Die Erfindung der Kreativität (eBook)

Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung
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2012 | 1. Auflage
408 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74850-3 (ISBN)

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Die Erfindung der Kreativität -  Andreas Reckwitz
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'Be creative!' In der Gegenwartsgesellschaft haben sich die Anforderung und der Wunsch, kreativ zu sein und schöpferisch Neues hervorzubringen, in ungewöhnlichem Maße verbreitet. Was ehemals subkulturellen Künstlerzirkeln vorbehalten war, ist zu einem allgemeingültigen kulturellen Modell, ja zu einem Imperativ geworden. Andreas Reckwitz untersucht, wie im Laufe des 20. Jahrhunderts das Ideal der Kreativität forciert worden ist: in der Kunst der Avantgarde und Postmoderne, den 'creative industries' und der Innovationsökonomie, in der Psychologie der Kreativität und des Selbstwachstums sowie in der medialen Darstellung des kreativen Stars und der Stadtplanung der 'creative cities'. Es zeigt sich, daß wir in Zeiten eines ebenso radikalen wie restriktiven Prozesses gesellschaftlicher Ästhetisierung leben.

Andreas Reckwitz, geboren 1970, ist Professor für Allgemeine Soziologie und Kultursoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin und war Fellow im Thomas Mann House in Los Angeles. Sein Buch <em>Die Gesellschaft der Singularitäten</em> wurde 2017 mit dem Bayerischen Buchpreis ausgezeichnet und stand 2018 auf der Shortlist des Sachbuchpreises der Leipziger Buchmesse. 2019 erhielt er den Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Cover 1
Informationen zum Autor / Buch 2
Impressum 4
Inhalt 5
Einleitung: 
9 
1. Ästhetisierung und Kreativitätsdispositiv: 
20 
1.1 Ästhetische Praktiken 20
1.2 (Ent-)Ästhetisierungen und Moderne 30
1.3 Gesellschaftliche Regime des Neuen 38
1.4 Kreativität als Dispositiv 49
2. Künstlerische »Schöpfung« zwischen Geniesubjekt und Publikum: Die Formierung des modernen Kunstfeldes 54
2.1 Die Kunst als Form des Sozialen 54
2.2 Das Regime des Neuen der Kunst 60
Künstler-Kreateure 60
Das ästhetische Publikum 65
Das Paradox der Zertifizierung des Neuen 71
2.3 Grenzüberschreitungen und Delegitimierungen 
74 
Vie de bohème 75
Universalisierungsprogramme des Schöpferischen 77
Pathologisierungen des Ästhetischen 81
2.4 Das bürgerliche Kunstfeld 
84 
3. Zentrifugale Kunst: Die Selbstentgrenzung der Kunstpraktiken 90
3.1 Namuths Pollock 90
3.2 Externe und immanente Entgrenzungen 
95 
3.3 Avantgarde-Kreativität 98
Prozeduren und Automatismen 98
Materialisierungen und Technisierungen 102
Die Aktivierung des Rezipienten 107
3.4 Kreativität in der postmodernen Kunst 110
Appropriationsverfahren: Das relativ Neue 110
Vom Werk zum Ereignis: 
112 
3.5 Postmoderne Künstlersubjekte 115
Der Künstler als Arrangeur 115
Künstler-Performativität 119
3.6 Die Kunst als exemplarisches Format der Spätmoderne 123
4. Der Aufstieg der ästhetischen Ökonomie: Permanente Innovation, creative industries und Designökonomie 133
4.1 Das doppelte Paradox des Neuen und seine Auflösung 133
4.2 Bürgerliche Oppositionsnischen 
146 
Arts and Crafts 146
Der »divinatorische« Unternehmer als Innovator 149
4.3 Innovationspermanenz als Managementproblem 155
»Personality and organization« und 
155 
Die Innovationsökonomie und das Umweltproblem 159
4.4 Die Etablierung der creative industries 164
Die Mode 165
Die Werbung 171
Das Design 177
4.5 »Management by Design« 182
4.6 Die Ästhetisierung des Ökonomischen 
189 
5. Die Psychologisierung der Kreativität: Vom pathologischen Genie zur Normalisierung des Ressourcen-Selbst 198
5.1 Rorschachs Klecksbilder 198
5.2 Die psychologische Pathologisierung des »Genies« 202
5.3 »Kreativität« am Rande der Schulpsychologie 207
Psychoanalyse und Schöpfung: Zwischen Sublimation 
207 
Gestaltpsychologie und »produktives Denken« 211
5.4 Kreativität als psychologische Notwendigkeit 215
Sich selbst verwirklichen – die »self growth psychology« 215
Kreativität und Intelligenzforschung 222
5.5 Die Normalität der Kreativität: 
228 
5.6 Auf dem Weg zur kreativitätsorientierten 
233 
6. Die Genese des Starsystems: Die massenmediale Konstruktion expressiver Individualität 239
6.1 Das massenmediale Aufmerksamkeitsregime 241
6.2 Der Kunststar als performing self 247
6.3 Performance-Kreativität 252
Filmstars 254
Popstars 257
6.4 Die Expansion des Starsystems 262
7. Creative Cities: Die Kulturalisierung der Stadt 269
7.1 »Loft living« 269
7.2 Funktionale Stadt und kulturorientierte Stadt 274
7.3 Kritischer Urbanismus: 
280 
7.4 Merkmale der kulturorientierten Stadt 287
Ästhetisierte Stadtviertel 288
»Creative clusters« 294
Konsumräume und der touristische Blick 297
Musealisierung 300
7.5 Kulturorientierte Gouvernementalität 303
Die Planung von Differenzen und Atmosphären 303
Kulturplanung und ihre Grenzen 308
8. Ästhetisierungsgesellschaft: Strukturen, Dissonanzen, Alternativen 313
8.1 Der Affektmangel der Moderne 313
8.2 Grundstrukturen des Kreativitätsdispositivs 319
Ästhetische Sozialität 322
Ästhetische Mobilisierung 326
Aufmerksamkeitskultur des Neuen 330
8.3 Strukturelle Rahmenbedingungen: 
333 
Ökonomisierung und Ästhetisierung 335
Medialisierung und Ästhetisierung 338
Rationalisierung und Ästhetisierung 340
Limitierung statt Kolonialisierung 342
8.4 Dissonanzen kreativer Lebensführung 343
Der Leistungs- und Steigerungszwang der Kreativität 345
Diskrepanzen zwischen kreativer Leistung und Kreativerfolg 349
Aufmerksamkeitszerstreuungen 351
Ästhetisierungsüberdehnungen 353
8.5 Alternative Formen des Ästhetischen? 355
Künstlerkritik und Sozialkritik 355
Profane Kreativität 358
Alltagsästhetik der Wiederholung 362
Literaturverzeichnis 369
Ausführliches Inhaltsverzeichnis 405

