Aus der Werkstatt der Demokratie (eBook)

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2010 | 1. Auflage
336 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-400715-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Aus der Werkstatt der Demokratie -  Arundhati Roy
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Arundhati Roy ist eine der faszinierendsten Romanautorinnen Indiens und eine seiner mutigsten Frauen. Unbeirrt und mit Verve führt sie uns vor Augen, wie es unter der glänzenden Oberfläche des Subkontinents wirklich aussieht - fernab mystischer Verklärung und den bunten Lichtern Bollywoods. Mit leidenschaftlicher Überzeugung, gründlicher politischer Analyse und einer wunderbar poetischen Sprache spricht sie in ihren Essays über religiöse und politische Ausgrenzung, über kulturelle wie wirtschaftliche Missstände. Kühn stellt sie sich den aktuellen Ereignissen der letzten Jahre - wie dem Pogrom gegen die Muslime in Gujarat 2002 oder den gewalttätigen Ausschreitungen in Mumbai 2008.

Arundhati Roy wurde 1959 geboren, wuchs in Kerala auf und lebt in Neu-Delhi. Den internationalen Durchbruch schaffte sie mit ihrem Debütroman »Der Gott der kleinen Dinge«, für den sie 1997 den Booker Prize erhielt. Aus der Weltliteratur der Gegenwart ist er nicht mehr wegzudenken. In den vergangenen Jahren widmete sie sich außer ihrem politischen und humanitären Engagement vor allem ihrem zweiten Roman »Das Ministerium des äußersten Glücks« (2017). Dieser Roman wurde mit dem Bruno-Kreisky-Preis für das Politische Buch 2017 ausgezeichnet.

Arundhati Roy wurde 1959 geboren, wuchs in Kerala auf und lebt in Neu-Delhi. Den internationalen Durchbruch schaffte sie mit ihrem Debütroman »Der Gott der kleinen Dinge«, für den sie 1997 den Booker Prize erhielt. Aus der Weltliteratur der Gegenwart ist er nicht mehr wegzudenken. In den vergangenen Jahren widmete sie sich außer ihrem politischen und humanitären Engagement vor allem ihrem zweiten Roman »Das Ministerium des äußersten Glücks« (2017). Dieser Roman wurde mit dem Bruno-Kreisky-Preis für das Politische Buch 2017 ausgezeichnet. Anette Grube, geboren 1954, lebt in Berlin. Sie ist die Übersetzerin von Arundhati Roy, Vikram Seth, Chimamanda Ngozi Adichie, Mordecai Richler, Kate Atkinson, Monica Ali, Manil Suri, Richard Yates u.a.

{43}Demokratie:


Die indische Variante

Der Aufsatz erschien zuerst am 6. Mai 2002
in
Outlook (Indien).

Gestern Abend rief eine Freundin aus Vadodara an. Weinend. Sie brauchte eine Viertelstunde, um mir zu erzählen, was passiert war. Es war keine komplizierte Geschichte. Eine ihrer Freundinnen, Sayeeda, war in die Fänge des Mobs geraten. Sie hatten ihr den Bauch aufgeschlitzt und mit brennenden Lumpen gefüllt. Nachdem sie gestorben war, ritzte ihr jemand »OM« in die Stirn.[26]

Welche heilige Schrift der Hindus predigt so ein Verhalten?

Premierminister A. B.Vajpayee rechtfertigte die Grausamkeiten in Gujarat als Rache aufgebrachter Hindus an muslimischen »Terroristen«, die im Sabarmati Express in Godhra achtundfünfzig hinduistische Fahrgäste lebend verbrannt hatten.[27] Jeder, der diesen abscheulichen Tod starb, war ein Bruder, eine Mutter, ein Kind. Selbstverständlich waren sie das. Welche Sure des Korans fordert, dass sie bei lebendigem Leib gegrillt wurden?

Je mehr beide Seiten versuchen, die Aufmerksamkeit auf die religiösen Unterschiede zu lenken, indem sie sich gegenseitig abschlachten, umso weniger sind sie voneinander zu unterscheiden. Sie beten vor demselben Altar. Sie {46}sind beide Apostel desselben mörderischen Gottes, wer immer er ist. In einer moralisch so vergifteten Atmosphäre zeugt es geradezu von Böswilligkeit und Verantwortungslosigkeit, wenn irgendjemand, insbesondere aber der Premierminister, willkürlich festlegt, wo genau der Teufelskreis angeblich einsetzte.

Im Augenblick trinken wir aus einem Kelch mit Gift – eine alles andere als vollkommene Demokratie mit einem Schuss religiösen Faschismus. Reines Arsen.

Was sollen wir tun? Was können wir tun?

