immanenten Gesellschaftskritik. Auch wenn die Festlegung darauf, immanente Kritik zu betreiben, bis heute den methodischen Kern kritischer Theorien ausmacht, wurde nur selten im Vokabular der jeweils zeitgenössischen Philosophie zu rekonstruieren versucht, was dies genau bedeutet. Die Methode der immanenten Kritik ist in den vergangenen Jahrzehnten zwar für viele Theorien weiterhin ein traditionsbildender Referenzpunkt geblieben. Weil aber die ihr zugrunde liegenden metaphysischen, epistemologischen und politischen Annahmen sich nicht im zeitgenössischen philosophischen Vokabular verstehen lassen, spielen explizit ausgearbeitete Modelle der immanenten Kritik im Marx'schen Sinne heute - jenseits derjenigen Theorien, die aus politischen Gründen eine dementsprechende Verpflichtung betonen - im philosophischen Alltagsgeschäft keine Rolle. Wieso also die Frage wieder aufgreifen, was immanente Kritik ist? Wenn ein solches Projekt kein bloßes Geschäft der Traditionspflege sein soll, muss gezeigt werden, dass es philosophische, gesellschaftstheoretische und politische Probleme gibt, die ein Modell der immanenten Kritik besser lösen kann als andere Theorien. Erst wenn dies gezeigt wurde, ist es überhaupt sinnvoll, danach zu fragen, welche Aspekte der Idee einer immanenten Kritik der Erläuterung bedürfen, damit diese Idee in der heutigen philosophischen Debatte einen produktiven Bezugspunkt bilden kann. Was könnte also eine Theorie der immanenten Kritik leisten? Zunächst ist bemerkenswert, dass in der politischen Philosophie seit einigen Jahren das Interesse an den philosophischen Grundlagen der Gesellschaftskritik in Kontexten neu erwacht ist, in denen der Bezug auf eine Idee der "immanenten Kritik" keine Rolle spielt. Auslöser für diese Debatte um die Grundlagen der Kritik waren vor allem das Werk Michael Walzers und die Kontroversen um die Gerechtigkeitstheorie von John Rawls. Einige der Probleme, die diese Debatte antreiben, könnten möglicherweise gelöst werden, wenn es gelänge, die Idee der immanenten Kritik so zu reformulieren, dass sie den Ansprüchen genügen kann, die wir heute an philosophische Theorien der Kritik stellen. Das zentrale Problem, um das es in den entsprechenden Auseinandersetzungen geht, liegt in der Annahme begründet, dass die Aktivität der Gesellschaftskritik immer voraussetzt, dass die dabei erhobenen Forderungen gegenüber den Personen gerechtfertigt werden müssen, an die sich die Kritik wendet. Das Beharren auf der Notwendigkeit von Rechtfertigungen ist nicht - wie man vermuten könnte - eine rein normative Forderung dahingehend, wie Gesellschaftskritik sein sollte: Zumindest in den modernen Gesellschaften des Westens ist der öffentliche Diskurs so verfasst, dass prinzipiell keine Strategie der Kritik Zustimmung bei ihren Adressaten finden kann, die dieses Problem nicht in einer glaubwürdigen Weise bearbeitet. Der Anspruch, dass Gesellschaftskritik rechtfertigende Gründe vorbringen muss, ist in den sozialen Praktiken dieser Gesellschaften irreversibel institutionalisiert. Gesellschaftskritik sollte also nicht nur aus moralischen Gründen immer gerechtfertigt werden, sie muss auch gerechtfertigt werden, wenn sie etwas erreichen will. In vielen Fällen reicht es für eine solche Rechtfertigung aber nicht aus, dass die Kritikerinnen und Kritiker einer Gesellschaft die Gründe, die sie zur Kritik bewegen, einfach nur offenlegen. Immer wenn in unseren Gesellschaften Einzelne oder Gruppen bestimmte Gründe dafür vorbringen, dass sich diese Gesellschaften ändern sollen, wird früher oder später die Frage gestellt werden, wieso gerade diese Gründe und nicht andere maßgeblich für alle Mitglieder der jeweiligen Gesellschaft sein sollen. Es wird also nicht nur auf die Frage eine Antwort verlangt, welche konkreten Gründe es für eine bestimmte Kritik an spezifischen sozialen Praktiken gibt, sondern welche Form von Gründen überhaupt dafür geeignet ist, die Praktiken einer Gesellschaft oder einer sozialen Gruppe zu kritisieren. Wenn wir mit anderen in ein Gespräch darüber eintreten, welche Gründe überhaupt geeignete Gründe dafür sein können, unsere Gesellschaften zu kritisieren, dann ist die Gesellschaftskritik schon auf dem Weg dahin, ihre eigenen Grundlagen zu thematisieren und damit reflexiv zu werden. Gesellschaftskritik muss früher oder später nach ihren eigenen Kriterien suchen und die Praktiken hinterfragen, auf die sie sich stützt. Dieses Problem wird dann besonders drängend, wenn Kritikerinnen und Kritiker nicht nur bestimmte, bereits allgemein akzeptierte Normen anwenden, sondern die Frage aufwerfen, ob diese Normen, oder die Weise, in der sie entstanden sind, interpretiert werden und in Anspruch genommen werden, nicht selbst kritikwürdig ist - wenn also nicht nur eine bestimmte Praxis an einer vorab anerkannten Norm gemessen werden soll, sondern beide Elemente, Norm und Praxis, in Hinblick auf ihre Richtigkeit hinterfragt werden sollen. Wenn diese Möglichkeit einer Kritik an Praxis und Normen erwogen wird, zeigt sich, dass die Gesellschaftskritik vor einem Dilemma steht: Wenn wir davon ausgehen, dass wir nur dann gerechtfertigt sind, andere dafür zu kritisieren, dass sie bestimmte Normen nicht einhalten, wenn diese anderen diesen Normen zuvor zugestimmt haben, dann stellt sich nicht nur das Problem, dass es nur wenige Normen gibt, die in pluralistischen Gesellschaften von allen Personen geteilt werden. Es kann auch eingewendet werden, dass die Gesellschaftskritik dann scheinbar keine Handhabe gegen die vielfältigen Formen von Unterdrückung, Diskriminierung oder Unrecht hat, die nicht nur de facto stattfinden, sondern die aus Praktiken bestehen, zu denen es eben gerade auch gehört, dass Personen schlechten Normen zustimmen. Wenn wir etwa an rassistische oder frauenfeindliche Praktiken denken, dann gehört gerade der Umstand, dass diejenigen, die diese Praktiken durchsetzen, rassistische und frauenfeindliche Normen akzeptieren, zu den Gesichtspunkten, die diese Praktiken schlecht machen. Wir können uns also nicht damit zufriedengeben, Personen nur an den von ihnen akzeptierten Normen zu messen. Wenn wir jedoch davon ausgehen, dass wir dieses strenge Kriterium nicht erfüllen müssen und auch dann Praktiken kritisieren dürfen, wenn die Normen, die unsere Kritik motivieren, von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern dieser Praktiken nicht geteilt werden, dann scheint dies aber nicht nur der dogmatischen Einführung von Normen aus einer schwer begründbaren paternalistischen Perspektive Tür und Tor zu öffnen. Wir scheinen durch eine solche Strategie auch jedes auf die konkrete Gesellschaft bezogene Kriterium dafür zu verlieren, welche Normen die gerade für diese Gesellschaft relevanten Normen sind. Damit scheinen wir wieder die dogmatische Form der Kritik zu üben, die mit Marx' Worten die Auflösung aller Rätsel immer schon kennt. Wenn wir dieses Dilemma ernst nehmen, ist leicht zu sehen, dass es für diese Debatten einen Gewinn darstellen würde, wenn es gelänge zu zeigen, dass wir eine Form der Kritik üben können, die nicht einfach die akzeptierten Normen unterschreibt - die also nicht rein "intern" verfährt -, die sich aber dennoch auf die normativen Potenziale dieser Gesellschaft bezieht - die also nicht zu einer dogmatisch-"externen" Kritik wird. Mit anderen Worten: Das Modell der immanenten Kritik, also einer Kritik, die aus der gesellschaftlichen Realität Normen rekonstruiert, die zu einer transzendierenden Kritik dieser Realität dienen können, wäre, wenn es methodisch gerechtfertigt werden könnte, eine attraktive Option. Wenn wir immanente Kritik als eine Bezugnahme auf normative Potenziale verstehen, die bereits