9Einleitung: Die Unvermeidlichkeit des Kreativen


Wenn es einen Wunsch gibt, der innerhalb der Gegenwartskultur die Grenzen des Verstehbaren sprengt, dann wäre es der, nicht kreativ sein zu wollen. Dies gilt für Individuen ebenso wie für Institutionen. Nicht kreativ sein zu können ist eine problematische, aber eventuell zu heilende und mit geduldigem Training zu überwindende Schwäche. Aber nicht kreativ sein zu wollen, kreative Potenziale bewusst ungenutzt zu lassen, gar nicht erst schöpferisch Neues aus sich hervorbringen oder zulassen zu wollen, erscheint als ein absurder Wunsch, so wie es zu anderen Zeiten die Absicht gewesen sein mag, nicht moralisch, nicht normal oder nicht autonom zu sein. Wie könnte ein Individuum oder eine Institution, ja, eine ganze Gesellschaft das nicht wollen, was scheinbar natürlich in ihr angelegt ist, wohin es oder sie natürlicherweise strebt: zur kreativen Selbsttransformation?

Welche außergewöhnliche Relevanz der Kreativität als individuelles und soziales Phänomen in unserer Gegenwart zugeschrieben wird, lässt sich an Richard Floridas programmatischer Studie The Rise of the Creative Class aus dem Jahr 2000 ablesen.[1] Florida zufolge ist die zentrale Transformation, die sich in den westlichen Gesellschaften zwischen der Nachkriegszeit und der Gegenwart ereignet hat, weniger eine technologische als eine kulturelle. Sie findet seit den 1970er Jahren statt und betrifft die Entstehung und Verbreitung eines »kreativen Ethos«. Dessen Träger ist eine neue, sich rasch ausbreitende und kulturell tonangebende Berufsgruppe, die creative class mit ihren charakteristischen Tätigkeiten der Ideen- und Symbolproduktion – von der Werbung bis zur Softwareentwicklung, vom Design bis zur Beratung und zum Tourismus. Kreativität bezieht sich in Floridas Darstellung nicht allein auf ein privates Modell der Selbstentfaltung. Sie ist in den letzten drei Jahrzehnten auch zu einer allgegenwärtigen ökonomischen Anforderung der Arbeits- und Berufswelt geworden.