Die Partei, die die Regierung stellt, die Bharatiya Janata Partei (BJP), verliert in großem Stil. Die Rhetorik gegen den Terrorismus, die Verabschiedung des Antiterrorismusgesetzes, Prevention of Terrorism Act (POTA), das Säbelrasseln Richtung Pakistan (inklusive der latenten atomaren Bedrohung), die Stationierung von nahezu einer Million schussbereiter Soldaten an der indisch-pakistanischen Grenze und, am gefährlichsten von allem, der Versuch, die Schulgeschichtsbücher religiös einzufärben und zu verfälschen – nichts davon hat verhindert, dass sie in einer Wahl nach der anderen gedemütigt wird.[28] Nicht einmal der alte Trick der Partei – die Wiederbelebung der Pläne, einen Tempel, den Ram Mandir, an Stelle der zerstörten Moschee in Ayodhya zu bauen – hat wirklich funktioniert. In ihrer Verzweiflung hat sie sich jetzt an Gujarat um Hilfe gewandt.

Gujarat, der einzige größere Bundesstaat in Indien, der von der BJP regiert wird, ist seit ein paar Jahren die Petrischale, in der der Hindufaschismus ein ausgeklügeltes politisches Experiment durchführt. Im März 2002 wurden die ersten Ergebnisse der Öffentlichkeit vorgestellt.

Innerhalb von Stunden nach den Ereignissen in Godhra begann ein minutiös geplanter Pogrom gegen Muslime. {47}Angeführt von den Hindunationalisten der Vishwa Hindu Parishad (VHP) und der Bajrang Dal. Offiziell wird die Zahl der Toten mit achthundert beziffert. Unabhängige Beobachter schätzen, dass es bis zu zweitausend waren.[29]

Über einhundertfünfzigtausend Menschen wurden aus ihren Häusern vertrieben und leben jetzt in Flüchtlingslagern. Frauen wurden die Kleider vom Leib gerissen, sie wurden mehrfach vergewaltigt; Eltern wurden vor ihren Kindern zu Tode geprügelt. Zweihundertvierzig Schreine und einhundertachtzig Moscheen wurden zerstört. In Ahmedabad wurde im Verlauf einer Nacht das Grabmal von Wali Gujarati, dem Begründer der modernen Urdu-Lyrik, eingerissen und zugeschüttet. Das Grabmal des Musikers Ustad Faiyaz Ali Khan wurde entweiht und mit brennenden Reifen bekränzt. Brandstifter zündeten Geschäfte, Wohnhäuser, Hotels, Textilfabriken, Busse und Privatautos von Muslimen an und plünderten. Zehntausende Muslime verloren ihre Arbeit.[30]

Ein Mob umzingelte das Haus des ehemaligen Kongressabgeordneten Ehsan Jaffri. Seine Anrufe beim Polizeipräsidenten von Gujarat, dem örtlichen Polizeichef, dem Stellvertreter des Chefministers, dessen Stellvertreter, dem Innenminister, wurden ignoriert. Die Streifenwagen in der Nähe seines Hauses kamen ihm nicht zu Hilfe. Der Mob zerrte Ehsan Jaffri aus dem Haus und hackte ihm die Gliedmaßen ab.[31]

Selbstverständlich war es reiner Zufall, dass Jaffri Narendra Modi, den Chefminister des Gujarat, während des Wahlkampfs für die Nachwahl in Rajkot im Februar scharf kritisiert hatte.

Tausende Menschen bildeten die Schlägertrupps in Gujarat. Sie waren bewaffnet mit Benzinbomben, Schusswaffen, Messern, Schwertern und Dreizacken.[32] Abgesehen {48}von der notorischen Lumpengefolgschaft der VHP und der Bajrang Dal waren auch Dalits und Adivasis dabei, die mit Bussen und Lkws angekarrt wurden.[33] Die Mittelschicht beteiligte sich an den Plünderungen. (Bei einer denkwürdigen Gelegenheit kam eine Familie in einem Mitsubishi Lancer angefahren.[34]) Es wurde vorsätzlich und methodisch versucht, die ökonomische Lebensgrundlage der Muslime zu zerstören. Die Anführer des Mobs verfügten über computergenerierte Listen des Katasteramtes, auf denen muslimische Wohnhäuser, Geschäfte, Firmen und sogar ihre Geschäftspartner gekennzeichnet waren. Sie verfügten über Handys, um ihre Aktionen zu koordinieren. Sie verfügten über Lkws, die mit Tausenden seit Wochen gehorteter Gasflaschen beladen waren, um muslimische Betriebe in die Luft zu jagen. Die Polizei ließ sie nicht nur gewähren, sondern gab ihnen auch Feuerschutz.[35]