in der gesellschaftlichen Realität angelegt, aber noch nicht anerkannt oder gar verwirklicht sind, dann kann eine solche Form der Kritik sowohl die Perspektive einer nur "internen" Explikation der jeweils anerkannten Normen als auch die Herangehensweise einer "externen" Begründung neuer Prinzipien ergänzen. Sie kann erstens den Ideologieverdacht vermeiden, der stets gegenüber der Annahme besteht, dass Kritiker eine überlegene Einsicht in vom Einverständnis der Betroffenen unabhängig gültige Normen haben. Sie kann also der Einsicht recht geben, dass wir im Rahmen der Gesellschaftskritik nur die Erfüllung derjenigen Pflichten voneinander fordern können, die wir wechselseitig akzeptieren. Zweitens kann sie aber auch der Intuition Ausdruck verleihen, dass die jeweils akzeptierten Normen in einer Gesellschaft nicht immer das letzte Wort haben dürfen, wenn es darum geht, diese Gesellschaft zu kritisieren. Sie kann also die plausible Idee aufnehmen, dass nicht immer nur das eingefordert werden darf, was bereits akzeptiert ist, sondern dass wir manchmal von unseren Gesellschaften auch verlangen dürfen, neue, bisher nicht anerkannte Ansprüche zu akzeptieren. Auch wenn es also attraktiv erscheint, die Idee einer immanenten Kritik wieder aufzugreifen, kann das Verständnis dieser Idee, das von den Theorien von Hegel und Marx und von der ersten Generation der Kritischen Theorie jeweils unterschiedlich, aber doch auch in weitgehender Kontinuität entwickelt wurde, nicht unkritisch reaktualisiert werden. Nicht nur die politischen Annahmen hinsichtlich der Akteure der Gesellschaftskritik und der relevanten Praktiken, die im frühen Marxismus und der Kritischen Theorie noch als plausibel vorausgesetzt werden konnten, haben sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts als fragwürdig herausgestellt, auch auf die philosophische Überzeugungskraft der dort entwickelten Modelle kann heute kaum mehr vertraut werden. Sowohl in Hinsicht auf die Metaphysik der unterstellten normativen Tatsachen als auch im Hinblick auf die Begründungsstrategien ist dieses Verständnis nicht ohne Weiteres in dem Vokabular der gegenwärtigen Philosophie rekonstruierbar. Eine Rechtfertigung der Methode der immanenten Kritik, die diese Unklarheiten dogmatisch ignorierte, würde daher in gewisser Weise ihren eigenen Anspruch verfehlen: Auch die Begründung dieser Methode sollte nicht erfordern, all jene methodischen und inhaltlichen Überzeugungen über Bord zu werfen, die die besten zeitgenössischen Selbstverständnisse der Philosophie mit sich bringen, und gewissermaßen selbst einen externen Standpunkt vorauszusetzen. Die vorliegende Arbeit verfolgt aus diesem Grund die Absicht, die Idee der immanenten Kritik in neuer Weise zu rechtfertigen, indem sie ihre Voraussetzungen auf der Basis heutiger philosophischer Theorien verständlich zu machen versucht. Ihr Vorschlag lautet, dass die immanente Gesellschaftskritik in den sozialen Praktiken von sozialen Gruppen oder Gemeinschaften und Gesellschaften normative Potenziale finden kann, die eine radikale Kritik erlauben. Soziale Praktiken als normativ geregelte Interaktionszusammenhänge - so die Idee, die ich im Folgenden vertreten werde - können aber nur dadurch existieren, dass die Individuen, die sie reproduzieren, sich einander mit einer spezifischen Haltung der Anerkennung begegnen. Ohne Bezug auf diese Haltung, so die These, kann die Geltung immanenter Normen nicht erklärt werden, deren Verwirklichung die "offiziellen" Regeln der jeweiligen Gruppe zumindest prinzipiell transzendieren kann. Um diesen Vorschlag zu begründen, reicht es jedoch nicht aus, nur die klassischen Fragen der Gesellschaftskritik und der Kritischen Theorie in den Blick zu nehmen, sondern es ist notwendig, das Gebiet der Sozialontologie zu betreten. Dies hat folgenden Grund: Wenn die Frage gestellt werden soll, ob es etwas "in" Gesellschaften gibt, das Kritiker heranziehen können, um die Grundlage für eine Kritik zu gewinnen, die über die explizit vertretenen Normen hinausgeht, dann muss zunächst geklärt werden, welche sozialen Phänomene, Tatsachen oder Entitäten dafür infrage kommen und in welcher Weise Behauptungen über sie gerechtfertigt werden können. Es geht also zunächst darum zu etablieren, dass es überhaupt eine Klasse von Sachverhalten gibt, die dazu geeignet sind, die Basis für die immanente Gesellschaftskritik zu bilden. Diese sozialontologische Rechtfertigung der immanenten Kritik ist der Gegenstand dieser Arbeit. Ihre Grundfrage lautet: In welchem Sinne existieren in der sozialen Realität die normativen Potenziale, die die immanente Gesellschaftskritik aufnehmen können soll? Mein Vorschlag wird lauten, diese Frage so zu beantworten, dass diese normativen Potenziale in sozialen Praktiken zu finden sind, die durch wechselseitige Anerkennung konstituiert werden. Dieser Vorschlag soll als Versuch verstanden werden, der Intuition Ausdruck zu verleihen, dass es die Menschen selbst sind, die es in der Hand haben, sich nicht nur Normen zu geben, sondern sich auch an diesen Normen zu messen. Zugleich folgt daraus aber auch, dass ihnen die soziale Existenz, die sie diesen Normen geben, nicht völlig kognitiv transparent und intentional zugänglich ist, sondern immer auch den Rahmen ihres Handelns und Überlegens begrenzt. Diese Überlegungen werden in der vorliegenden Arbeit in drei Schritten verfolgt. Im ersten Teil werden einige Grundbegriffe geklärt, vor allem aber zwei mögliche Modelle immanenter Kritik - das "hermeneutische" und das "praxisbasierte Modell" - vorgestellt und anhand der wichtigsten Positionen im Detail diskutiert. Für die hermeneutisch vorgehende immanente Kritik sind Michael Walzer, Charles Taylor und Alasdair MacIntyre die Gesprächspartner, während für die praxisbasierte immanente Kritik mit Jürgen Habermas und Axel Honneth die wichtigsten gegenwärtigen Vertreter der Kritischen Theorie als Beispiele dienen sollen. Im Hinblick auf beide Theoriemodelle wird sich zeigen, dass sowohl die Idee, dass die immanenten Normen aus einem Prozess der Interpretation zu gewinnen seien, als auch die Idee, dass Normen in Interaktionsverhältnissen "immanent sind", jeweils auf bestimmte Formen sozialer Praxis verweist, deren normkonstitutive Funktion jedoch unklar bleibt. Im zweiten Teil wird versucht werden, diesen Mangel zu beheben. Dabei werde ich mich auf zwei Diskussionen stützen, die zwar nicht zur kritischen Sozialphilosophie im engeren Sinne gehören, die aber für diese höchst relevant sind. Zunächst werde ich anhand der aktuellen Debatte um kollektive Intentionalität zu zeigen versuchen, dass Phänomene der kollektiven Festlegung auf Überzeugungen oder Absichten, die hinreichend dafür sein könnten, Gruppen die Akzeptanz bestimmter Normen zu unterstellen, am besten als normative Phänomene sozialer Praxis verstanden werden. Darauf aufbauend werde ich die Frage diskutieren, was es eigentlich heißt, dass sich Personen in einer sozialen Praxis an einer Norm orientieren. Diese ursprünglich von Wittgenstein aufgeworfene Frage führt zu der Idee, ein Anerkennungsmodell sozialer Praktiken zu entwickeln. Dabei ist, kurz gesagt, der Gedanke leitend, dass Normen in sozialen Praktiken dadurch immanent gelten, dass sich die Mitglieder dieser Praktiken eine bestreitbare Standardautorität der Bewertung zuschreiben, die aber auch immer mit der kollektiven Akzeptanz bestimmter Normen verbunden sein muss. Im dritten Teil wird schließlich die Frage im Mittelpunkt stehen, ob die Idee der immanenten Kritik auf der Grundlage eines Praxismodells plausibel gemacht werden kann und ob dadurch sogar noch weitere, radikalere Formen der Kritik verständlich gemacht werden können.