Nun ist Floridas Studie alles andere als eine neutrale Darstellung, 10vielmehr versucht sie genau das zu fördern, von dem sie spricht. Ihr Blick ist selektiv. Aber tatsächlich sprechen viele Indizien dafür, dass das normative Modell der Kreativität und entsprechende Praktiken, die versuchen, das scheinbar flüchtige Moment der Kreativität zu institutionalisieren, spätestens in den 1980er Jahren im Kern der westlichen Kultur angekommen sind und diesen seitdem hartnäckig besetzt halten.[2] Kreativität umfasst in spätmodernen Zeiten dabei eine Dopplung von Kreativitätswunsch und Kreativitätsimperativ, von subjektivem Begehren und sozialer Erwartung: Man will kreativ sein und soll es sein.

Was meint hier Kreativität? Kreativität hat zunächst eine doppelte Bedeutung. Zum einen verweist sie auf die Fähigkeit und die Realität, dynamisch Neues hervorzubringen. Kreativität bevorzugt das Neue gegenüber dem Alten, das Abweichende gegenüber dem Standard, das Andere gegenüber dem Gleichen. Diese Hervorbringung des Neuen wird nicht als einmaliger Akt gedacht, sondern als etwas, das immer wieder und auf Dauer geschieht. Zum anderen nimmt Kreativität Bezug auf ein Modell des »Schöpferischen«, das sie an die moderne Figur des Künstlers, an das Künstlerische und Ästhetische insgesamt zurückbindet.[3] Es geht um mehr als um eine rein technische Produktion von Innovationen, sondern um die sinnliche und affektive Erregung durch das produzierte Neue. Das ästhetisch Neue wird mit Lebendigkeit und Experimentierfreude in Verbindung gebracht, und sein Hervorbringer erscheint als ein schöpferisches Selbst, das dem Künstler analog ist. Das Neuartige im Sinne des Kreativen ist dann nicht lediglich vorhanden wie eine technische Errungenschaft, es wird vom Betrachter und auch von dem, der es in die Welt setzt, als Selbstzweck sinnlich wahrgenommen, erlebt und genossen.

Aus soziologischer Perspektive ist Kreativität nun kein bloßes semantisches Oberflächenphänomen, sondern das Zentrum eines 11sozialen Kriterienkatalogs, der seit gut dreißig Jahren in zunehmendem Maße in den westlichen Gesellschaften zu einer prägenden Kraft geworden ist. Als besonders bemerkenswert erweist sich diese Entwicklung zunächst im ökonomisch-technischen Herzen der kapitalistischen Gesellschaften, der Sphäre der Arbeit und des Berufs. Das, was ich den »ästhetischen Kapitalismus« der Gegenwart nennen will, basiert in seiner fortgeschrittensten Form auf Arbeitsweisen, die das lange vertraute Muster einer routinisierten Arbeiter- und Angestelltentätigkeit, ihres standardisierten und versachlichten Umgangs mit Objekten und Subjekten, hinter sich gelassen haben. An deren Stelle sind Tätigkeiten getreten, in denen die ständige Produktion von Neuartigem, insbesondere von Zeichen und Symbolen (Texten, Bildern, Kommunikation, Verfahrensweisen, ästhetischen Objekten, Körpermodifizierungen), vor einem an Originalität und Überraschung interessierten Publikum zur wichtigsten Anforderung geworden ist: in den Medien und im Design, in der Bildung und in der Beratung, in der Mode und in der Architektur. Die Konsumkultur erwartet diese ästhetisch ansprechenden, innovativen Produkte, und die creative industries bemühen sich, sie bereitzustellen. Der Kreative als Berufstätiger dieser creative economy bezeichnet mittlerweile eine Sozialfigur von beträchtlicher kultureller Attraktivität auch über ein engeres Berufssegment hinaus.[4] Die Orientierung an Kreativität betrifft jedoch nicht nur die Arbeitspraktiken, sondern auch die Organisationen und Institutionen selbst. Diese haben sich einem Imperativ permanenter Innovation unterworfen. Insbesondere Wirtschaftsorganisationen, aber mittlerweile auch andere – politische oder wissenschaftliche – Institutionen haben sich so umstrukturiert, dass sie nicht nur die Fabrikation immer wieder neuer Produkte auf Dauer stellen, sondern ihre internen Strukturen und Abläufen permanent erneuern, um damit in einer sich beständig verändernden Organisationsumwelt »responsiv« zu bleiben.[5]