Während Gujarat brannte, stellte unser Premierminister auf MTV seine neuen Gedichte vor.[36] (Berichten zufolge wurden hunderttausend Kassetten verkauft.) Erst über einen Monat – und zwei Urlaube in den Bergen – später schaffte er es nach Gujarat.[37] Als er endlich eintraf, beschattet vom furchterregenden Modi, hielt er eine Rede im Flüchtlingslager Shah Alam.[38] Sein Mund arbeitete, er versuchte, Betroffenheit zum Ausdruck zu bringen, doch es war nichts zu hören außer dem spöttischen Wind, der durch eine verbrannte, blutbesudelte, zerbrochene Welt pfiff. Als Nächstes war er zu sehen, wie er in Singapur in einem Golfwagen herumfuhr und Geschäfte einfädelte.[39]

Die Mörder treiben noch immer ihr Unwesen auf den Straßen von Gujarat. Wochenlang war der Lynchmob der Richter in Dingen des alltäglichen Lebens: Wer darf wo wohnen, wer darf was sagen, wer darf wen treffen und wo und wann. Sein Mandat reichte von religiösen Angelegen{49}heiten über Eigentumsstreitigkeiten bis zu Familienzwisten und der Planung und Zuteilung von Wasserressourcen (weswegen Medha Patkar, engagiert in der Narmada-Bachao-Andolan-Bewegung, angegriffen wurde).[40] Muslimische Unternehmen wurden geschlossen. Muslime werden in Restaurants nicht bedient. Muslimische Kinder sind in Schulen nicht gern gesehen. Muslimische Studenten legen aus Angst ihre Prüfungen nicht ab.[41] Muslimische Eltern leben in der ständigen Furcht, dass ihre kleinen Kinder vergessen, was ihnen eingebleut wurde, und sich verraten, indem sie in der Öffentlichkeit »Ammi!« oder »Abba!« sagen und damit einen plötzlichen und gewaltsamen Tod herausfordern.

Und angekündigt wurde: Das ist erst der Anfang.

Ist das die Hindu Rashtra, die Nation, auf die wir uns alle freuen sollen? Wenn die Muslime »auf ihren Platz verwiesen« sind, werden dann Milch und Coca-Cola im Land fließen? Wird jeder ein Hemd tragen und ein Roti im Bauch haben, sobald der Ram Mandir gebaut ist?[42] Wird niemand mehr eine Träne vergießen? Wird nächstes Jahr ein Jahrestag gefeiert werden? Oder wird bis dahin jemand anders das Objekt des Hasses sein? In alphabetischer Reihenfolge: Adivasis, Buddhisten, Christen, Dalits, Parsen, Sikhs? Die, die Jeans tragen oder Englisch sprechen oder dicke Lippen oder Locken haben? Wir werden nicht lange warten müssen. Es hat bereits begonnen. Werden die neuen Rituale beibehalten? Wird man Menschen enthaupten, zerhacken und auf Leichen urinieren? Werden den Müttern die ungeborenen Kinder aus dem Leib gerissen werden?[43]

Was für eine kranke Phantasie kann sich ein Indien ohne die Vielfalt, Schönheit und spektakuläre Anarchie all dieser Kulturen vorstellen? Indien wäre ein Grab und röche wie ein Krematorium.

{50}Gleichgültig, wer sie waren oder wie sie umgebracht wurden, jede Person, die in den letzten Wochen in Gujarat umkam, verdient es, dass um sie getrauert wird. In Hunderten empörter Leserbriefe an Zeitschriften und Zeitungen wird gefragt, warum die »Pseudosäkularisten« den Brand im Sabarmati Express in Godhra nicht in gleichem Maße verdammen wie die Morde im restlichen Gujarat. Sie scheinen nicht zu begreifen, dass es einen grundlegenden Unterschied zwischen einem Pogrom wie dem in Gujarat und dem Brand im Sabarmati Express gibt. Wir wissen immer noch nicht, wer für das Feuer in Godhra verantwortlich ist. Innenminister Lal Krishna Advani hat öffentlich behauptet, dass der pakistanische Inter-Services Intelligence (ISI) dahinter...

Erscheint lt. Verlag 26.3.2010
Übersetzer Anette Grube
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Bollywood • Bombenanschlag • Delhi • Essay • Gujarat • Hrant Dink • Indien • Kaschmir • Massaker • Mohammad Afzal • Mumbai • Pakistan • Reportage • Sachbuch • Tariq Ahmed • Terrorismus
ISBN-10 3-10-400715-2 / 3104007152
ISBN-13 978-3-10-400715-1 / 9783104007151
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