Einleitung Im September 1843 schreibt Karl Marx aus Bad Kreuznach - wo er nur kurze Zeit zuvor Jenny von Westphalen geheiratet hatte - einen Brief an seinen Freund Arnold Ruge, in dem er sich über die gegenwärtige Lage der philosophischen Gesellschaftskritik beklagt. In der Vergangenheit, so Marx, sei die Philosophie stets von der Vorstellung geprägt gewesen, dass die Auflösung aller Rätsel in ihrem Pulte [liege], und die dumme exoterische Welt […] nur das Maul aufzusperren [hatte], damit ihr die gebratenen Tauben der absoluten Wissenschaft in den Mund flogen. Auch wenn er es als Verbesserung beschreibt, dass die Philosophie im Begriff sei, diese dogmatische Sicht auf ihre eigene Rolle zu überwinden, beklagt er doch, dass jetzt eine gewisse "Anarchie" unter den Reformern seiner Zeit ausgebrochen sei. Es herrsche insbesondere Verwirrung bezüglich der richtigen Inhalte einer philosophischen Kritik. Diese Verwirrung verdankt sich jedoch, so Marx, einem methodischen Fortschritt, den er zu seiner Vollendung zu bringen beabsichtigt. Dieser methodische Fortschritt besteht darin, dass sich eine neue Form der Kritik entwickelt. Es ist das kennzeichnende Prinzip dieser neuen Form der Kritik, so Marx, daß wir nicht dogmatisch die Welt antizipieren, sondern erst aus der Kritik der alten Welt die neue finden wollen. Bei der von Marx beschriebenen, neuen Art der Kritik handelt es sich also um eine Kritik, die nicht in dem Sinne dogmatisch verfährt, dass sie zunächst rein theoretisch, ohne Bezug auf die empirische Realität bestimmte normative oder moralische Prinzipien entwirft und diese dann erst in einem zweiten Schritt an die soziale Welt heranträgt. Vielmehr soll diese neue Kritik die soziale Realität, wie sie ist, ernst nehmen, und aus dieser sozialen Realität selbst die Normen gewinnen, die die "neue" Welt regieren sollen. Eine solche nicht-dogmatische Kritik muss sich also als eine Kritik verstehen, die aus den bestehenden sozialen und philosophischen Verhältnissen kritische Prinzipien entwickelt, die in diesen Verhältnissen in irgendeinem, noch zu erklärenden Sinne bereits angelegt sind. Zugleich soll eine solche Kritik aber diese bestehenden Verhältnisse weiterhin transzendieren, also wirkliche Kritik bleiben. Beim Schreiben dieser Zeilen hatte Marx sicher nicht die Absicht, die bisherige Philosophie dafür zu kritisieren, dass sie zu radikal gewesen sei. Eine nicht-dogmatische Kritik kann (und muss) aus seiner Sicht die Normen der real existierenden Gesellschaft durchaus ablehnen. Wenn die neue Form der Kritik ihre Normen aus der Kritik der alten Welt entwickelt, kann es daher nicht darum gehen, die existierenden Vorstellungen davon, wie Menschen leben sollen, bloß aufzugreifen. Vielmehr sollen aus den Potenzialen der existierenden sozialen Verhältnisse neue Normen geschöpft werden. Wie genau dies zu verstehen ist, erfahren wir in diesem Brief aber nicht. Auch wenn also keineswegs klar ist, was genau die Vorgehensweise dieser neuen Form der Kritik auszeichnet, sollte sich das von Marx angedeutete Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Theorie für die weitere Geschichte der Kritischen Theorie als prägend erweisen: Die verschiedenen Generationen und Ansätze dieser Tradition sind nicht dadurch verbunden, dass sie sich stets auf die gleichen normativen Maßstäbe beziehen oder gar dieselben politischen Veränderungen angestrebt hätten. Sie teilen vielmehr eine methodische Annahme. Dabei handelt es sich um die Festlegung darauf, dass die kritische Sozialphilosophie ihre Prinzipien nicht unabhängig von der sozialen Realität entwickeln darf, sondern dass sie sich als Aufklärung der sozialen Realität über sich selbst verstehen muss. Diese Methode ist die Methode der immanenten Gesellschaftskritik. Auch wenn die Festlegung darauf, immanente Kritik zu betreiben, bis heute den methodischen Kern kritischer Theorien ausmacht, wurde nur selten im Vokabular der jeweils zeitgenössischen Philosophie zu rekonstruieren versucht, was dies genau bedeutet. Die Methode der immanenten Kritik ist in den vergangenen Jahrzehnten zwar für viele Theorien weiterhin ein traditionsbildender Referenzpunkt geblieben. Weil aber die ihr zugrunde liegenden metaphysischen, epistemologischen und politischen Annahmen sich nicht im zeitgenössischen philosophischen Vokabular verstehen lassen, spielen explizit ausgearbeitete Modelle der immanenten Kritik im Marx'schen Sinne heute - jenseits derjenigen Theorien, die aus politischen Gründen eine dementsprechende Verpflichtung betonen - im philosophischen Alltagsgeschäft keine Rolle. Wieso also die Frage wieder aufgreifen, was immanente Kritik ist? Wenn ein solches Projekt kein bloßes Geschäft der Traditionspflege sein soll, muss gezeigt werden, dass es philosophische, gesellschaftstheoretische und politische Probleme gibt, die ein Modell der immanenten Kritik besser lösen kann als andere Theorien. Erst wenn dies gezeigt wurde, ist es überhaupt sinnvoll, danach zu fragen, welche Aspekte der Idee einer immanenten Kritik der Erläuterung bedürfen, damit diese Idee in der heutigen philosophischen Debatte einen produktiven Bezugspunkt bilden kann. Was könnte also eine Theorie der immanenten Kritik leisten? Zunächst ist bemerkenswert, dass in der politischen Philosophie seit einigen Jahren das Interesse an den philosophischen Grundlagen der Gesellschaftskritik in Kontexten neu erwacht ist, in denen der Bezug auf eine Idee der "immanenten Kritik" keine Rolle spielt. Auslöser für diese Debatte um die Grundlagen der Kritik waren vor allem das Werk Michael Walzers und die Kontroversen um die Gerechtigkeitstheorie von John Rawls. Einige der Probleme, die diese Debatte antreiben, könnten möglicherweise gelöst werden, wenn es gelänge, die Idee der immanenten Kritik so zu reformulieren, dass sie den Ansprüchen genügen kann, die wir heute an philosophische Theorien der Kritik stellen. Das zentrale Problem, um das es in den entsprechenden Auseinandersetzungen geht, liegt in der Annahme begründet, dass die Aktivität der Gesellschaftskritik immer voraussetzt, dass die dabei erhobenen Forderungen gegenüber den Personen gerechtfertigt werden müssen, an die sich die Kritik wendet. Das Beharren auf der Notwendigkeit von Rechtfertigungen ist nicht - wie man vermuten könnte - eine rein normative Forderung dahingehend, wie Gesellschaftskritik sein sollte: