Links und frei (eBook)
496 Seiten
Hoffmann und Campe (Verlag)
978-3-455-85039-0 (ISBN)
Die bewegende Autobiographie eines der bedeutendsten Politiker unseres Landes: Willy Brandt berichtet von den wichtigsten Stationen seines Lebenswegs in den dreißiger und vierziger Jahren, die ihn unter anderem ins skandinavische Exil führten - ein eindrucksvolles Dokument deutscher Zeitgeschichte.
Das persönlichste Buch Willy Brandts schildert dessen Werdegang der frühen Jahre: die Jugendzeit in Lübeck, die mit dem Zusammenbruch der ersten deutschen Demokratie und dem erzwungenen Exil für den noch nicht Zwanzigjährigen ihr Ende fand; die Jahre bis zum Kriegsausbruch, in denen der junge Linkssozialist Aufgaben in Oslo, Paris, Berlin und Barcelona wahrzunehmen hatte; die Fortsetzung des politischen und publizistischen Widerstands im skandinavischen Exil bis zum Kriegsende; und schließlich - nach der Rückkehr in die Heimat - die Übernahme politischer Verantwortung in der wiedererstandenen SPD. Ein anschaulicher Bericht darüber, wie Grundüberzeugungen entstanden, die das Leben eines großen Staatsmanns prägten.
Willy Brandt (geb. 1913 in Lübeck, gest. 1992 in Unkel) floh 1933 vor den Nazis nach Norwegen und leistete vom Exil aus Widerstand gegen den Faschismus. Von 1957 bis 1966 war er Regierender Bürgermeister von Berlin, ab 1964 Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. 1966 wurde er Außenminister, 1969 Bundeskanzler, der er bis 1974 blieb. Für seine Ostpolitik wurde er 1971 mit dem Friedensnobelpreis geehrt. Von 1976 an war er Präsident der Sozialistischen Internationale, seit 1977 Leiter der von ihm gegründeten Unabhängigen Kommission für Entwicklungsfragen.
OSLO
Über die Ostsee
Am 11. und 12. März 1933, am Rande der Konferenz in Dresden, wurden Vorbereitungen dafür getroffen, einige unserer Genossen ins Ausland zu schaffen, damit sie von dort aus die »illegale« Arbeit im Lande unterstützen könnten. Beim höchst geheimen Gespräch in einer Privatwohnung fiel mir die Aufgabe zu, einem der führenden Mitglieder unserer Gruppe – dem Publizisten Paul Frölich – nach Dänemark entkommen zu helfen. Von dort sollte er sich nach Norwegen begeben, um in Anlehnung an die Arbeiterpartei für einen Stützpunkt zu sorgen.
Einige Tage danach kam er nach Lübeck. Ich hatte vorbereitet, daß er (am 21. März) zur Insel Fehmarn gebracht wurde. Dort sollte er einen hilfsbereiten Fischer finden. Dieser Fluchtversuch mißlang. Frölich war aufgefallen. Er wurde auf der Insel in Landkirchen verhaftet. (Doch er hatte noch Glück: Im Dezember 1933 wurde er entlassen und von Freunden rasch über die tschechische Grenze gebracht. Im Februar 1934 sahen wir uns in Paris wieder.)
Nach dem mißlungenen Fehmarn-Transport war ich in Lübeck – auch aus anderen Gründen – nicht mehr annähernd sicher: So entschied die Reichsleitung – der Ausdruck wirkt heute fremd, doch er war damals nicht ungewöhnlich! –, ich solle trotz meiner jungen Jahre die Frölich zugedachte Aufgabe in Norwegen übernehmen. Ich bestätigte den Auftrag. Was er im einzelnen bedeuten und wie lange er mich von Deutschland fernhalten würde, konnte ich allerdings kaum ahnen. An einem der ersten Tage im April verließ ich Lübeck. Ein Fischkutter sollte mich von Travemünde über die Ostsee nach Dänemark bringen. Mein Großvater hatte mir 100 Reichsmark mitgegeben, die er von dem für mich angelegten Sparbuch abgehoben hatte. Meine Mutter war besorgt, doch sie verstand mich. Mein Halbbruder, vierzehn Jahre jünger als ich, wußte noch nicht, wovon die Rede war. Meine Freundin fühlte sich in der Pflicht für »die Sache«; sie folgte mir dann noch im Sommer nach Norwegen.