12Über die Berufs-, Arbeits- und Organisationswelt hinaus ist das Doppel von Kreativitätswunsch und Kreativitätsimperativ seit den 1970er Jahren immer tiefer in die kulturelle Logik der privaten Lebensführung der postmaterialistischen Mittelschicht (und darüber hinaus) eingesickert. Es würde zu kurz greifen, anzunehmen, dass deren spätmodernes Selbst im Wesentlichen nach Individualisierung strebt. Diese Individualisierung hat eine besondere Form: sie zielt auf eine kreative Gestaltung von Subjektivität ab. Kreativität bezieht sich hier weniger auf das Herstellen von Dingen, sondern auf die Formung des Individuums selbst. Es handelt sich – wie es Richard Rorty umschreibt – um eine Kultur der »Selbsterschaffung« (self-creation).[6] Man kann nicht genug betonen, dass diese Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung, die das spätmoderne Subjekt verfolgt, nicht als Universalien missverstanden werden sollten. Sie gehen vielmehr auf ein historisch außergewöhnliches Vokabular des Selbst aus dem Umkreis der Psychologie des Selbstwachstums (self growth) zurück, die wiederum ein romantisches Erbe verwaltet. Erst vor ihrem Hintergrund geht es dem Selbst um eine quasikünstlerische, experimentelle Weiterentwicklung in allen seinen Facetten, in persönlichen Beziehungen, Freizeitformaten, Konsumstilen und körperlichen oder psychischen Selbsttechniken. Die Orientierung an der Kreativität des Selbst ist dabei regelmäßig mit einem Streben nach Originalität, nach einer Unverwechselbarkeit des Ichs verbunden.[7]

Schließlich sticht die gesellschaftliche Ausrichtung an Kreativität in einem weiteren Bereich ins Auge: in der Transformation des Urbanen, in der Umgestaltung des gebauten Raums der westlichen Großstädte. Viele der Metropolen zwischen Barcelona und Seattle, zwischen Kopenhagen und Boston sind seit den 1980er Jahren dabei, sich über den Weg spektakulärer Architektur, der Restaurierung von Stadtvierteln, der Neugründung von Kulturinstitutionen und einer gezielten Arbeit an ansprechenden Atmosphären ästhetisch neu zu erfinden. Es reicht nicht mehr aus, dass die Städte ihre Grundfunktionen erfüllen, Wohnraum und Arbeitsstätten 13zur Verfügung zu stellen, wie es für die klassische Industriegesellschaft galt. Es wird von ihnen vielmehr eine permanente ästhetische Selbsterneuerung erwartet, die immer wieder die Aufmerksamkeit der Bewohner und Besucher fesselt – sie wollen und sollen creative cities sein.[8] Das kreative Arbeiten, die innovative Organisation, das sich selbst entfaltende Individuum, die creative cities – sie alle nehmen teil an einem umfassenden kulturellen Ensemble, das die Produktion von Neuem auf Dauer stellt und das Faszinosum der Schöpfung und Wahrnehmung von neuartigen, originellen Objekten, Ereignissen und Identitäten nährt.

Im Grunde ist das alles höchst merkwürdig. Man muss nur historisch einen Schritt zurücktreten, um sich der Seltsamkeit bewusst zu werden, die angesichts der gegenwärtigen Universalisierung der Kreativität, ihrer Festlegung auf eine scheinbar alternativlose und allgemeingültige Struktur des Sozialen und des Selbst leicht verdeckt wird. Die Idee der Kreativität ist zwar sicherlich keine Erfindung unserer Post- oder Spätmoderne. Aus einer soziologischen Perspektive auf die Genese der Moderne insgesamt ist sie jedoch vom letzten Drittel des 18. Jahrhunderts bis ins zweite Drittel des 20. Jahrhunderts im Wesentlichen auf kulturelle und soziale Nischen beschränkt gewesen.[9] Es...

Erscheint lt. Verlag 18.6.2012
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Sozialwissenschaften Soziologie Allgemeine Soziologie
Schlagworte Bayerischer Buchpreis 2017 • Dispositiv • Gesellschaft • Kreativität • Leibniz-Preis 2019 • Neoliberalismus • Postmoderne • STW 1995 • STW1995 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1995
ISBN-10 3-518-74850-5 / 3518748505
ISBN-13 978-3-518-74850-3 / 9783518748503
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