Zumindest in den modernen Gesellschaften des Westens ist der öffentliche Diskurs so verfasst, dass prinzipiell keine Strategie der Kritik Zustimmung bei ihren Adressaten finden kann, die dieses Problem nicht in einer glaubwürdigen Weise bearbeitet. Der Anspruch, dass Gesellschaftskritik rechtfertigende Gründe vorbringen muss, ist in den sozialen Praktiken dieser Gesellschaften irreversibel institutionalisiert. Gesellschaftskritik sollte also nicht nur aus moralischen Gründen immer gerechtfertigt werden, sie muss auch gerechtfertigt werden, wenn sie etwas erreichen will. In vielen Fällen reicht es für eine solche Rechtfertigung aber nicht aus, dass die Kritikerinnen und Kritiker einer Gesellschaft die Gründe, die sie zur Kritik bewegen, einfach nur offenlegen. Immer wenn in unseren Gesellschaften Einzelne oder Gruppen bestimmte Gründe dafür vorbringen, dass sich diese Gesellschaften ändern sollen, wird früher oder später die Frage gestellt werden, wieso gerade diese Gründe und nicht andere maßgeblich für alle Mitglieder der jeweiligen Gesellschaft sein sollen. Es wird also nicht nur auf die Frage eine Antwort verlangt, welche konkreten Gründe es für eine bestimmte Kritik an spezifischen sozialen Praktiken gibt, sondern welche Form von Gründen überhaupt dafür geeignet ist, die Praktiken einer Gesellschaft oder einer sozialen Gruppe zu kritisieren. Wenn wir mit anderen in ein Gespräch darüber eintreten, welche Gründe überhaupt geeignete Gründe dafür sein können, unsere Gesellschaften zu kritisieren, dann ist die Gesellschaftskritik schon auf dem Weg dahin, ihre eigenen Grundlagen zu thematisieren und damit reflexiv zu werden. Gesellschaftskritik muss früher oder später nach ihren eigenen Kriterien suchen und die Praktiken hinterfragen, auf die sie sich stützt. Dieses Problem wird dann besonders drängend, wenn Kritikerinnen und Kritiker nicht nur bestimmte, bereits allgemein akzeptierte Normen anwenden, sondern die Frage aufwerfen, ob diese Normen, oder die Weise, in der sie entstanden sind, interpretiert werden und in Anspruch genommen werden, nicht selbst kritikwürdig ist - wenn also nicht nur eine bestimmte Praxis an einer vorab anerkannten Norm gemessen werden soll, sondern beide Elemente, Norm und Praxis, in Hinblick auf ihre Richtigkeit hinterfragt werden sollen. Wenn diese Möglichkeit einer Kritik an Praxis und Normen erwogen wird, zeigt sich, dass die Gesellschaftskritik vor einem Dilemma steht: Wenn wir davon ausgehen, dass wir nur dann gerechtfertigt sind, andere dafür zu kritisieren, dass sie bestimmte Normen nicht einhalten, wenn diese anderen diesen Normen zuvor zugestimmt haben, dann stellt sich nicht nur das Problem, dass es nur wenige Normen gibt, die in pluralistischen Gesellschaften von allen Personen geteilt werden. Es kann auch eingewendet werden, dass die Gesellschaftskritik dann scheinbar keine Handhabe gegen die vielfältigen Formen von Unterdrückung, Diskriminierung oder Unrecht hat, die nicht nur de facto stattfinden, sondern die aus Praktiken bestehen, zu denen es eben gerade auch gehört, dass Personen schlechten Normen zustimmen. Wenn wir etwa an rassistische oder frauenfeindliche Praktiken denken, dann gehört gerade der Umstand, dass diejenigen, die diese Praktiken durchsetzen, rassistische und frauenfeindliche Normen akzeptieren, zu den Gesichtspunkten, die diese Praktiken schlecht machen. Wir können uns also nicht damit zufriedengeben, Personen nur an den von ihnen akzeptierten Normen zu messen. Wenn wir jedoch davon ausgehen, dass wir dieses strenge Kriterium nicht erfüllen müssen und auch dann Praktiken kritisieren dürfen, wenn die Normen, die unsere Kritik motivieren, von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern dieser Praktiken nicht geteilt werden, dann scheint dies aber nicht nur der dogmatischen Einführung von Normen aus einer schwer begründbaren paternalistischen Perspektive Tür und Tor zu öffnen. Wir scheinen durch eine solche Strategie auch jedes auf die konkrete Gesellschaft bezogene Kriterium dafür zu verlieren, welche Normen die gerade für diese Gesellschaft relevanten Normen sind. Damit scheinen wir wieder die dogmatische Form der Kritik zu üben, die mit Marx' Worten die Auflösung aller Rätsel immer schon kennt. Wenn wir dieses Dilemma ernst nehmen, ist leicht zu sehen, dass es für diese Debatten einen Gewinn darstellen würde, wenn es gelänge zu zeigen, dass wir eine Form der Kritik üben können, die nicht einfach die akzeptierten Normen unterschreibt - die also nicht rein "intern" verfährt -, die sich aber dennoch auf die normativen Potenziale dieser Gesellschaft bezieht - die also nicht zu einer dogmatisch-"externen" Kritik wird. Mit anderen Worten: Das Modell der immanenten Kritik, also einer Kritik, die aus der gesellschaftlichen Realität Normen rekonstruiert, die zu einer transzendierenden Kritik dieser Realität dienen können, wäre, wenn es methodisch gerechtfertigt werden könnte, eine attraktive Option. Wenn wir immanente Kritik als eine Bezugnahme auf normative Potenziale verstehen, die bereits in der gesellschaftlichen Realität angelegt, aber noch nicht anerkannt oder gar verwirklicht sind, dann kann eine solche Form der Kritik sowohl die Perspektive einer nur "internen" Explikation der jeweils anerkannten Normen als auch die Herangehensweise einer "externen" Begründung neuer Prinzipien ergänzen. Sie kann erstens den Ideologieverdacht vermeiden, der stets gegenüber der Annahme besteht, dass Kritiker eine überlegene Einsicht in vom Einverständnis der Betroffenen unabhängig gültige Normen haben. Sie kann also der Einsicht recht geben, dass wir im Rahmen der Gesellschaftskritik nur die Erfüllung derjenigen Pflichten voneinander fordern können, die wir wechselseitig akzeptieren. Zweitens kann sie aber auch der Intuition Ausdruck verleihen, dass die jeweils akzeptierten Normen in einer Gesellschaft nicht immer das letzte Wort haben dürfen, wenn es darum geht, diese Gesellschaft zu kritisieren. Sie kann also die plausible Idee aufnehmen, dass nicht immer nur das eingefordert werden darf, was bereits akzeptiert ist, sondern dass wir manchmal von unseren Gesellschaften auch verlangen dürfen, neue, bisher nicht anerkannte Ansprüche zu akzeptieren. Auch wenn es also attraktiv erscheint, die Idee einer immanenten Kritik wieder aufzugreifen, kann das Verständnis dieser Idee, das von den Theorien