Nachdem ein politisch sympathisierender Fischer durch ein Mitglied unserer Gruppe vorbereitet worden war, fuhr ich zu ihm nach Travemünde. Er nahm mich freundlich in seinem kleinen Haus auf. Das Wetter war günstig und sprach dafür, noch in der Nacht mit seinem Schwiegersohn in See zu stechen. Vorher hätte das Unternehmen zweimal an einem Malheur scheitern können. Mit einem Angehörigen der Familie Johannsen ging ich leichtsinnig noch ein Glas Bier trinken. In der Gastwirtschaft stieß ich auf einen Bekannten, der – älter als ich – in der Arbeiterjugend eine kleine Führerfunktion hatte – jetzt äußerte er sich verdächtig freundlich über die Nazis. Vielleicht war er sogar einer von denen, die ihr Hakenkreuzabzeichen schon einige Zeit unter dem Revers getragen hatten? In Lübeck gab es nur wenige Überläufer. Von denen, die nach Tradition und Überzeugung in der deutschen Arbeiterbewegung verankert waren, sind auch anderswo nur wenige zu den Nazis gegangen.
Der einstige Genosse in der Travemünder Gastwirtschaft ließ sich ablenken. Er hat mich nicht denunziert. Die zweite, größere Gefahr: Bevor das Boot TRA 10 nach Mitternacht ablegte – ich war ein paar Stunden vorher an Bord gebracht und gut verstaut worden –, kam ein Zöllner zur Routinekontrolle. Wäre es nicht mehr Routine als Kontrolle gewesen, das Versteck hätte nichts genützt.
Die Überfahrt nach Rødbyhavn auf der dänischen Insel Lolland war stürmisch und unangenehm. Jedenfalls hat sie sich mir so eingeprägt. Der Fischer, der mich hinüberbrachte, erinnerte sich anders. Es habe sich um eine ganz ruhige Fahrt gehandelt, erzählte er, meine Seekrankheit sei Einbildung gewesen. Doch wer einmal richtig seekrank war, was bei mir nur in jungen Jahren vorkam, der wird das kaum vergessen. Im übrigen mag gerade ein solch kleines Beispiel – mit einem zugleich eklatanten und banalen Widerspruch – zeigen, was es mit den Schwierigkeiten des Sicherinnerns auf sich hat. (Man stelle sich vor: Mein hilfreicher »Fährmann« und ich hätten vor Gericht aussagen müssen!) Im übrigen war er mir gram, weil ich nach dem Krieg, aus Berlin, nicht viel von mir hören ließ. Es geschah auch sonst gelegentlich, daß alte, also frühe Weggefährten meinten, ich hätte mich besser an sie erinnern sollen. Ich bin sicher, daß ich mich von Versäumnissen nicht freisprechen kann. Oft mag die erwartete Aufmerksamkeit an meiner Abneigung gescheitert sein, vor allem aus der persönlichen Vergangenheit zu leben. Außerdem: Wenn man halbwegs bekannt geworden ist, kennt man bei weitem nicht alle Menschen, die einen zu kennen glauben. Die Fähigkeit zur Wahrnehmung flüchtiger Kontakte ist begrenzt, auch für einen Menschen mit einem ziemlich guten Gedächtnis. Dennoch hätte ich Anlaß, darüber nachzudenken, ob Politiker – nicht viel anders als Künstler – von einer besonderen Egomanie heimgesucht werden: Die »Aufgabe«, die natürlich vom Ausdruck der eigenen Persönlichkeit nicht zu trennen ist, drängt oft die Teilnahme am Geschick von Gefährten und Bekannten beiseite. Dies kann manchmal nicht anders sein. Mir scheint es zu billig, dieses Dilemma, dem in einem produktiven und öffentlichen Leben kaum jemand entgeht, mit Phrasen oder Gesten wegzulügen. Doch ich meine, guten Gewissens sagen zu können, daß ich menschliche Bindungen nicht der politischen Opportunität oder den sogenannten Notwendigkeiten geopfert habe.
In Rødbyhavn, wohin ich mit dem Travemünder Fischkutter kam, war von Paßkontrolle keine Rede. Statt dessen wurde ich mit meinem Fährmann von einer Gruppe örtlicher Fischer eingeladen, uns am frühen Morgen mit ihrer Mischung von Aquavit und gezuckertem Kaffee zu stärken. (Bei den Norwegern hieß dies, wie ich erst noch zu lernen hatte, »Kaffeedoktor«.)