von Hegel und Marx und von der ersten Generation der Kritischen Theorie jeweils unterschiedlich, aber doch auch in weitgehender Kontinuität entwickelt wurde, nicht unkritisch reaktualisiert werden. Nicht nur die politischen Annahmen hinsichtlich der Akteure der Gesellschaftskritik und der relevanten Praktiken, die im frühen Marxismus und der Kritischen Theorie noch als plausibel vorausgesetzt werden konnten, haben sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts als fragwürdig herausgestellt, auch auf die philosophische Überzeugungskraft der dort entwickelten Modelle kann heute kaum mehr vertraut werden. Sowohl in Hinsicht auf die Metaphysik der unterstellten normativen Tatsachen als auch im Hinblick auf die Begründungsstrategien ist dieses Verständnis nicht ohne Weiteres in dem Vokabular der gegenwärtigen Philosophie rekonstruierbar. Eine Rechtfertigung der Methode der immanenten Kritik, die diese Unklarheiten dogmatisch ignorierte, würde daher in gewisser Weise ihren eigenen Anspruch verfehlen: Auch die Begründung dieser Methode sollte nicht erfordern, all jene methodischen und inhaltlichen Überzeugungen über Bord zu werfen, die die besten zeitgenössischen Selbstverständnisse der Philosophie mit sich bringen, und gewissermaßen selbst einen externen Standpunkt vorauszusetzen. Die vorliegende Arbeit verfolgt aus diesem Grund die Absicht, die Idee der immanenten Kritik in neuer Weise zu rechtfertigen, indem sie ihre Voraussetzungen auf der Basis heutiger philosophischer Theorien verständlich zu machen versucht. Ihr Vorschlag lautet, dass die immanente Gesellschaftskritik in den sozialen Praktiken von sozialen Gruppen oder Gemeinschaften und Gesellschaften normative Potenziale finden kann, die eine radikale Kritik erlauben. Soziale Praktiken als normativ geregelte Interaktionszusammenhänge - so die Idee, die ich im Folgenden vertreten werde - können aber nur dadurch existieren, dass die Individuen, die sie reproduzieren, sich einander mit einer spezifischen Haltung der Anerkennung begegnen. Ohne Bezug auf diese Haltung, so die These, kann die Geltung immanenter Normen nicht erklärt werden, deren Verwirklichung die "offiziellen" Regeln der jeweiligen Gruppe zumindest prinzipiell transzendieren kann. Um diesen Vorschlag zu begründen, reicht es jedoch nicht aus, nur die klassischen Fragen der Gesellschaftskritik und der Kritischen Theorie in den Blick zu nehmen, sondern es ist notwendig, das Gebiet der Sozialontologie zu betreten. Dies hat folgenden Grund: Wenn die Frage gestellt werden soll, ob es etwas "in" Gesellschaften gibt, das Kritiker heranziehen können, um die Grundlage für eine Kritik zu gewinnen, die über die explizit vertretenen Normen hinausgeht, dann muss zunächst geklärt werden, welche sozialen Phänomene, Tatsachen oder Entitäten dafür infrage kommen und in welcher Weise Behauptungen über sie gerechtfertigt werden können. Es geht also zunächst darum zu etablieren, dass es überhaupt eine Klasse von Sachverhalten gibt, die dazu geeignet sind, die Basis für die immanente Gesellschaftskritik zu bilden. Diese sozialontologische Rechtfertigung der immanenten Kritik ist der Gegenstand dieser Arbeit. Ihre Grundfrage lautet: In welchem Sinne existieren in der sozialen Realität die normativen Potenziale, die die immanente Gesellschaftskritik aufnehmen können soll? Mein Vorschlag wird lauten, diese Frage so zu beantworten, dass diese normativen Potenziale in sozialen Praktiken zu finden sind, die durch wechselseitige Anerkennung konstituiert werden. Dieser Vorschlag soll als Versuch verstanden werden, der Intuition Ausdruck zu verleihen, dass es die Menschen selbst sind, die es in der Hand haben, sich nicht nur Normen zu geben, sondern sich auch an diesen Normen zu messen. Zugleich folgt daraus aber auch, dass ihnen die soziale Existenz, die sie diesen Normen geben, nicht völlig kognitiv transparent und intentional zugänglich ist, sondern immer auch den Rahmen ihres Handelns und Überlegens begrenzt. Diese Überlegungen werden in der vorliegenden Arbeit in drei Schritten verfolgt. Im ersten Teil werden einige Grundbegriffe geklärt, vor allem aber zwei mögliche Modelle immanenter Kritik - das "hermeneutische" und das "praxisbasierte Modell" - vorgestellt und anhand der wichtigsten Positionen im Detail diskutiert. Für die hermeneutisch vorgehende immanente Kritik sind Michael Walzer, Charles Taylor und Alasdair MacIntyre die Gesprächspartner, während für die praxisbasierte immanente Kritik mit Jürgen Habermas und Axel Honneth die wichtigsten gegenwärtigen Vertreter der Kritischen Theorie als Beispiele dienen sollen. Im Hinblick auf beide Theoriemodelle wird sich zeigen, dass sowohl die Idee, dass die immanenten Normen aus einem Prozess der Interpretation zu gewinnen seien, als auch die Idee, dass Normen in Interaktionsverhältnissen "immanent sind", jeweils auf bestimmte Formen sozialer Praxis verweist, deren normkonstitutive Funktion jedoch unklar bleibt. Im zweiten Teil wird versucht werden, diesen Mangel zu beheben. Dabei werde ich mich auf zwei Diskussionen stützen, die zwar nicht zur kritischen Sozialphilosophie im engeren Sinne gehören, die aber für diese höchst relevant sind. Zunächst werde ich anhand der aktuellen Debatte um kollektive Intentionalität zu zeigen versuchen, dass Phänomene der kollektiven Festlegung auf Überzeugungen oder Absichten, die hinreichend dafür sein könnten, Gruppen die Akzeptanz bestimmter Normen zu unterstellen, am besten als normative Phänomene sozialer Praxis verstanden werden. Darauf aufbauend werde ich die Frage diskutieren, was es eigentlich heißt, dass sich Personen in einer sozialen Praxis an einer Norm orientieren. Diese ursprünglich von Wittgenstein aufgeworfene Frage führt zu der Idee, ein Anerkennungsmodell sozialer Praktiken zu entwickeln. Dabei ist, kurz gesagt, der Gedanke leitend, dass Normen in sozialen Praktiken dadurch immanent gelten, dass sich die Mitglieder dieser Praktiken eine bestreitbare Standardautorität der Bewertung zuschreiben, die aber auch immer mit der kollektiven Akzeptanz bestimmter Normen verbunden sein muss. Im dritten Teil wird schließlich die Frage im Mittelpunkt stehen, ob die Idee der immanenten Kritik auf der Grundlage eines Praxismodells plausibel gemacht werden kann und ob dadurch sogar noch weitere, radikalere Formen der Kritik verständlich gemacht werden können.

Einleitung Im September 1843 schreibt Karl Marx aus Bad Kreuznach - wo er nur kurze Zeit zuvor Jenny von Westphalen geheiratet hatte - einen Brief an seinen Freund Arnold Ruge, in dem er sich über die gegenwärtige Lage der philosophischen Gesellschaftskritik beklagt. In der Vergangenheit, so Marx, sei die Philosophie stets von der Vorstellung geprägt gewesen, dass die Auflösung aller Rätsel in ihrem Pulte [liege], und die dumme exoterische Welt [...] nur das Maul aufzusperren [hatte], damit ihr die gebratenen Tauben der absoluten Wissenschaft in den Mund flogen. Auch wenn er es als Verbesserung beschreibt, dass die Philosophie im Begriff sei, diese dogmatische Sicht auf ihre eigene Rolle zu überwinden, beklagt er doch, dass jetzt eine gewisse "Anarchie" unter den Reformern seiner Zeit ausgebrochen sei. Es herrsche insbesondere Verwirrung bezüglich der richtigen Inhalte einer philosophischen Kritik. Diese Verwirrung verdankt sich jedoch, so Marx, einem methodischen Fortschritt, den er zu seiner Vollendung zu bringen beabsichtigt. Dieser methodische Fortschritt besteht darin, dass sich eine neue Form der Kritik entwickelt. Es ist das kennzeichnende Prinzip dieser neuen Form der Kritik, so Marx, daß wir nicht dogmatisch die Welt antizipieren, sondern erst aus der Kritik der alten Welt die neue finden wollen. Bei der von Marx beschriebenen, neuen Art der Kritik handelt es sich also um eine Kritik, die nicht in dem Sinne dogmatisch verfährt, dass sie zunächst rein theoretisch, ohne Bezug auf die empirische Realität bestimmte normative oder moralische Prinzipien entwirft und diese dann erst in einem zweiten Schritt an die soziale Welt heranträgt. Vielmehr soll diese neue Kritik die soziale Realität, wie sie ist, ernst nehmen, und aus dieser sozialen Realität selbst die Normen gewinnen, die die "neue" Welt regieren sollen. Eine solche nicht-dogmatische Kritik muss sich also als eine Kritik verstehen, die aus den bestehenden sozialen und philosophischen Verhältnissen kritische Prinzipien entwickelt, die in diesen Verhältnissen in irgendeinem, noch zu erklärenden Sinne bereits angelegt sind. Zugleich soll eine solche Kritik aber diese bestehenden Verhältnisse weiterhin transzendieren, also wirkliche Kritik bleiben. Beim Schreiben dieser Zeilen hatte Marx sicher nicht die Absicht, die bisherige Philosophie dafür zu kritisieren, dass sie zu radikal gewesen sei. Eine nicht-dogmatische Kritik kann (und muss) aus seiner Sicht die Normen der real existierenden Gesellschaft durchaus ablehnen. Wenn die neue Form der Kritik ihre Normen aus der Kritik der alten Welt entwickelt, kann es daher nicht darum gehen, die existierenden Vorstellungen davon, wie Menschen leben sollen, bloß aufzugreifen. Vielmehr sollen aus den Potenzialen der existierenden sozialen Verhältnisse neue Normen geschöpft werden. Wie genau dies zu verstehen ist, erfahren wir in diesem Brief aber nicht. Auch wenn also keineswegs klar ist, was genau die Vorgehensweise dieser neuen Form der Kritik auszeichnet, sollte sich das von Marx angedeutete Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Theorie für die weitere Geschichte der Kritischen Theorie als prägend erweisen: Die verschiedenen Generationen und Ansätze dieser Tradition sind nicht dadurch verbunden, dass sie sich stets auf die gleichen normativen Maßstäbe beziehen oder gar dieselben politischen Veränderungen angestrebt hätten. Sie teilen vielmehr eine methodische Annahme. Dabei handelt es sich um die Festlegung darauf, dass die kritische Sozialphilosophie ihre Prinzipien nicht unabhängig von der sozialen Realität entwickeln darf, sondern dass sie sich als Aufklärung der sozialen Realität über sich selbst verstehen muss. Diese Methode ist die Methode der immanenten Gesellschaftskritik. Auch wenn die Festlegung darauf, immanente Kritik zu betreiben, bis heute den methodischen Kern kritischer Theorien ausmacht, wurde nur selten im Vokabular der jeweils zeitgenössischen Philosophie zu rekonstruieren versucht, was dies genau bedeutet. Die Methode der immanenten Kritik ist in den vergangenen Jahrzehnten zwar für viele Theorien weiterhin ein traditionsbildender Referenzpunkt geblieben. Weil aber die ihr zugrunde liegenden metaphysischen, epistemologischen und politischen Annahmen sich nicht im zeitgenössischen philosophischen Vokabular verstehen lassen, spielen explizit ausgearbeitete Modelle der immanenten Kritik im Marx'schen Sinne heute - jenseits derjenigen Theorien, die aus politischen Gründen eine dementsprechende Verpflichtung betonen - im philosophischen Alltagsgeschäft keine Rolle. Wieso also die Frage wieder aufgreifen, was immanente Kritik ist? Wenn ein solches Projekt kein bloßes Geschäft der Traditionspflege sein soll, muss gezeigt werden, dass es philosophische, gesellschaftstheoretische und politische Probleme gibt, die ein Modell der immanenten Kritik besser lösen kann als andere Theorien. Erst wenn dies gezeigt wurde, ist es überhaupt sinnvoll, danach zu fragen, welche Aspekte der Idee einer immanenten Kritik der Erläuterung bedürfen, damit diese Idee in der heutigen philosophischen Debatte einen produktiven Bezugspunkt bilden kann. Was könnte also eine Theorie der immanenten Kritik leisten? Zunächst ist bemerkenswert, dass in der politischen Philosophie seit einigen Jahren das Interesse an den philosophischen Grundlagen der Gesellschaftskritik in Kontexten neu erwacht ist, in denen der Bezug auf eine Idee der "immanenten Kritik" keine Rolle spielt. Auslöser für diese Debatte um die Grundlagen der Kritik waren vor allem das Werk Michael Walzers und die Kontroversen um die Gerechtigkeitstheorie von John Rawls. Einige der Probleme, die diese Debatte antreiben, könnten möglicherweise gelöst werden, wenn es gelänge, die Idee der immanenten Kritik so zu reformulieren, dass sie den Ansprüchen genügen kann, die wir heute an philosophische Theorien der Kritik stellen. Das zentrale Problem, um das es in den entsprechenden Auseinandersetzungen geht, liegt in der Annahme begründet, dass die Aktivität der Gesellschaftskritik immer voraussetzt, dass die dabei erhobenen Forderungen gegenüber den Personen gerechtfertigt werden müssen, an die sich die Kritik wendet. Das Beharren auf der Notwendigkeit von Rechtfertigungen ist nicht - wie man vermuten könnte - eine rein normative Forderung dahingehend, wie Gesellschaftskritik sein sollte: Zumindest in den modernen Gesellschaften des Westens ist der öffentliche Diskurs so verfasst, dass prinzipiell keine Strategie der Kritik Zustimmung bei ihren Adressaten finden kann, die