Von der Insel Lolland fuhr ich – mit einer dicken Aktentasche als einzigem Gepäckstück – per Bahn nach Kopenhagen. Dort meldete ich mich beim sozialdemokratischen Jugendverband und wurde für die nächsten Tage bei einem »linken« Parteijournalisten, dem Arbeiterdichter Oskar Hansen, einquartiert, der für die skandinavische Arbeiterbewegung einige Liedertexte schrieb, die niemand, der sie kannte, jemals ganz vergaß. Hansen, den ich im gemeinsamen schwedischen Exil wiedertraf, notierte freundliche Erinnerungen an meinen Besuch, doch er hat mich offensichtlich zeitweise mit einem anderen Gast verwechselt. Es habe ihn gewundert, schrieb er, daß »der nette Junge aus Lübeck« sich bei seiner Frau mit Handkuß eingeführt habe. Das wäre ja keine Schande gewesen, aber die Geste paßte nicht zu mir. Später mag ich in Anflügen von Unsicherheit über Stil und Form, vielleicht auch als Zuneigung, diese und jene Hand geküßt haben. Meine Art der Begrüßung war dieser Ausdruck mitteleuropäischer Höflichkeit nicht. Doch was hätte ich dagegen haben sollen, daß jemand, der mit dieser Manier aufwuchs, ihr auch treu blieb? Ein proletarisch aufgemachter Purismus hat mich nie überzeugt.
Die wenigen Tage in Dänemark bestätigten Eindrücke, die ich schon als Dreizehnjähriger gewonnen hatte, als mich eine nette Familie Nielsen in Vejle bei sich aufgenommen hatte. Auf den jungen Lübecker wirkte das nördliche Nachbarland, dessen Grenze buchstäblich vor den Toren seiner Stadt gelegen hatte – schon in jenen Jahren –, wenig fremd. Die Menschen erschienen mir relativ wohlhabend und ziemlich ausgeglichen.
In Kopenhagen belegte ich einen Dritte-Klasse-Platz auf dem Schiff nach Oslo. In meinem Paß aus dem Jahre 1931 fehlte der neu eingeführte Sichtvermerk, aber das wurde von den Norwegern nicht weiter beanstandet. Die ersten paar Wochen nahm mich eine liebenswürdige, liberale Familie am Stadtrand auf – ich hatte die Tochter auf dem Schiff kennengelernt und mich mit ihr ein wenig angefreundet. Für die nächsten Monate fand ich ein möbliertes Zimmer in einem einfachen und blitzblanken Arbeiterhaushalt.
Der erste politische Weg führte mich, am Tage nach meiner Ankunft, zu Finn Moe, dem Außenpolitiker in der Redaktion von »Arbeiderbladet«, dem mein Kommen aus Berlin – und aus Lübeck – avisiert worden war. Er, der leicht spöttelnd der »Reiseonkel« der Arbeiterpartei genannt wurde, war ein glatzköpfiger, stark bebrillter, geheimrätlicher Mann von dreißig Jahren, der sich in der Welt auskannte. In den kommenden Jahren fanden wir bei unseren häufigen Berührungen zu einem guten Verständnis – trotz unterschiedlichster Temperamente: Im Vergleich zu ihm war ich ein sprudelnder Südländer, er im Vergleich zu mir der Zögerer par excellence. Nach dem Krieg wurde Finn Moe Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Storting, dem norwegischen Parlament. Zeitweilig vertrat er sein Land bei den Vereinten Nationen, auch im Sicherheitsrat. Früher als andere bemühte er sich um engen Kontakt mit dem neuen Deutschland; und er gehörte zu den Politikern, die engagiert dafür arbeiteten, den Kalten Krieg zu überwinden und Wege der Entspannung zwischen Ost und West zu suchen.
Finn Moe gehörte noch dem Vorstand der Jugendorganisation an. Für das 14tägig erscheinende Blatt des Verbandes, in der Nummer zum 1. Mai 1933, schrieb ich meinen ersten norwegischen Artikel: natürlich radikal und von Illusionen ganz und gar nicht frei. Doch meine Einschätzung dessen, was kommen würde, war so abwegig nicht: Der Faschismus werde – so meinte ich – die Erschütterungen nicht überleben, die ein Krieg mit sich führe. Bald danach publizierte ich, zuerst bewußt nicht in der Parteipresse, Artikel, in denen nachgewiesen wurde, daß die Kriegsvorbereitungen rasch nach der Machtübernahme in Gang gekommen waren; ich stützte mich auf konkrete Informationen und begründete Annahmen.
Kein typischer Weg
Ich ging nicht schlechten Gewissens an Bord des...
Erscheint lt. Verlag | 4.10.2012 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Bundeskanzler • Exil • Sozialdemokratie • SPD • Widerstand |
ISBN-10 | 3-455-85039-1 / 3455850391 |
ISBN-13 | 978-3-455-85039-0 / 9783455850390 |
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