dieses Problem nicht in einer glaubwürdigen Weise bearbeitet. Der Anspruch, dass Gesellschaftskritik rechtfertigende Gründe vorbringen muss, ist in den sozialen Praktiken dieser Gesellschaften irreversibel institutionalisiert. Gesellschaftskritik sollte also nicht nur aus moralischen Gründen immer gerechtfertigt werden, sie muss auch gerechtfertigt werden, wenn sie etwas erreichen will. In vielen Fällen reicht es für eine solche Rechtfertigung aber nicht aus, dass die Kritikerinnen und Kritiker einer Gesellschaft die Gründe, die sie zur Kritik bewegen, einfach nur offenlegen. Immer wenn in unseren Gesellschaften Einzelne oder Gruppen bestimmte Gründe dafür vorbringen, dass sich diese Gesellschaften ändern sollen, wird früher oder später die Frage gestellt werden, wieso gerade diese Gründe und nicht andere maßgeblich für alle Mitglieder der jeweiligen Gesellschaft sein sollen. Es wird also nicht nur auf die Frage eine Antwort verlangt, welche konkreten Gründe es für eine bestimmte Kritik an spezifischen sozialen Praktiken gibt, sondern welche Form von Gründen überhaupt dafür geeignet ist, die Praktiken einer Gesellschaft oder einer sozialen Gruppe zu kritisieren. Wenn wir mit anderen in ein Gespräch darüber eintreten, welche Gründe überhaupt geeignete Gründe dafür sein können, unsere Gesellschaften zu kritisieren, dann ist die Gesellschaftskritik schon auf dem Weg dahin, ihre eigenen Grundlagen zu thematisieren und damit reflexiv zu werden. Gesellschaftskritik muss früher oder später nach ihren eigenen Kriterien suchen und die Praktiken hinterfragen, auf die sie sich stützt. Dieses Problem wird dann besonders drängend, wenn Kritikerinnen und Kritiker nicht nur bestimmte, bereits allgemein akzeptierte Normen anwenden, sondern die Frage aufwerfen, ob diese Normen, oder die Weise, in der sie entstanden sind, interpretiert werden und in Anspruch genommen werden, nicht selbst kritikwürdig ist - wenn also nicht nur eine bestimmte Praxis an einer vorab anerkannten Norm gemessen werden soll, sondern beide Elemente, Norm und Praxis, in Hinblick auf ihre Richtigkeit hinterfragt werden sollen. Wenn diese Möglichkeit einer Kritik an Praxis und Normen erwogen wird, zeigt sich, dass die Gesellschaftskritik vor einem Dilemma steht: Wenn wir davon ausgehen, dass wir nur dann gerechtfertigt sind, andere dafür zu kritisieren, dass sie bestimmte Normen nicht einhalten, wenn diese anderen diesen Normen zuvor zugestimmt haben, dann stellt sich nicht nur das Problem, dass es nur wenige Normen gibt, die in pluralistischen Gesellschaften von allen Personen geteilt werden. Es kann auch eingewendet werden, dass die Gesellschaftskritik dann scheinbar keine Handhabe gegen die vielfältigen Formen von Unterdrückung, Diskriminierung oder Unrecht hat, die nicht nur de facto stattfinden, sondern die aus Praktiken bestehen, zu denen es eben gerade auch gehört, dass Personen schlechten Normen zustimmen. Wenn wir etwa an rassistische oder frauenfeindliche Praktiken denken, dann gehört gerade der Umstand, dass diejenigen, die diese Praktiken durchsetzen, rassistische und frauenfeindliche Normen akzeptieren, zu den Gesichtspunkten, die diese Praktiken schlecht machen. Wir können uns also nicht damit zufriedengeben, Personen nur an den von ihnen akzeptierten Normen zu messen. Wenn wir jedoch davon ausgehen, dass wir dieses strenge Kriterium nicht erfüllen müssen und auch dann Praktiken kritisieren dürfen, wenn die Normen, die unsere Kritik motivieren, von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern dieser Praktiken nicht geteilt werden, dann scheint dies aber nicht nur der dogmatischen Einführung von Normen aus einer schwer begründbaren paternalistischen Perspektive Tür und Tor zu öffnen. Wir scheinen durch eine solche Strategie auch jedes auf die konkrete Gesellschaft bezogene Kriterium dafür zu verlieren, welche Normen die gerade für diese Gesellschaft relevanten Normen sind. Damit scheinen wir wieder die dogmatische Form der Kritik zu üben, die mit Marx' Worten die Auflösung aller Rätsel immer schon kennt. Wenn wir dieses Dilemma ernst nehmen, ist leicht zu sehen, dass es für diese Debatten einen Gewinn darstellen würde, wenn es gelänge zu zeigen, dass wir eine Form der Kritik üben können, die nicht einfach die akzeptierten Normen unterschreibt - die also nicht rein "intern" verfährt -, die sich aber dennoch auf die normativen Potenziale dieser Gesellschaft bezieht - die also nicht zu einer dogmatisch-"externen" Kritik wird. Mit anderen Worten: Das Modell der immanenten Kritik, also einer Kritik, die aus der gesellschaftlichen Realität Normen rekonstruiert, die zu einer transzendierenden Kritik dieser Realität dienen können, wäre, wenn es methodisch gerechtfertigt werden könnte, eine attraktive Option. Wenn wir immanente Kritik als eine Bezugnahme auf normative Potenziale verstehen, die bereits in der gesellschaftlichen Realität angelegt, aber noch nicht anerkannt oder gar verwirklicht sind, dann kann eine solche Form der Kritik sowohl die Perspektive einer nur "internen" Explikation der jeweils anerkannten Normen als auch die Herangehensweise einer "externen" Begründung neuer Prinzipien ergänzen. Sie kann erstens den Ideologieverdacht vermeiden, der stets gegenüber der Annahme besteht, dass Kritiker eine überlegene Einsicht in vom Einverständnis der Betroffenen unabhängig gültige Normen haben. Sie kann also der Einsicht recht geben, dass wir im Rahmen der Gesellschaftskritik nur die Erfüllung derjenigen Pflichten voneinander fordern können, die wir wechselseitig akzeptieren. Zweitens kann sie aber auch der Intuition Ausdruck verleihen, dass die jeweils akzeptierten Normen in einer Gesellschaft nicht immer das letzte Wort haben dürfen, wenn es darum geht, diese Gesellschaft zu kritisieren. Sie kann also die plausible Idee aufnehmen, dass nicht immer nur das eingefordert werden darf, was bereits akzeptiert ist, sondern dass wir manchmal von unseren Gesellschaften auch verlangen dürfen, neue, bisher nicht anerkannte Ansprüche zu akzeptieren. Auch wenn es also attraktiv erscheint, die Idee einer immanenten Kritik wieder aufzugreifen, kann das Verständnis dieser Idee, das von den Theorien von Hegel und Marx und von der ersten Generation der Kritischen Theorie jeweils unterschiedlich, aber doch auch in weitgehender Kontinuität entwickelt wurde, nicht unkritisch reaktualisiert werden. Nicht nur die politischen Annahmen hinsichtlich der Akteure der Gesellschaftskritik und der relevanten Praktiken, die im frühen Marxismus und der Kritischen Theorie noch als plausibel vorausgesetzt werden konnten, haben sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts als fragwürdig herausgestellt, auch auf die philosophische Überzeugungskraft der dort entwickelten Modelle kann heute kaum mehr vertraut werden. Sowohl in Hinsicht auf die Metaphysik der unterstellten normativen Tatsachen als auch im Hinblick auf die Begründungsstrategien ist dieses Verständnis nicht ohne Weiteres in dem Vokabular der gegenwärtigen Philosophie rekonstruierbar. Eine Rechtfertigung der Methode der immanenten Kritik, die diese Unklarheiten dogmatisch ignorierte, würde daher in gewisser Weise ihren eigenen Anspruch verfehlen: Auch die Begründung dieser Methode sollte nicht erfordern, all jene methodischen und inhaltlichen Überzeugungen über Bord zu werfen, die die besten zeitgenössischen Selbstverständnisse der Philosophie mit sich bringen, und gewissermaßen selbst einen externen Standpunkt vorauszusetzen. Die vorliegende Arbeit verfolgt aus diesem Grund die Absicht, die Idee der immanenten Kritik in neuer Weise zu rechtfertigen, indem sie ihre Voraussetzungen auf der Basis heutiger philosophischer Theorien verständlich zu machen versucht. Ihr Vorschlag lautet, dass die immanente Gesellschaftskritik in den sozialen Praktiken von sozialen Gruppen oder Gemeinschaften und Gesellschaften normative Potenziale finden kann, die eine radikale Kritik erlauben. Soziale Praktiken als normativ geregelte Interaktionszusammenhänge - so die Idee, die ich im Folgenden vertreten werde - können aber nur dadurch existieren, dass die Individuen, die sie reproduzieren, sich einander mit einer spezifischen Haltung der Anerkennung begegnen. Ohne Bezug auf diese Haltung, so die These, kann die Geltung immanenter Normen nicht erklärt werden, deren Verwirklichung die "offiziellen" Regeln der jeweiligen Gruppe zumindest prinzipiell transzendieren kann. Um diesen Vorschlag zu begründen, reicht es jedoch nicht aus, nur die klassischen Fragen der Gesellschaftskritik und der Kritischen Theorie in den Blick zu nehmen, sondern es ist notwendig, das Gebiet der Sozialontologie zu betreten. Dies hat folgenden Grund: Wenn die Frage gestellt werden soll, ob es etwas "in" Gesellschaften gibt, das Kritiker heranziehen können, um die Grundlage für eine Kritik zu gewinnen, die über die explizit vertretenen Normen hinausgeht, dann muss zunächst geklärt werden, welche sozialen Phänomene, Tatsachen oder Entitäten dafür infrage kommen und in welcher Weise Behauptungen über sie gerechtfertigt werden können. Es geht also zunächst darum zu etablieren, dass es überhaupt eine Klasse von Sachverhalten gibt, die dazu geeignet sind, die Basis für die immanente Gesellschaftskritik zu bilden. Diese sozialontologische Rechtfertigung der immanenten Kritik ist der Gegenstand dieser Arbeit. Ihre Grundfrage lautet: In welchem Sinne existieren in der sozialen Realität die normativen Potenziale, die die immanente Gesellschaftskritik aufnehmen können soll? Mein Vorschlag wird lauten, diese Frage so zu beantworten, dass diese normativen Potenziale in sozialen Praktiken zu finden sind, die durch wechselseitige Anerkennung konstituiert werden. Dieser Vorschlag soll als Versuch verstanden werden, der Intuition Ausdruck zu verleihen, dass es die Menschen selbst sind, die es in der Hand haben, sich nicht nur Normen zu geben, sondern sich auch an diesen Normen zu messen. Zugleich folgt daraus aber auch, dass ihnen die soziale Existenz, die sie diesen Normen geben, nicht völlig kognitiv transparent und intentional zugänglich ist, sondern immer auch den Rahmen ihres Handelns und Überlegens begrenzt. Diese Überlegungen werden in der vorliegenden Arbeit in drei Schritten verfolgt. Im ersten Teil werden einige Grundbegriffe geklärt, vor allem aber zwei mögliche Modelle immanenter Kritik - das "hermeneutische" und das "praxisbasierte Modell" - vorgestellt und anhand der wichtigsten Positionen im Detail diskutiert. Für die hermeneutisch vorgehende immanente Kritik sind Michael Walzer, Charles Taylor und Alasdair MacIntyre die Gesprächspartner, während für die praxisbasierte immanente Kritik mit Jürgen Habermas und Axel Honneth die wichtigsten gegenwärtigen Vertreter der Kritischen Theorie als Beispiele dienen sollen. Im Hinblick auf beide Theoriemodelle wird sich zeigen, dass sowohl die Idee, dass die immanenten Normen aus einem Prozess der Interpretation zu gewinnen seien, als auch die Idee, dass Normen in Interaktionsverhältnissen "immanent sind", jeweils auf bestimmte Formen sozialer Praxis verweist, deren normkonstitutive Funktion jedoch unklar bleibt. Im zweiten Teil wird versucht werden, diesen Mangel zu beheben. Dabei werde ich mich auf zwei Diskussionen stützen, die zwar nicht zur kritischen Sozialphilosophie im engeren Sinne gehören, die aber für diese höchst relevant sind. Zunächst werde ich anhand der aktuellen Debatte um kollektive Intentionalität zu zeigen versuchen, dass Phänomene der kollektiven Festlegung auf Überzeugungen oder Absichten, die hinreichend dafür sein könnten, Gruppen die Akzeptanz bestimmter Normen zu unterstellen, am besten als normative Phänomene sozialer Praxis verstanden werden. Darauf aufbauend werde ich die Frage diskutieren, was es eigentlich heißt, dass sich Personen in einer sozialen Praxis an einer Norm orientieren. Diese ursprünglich von Wittgenstein aufgeworfene Frage führt zu der Idee, ein Anerkennungsmodell sozialer Praktiken zu entwickeln. Dabei ist, kurz gesagt, der Gedanke leitend, dass Normen in sozialen Praktiken dadurch immanent gelten, dass sich die Mitglieder dieser Praktiken eine bestreitbare Standardautorität der Bewertung zuschreiben, die aber auch immer mit der kollektiven Akzeptanz bestimmter Normen verbunden sein muss. Im dritten Teil wird schließlich die Frage im Mittelpunkt stehen, ob die Idee der immanenten Kritik auf der Grundlage eines Praxismodells plausibel gemacht werden kann und ob dadurch sogar noch weitere, radikalere Formen der Kritik verständlich gemacht werden können.

Erscheint lt. Verlag 18.4.2013
Reihe/Serie Theorie und Gesellschaft ; 78
Verlagsort Frankfurt
Sprache deutsch
Maße 140 x 213 mm
Gewicht 582 g
Einbandart kartoniert
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Sozialwissenschaften Soziologie Allgemeine Soziologie
Schlagworte Gesellschaftskritik • Gesellschaftstheorie • Kritik • Kritische Theorie • Normativität • Sozialontologie • Sozialphilosophie
ISBN-10 3-593-39856-7 / 3593398567
ISBN-13 978-3-593-39856-3 / 9783593398563
Zustand Neuware
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