Der Akazienkavalier (eBook)

Von Menschen und Gärten
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2009 | 1. Auflage
272 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00451-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Akazienkavalier -  Ulla Lachauer
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Gärten sind Seelenlandschaften und Schicksalsorte. Sie wirken als Lebensquell und können ein Glück vollkommen machen. Sie können Verzweifelte trösten und Feindschaften mildern. In schweren Zeiten sind sie überlebenswichtig. Ulla Lachauer kehrt zurück in die Gärten ihrer westfälischen Kindheit. Sie besucht Gärten in ganz Deutschland. Und sie entdeckt das Vergnügen, in der Fremde Zaungast zu sein. Sie reist nach Paris, an die Costa del Sol, in die Alpen. Auf die Kurische Nehrung, in die Vergangenheit des alten Ostpreußen. Odessa im Mai ist Schauplatz einer seltsamen Liebesgeschichte: «Der Akazienkavalier». Ulla Lachauer erzählt von Begegnungen mit Menschen und Gärten. Ein Lektüregenuss!

Ulla Lachauer, geboren 1951 in Ahlen/Westfalen, lebt in Lüneburg. Sie arbeitet als freie Journalistin und Dokumentarfilmerin. Von ihr sind erschienen:'Die Brücke von Tilsit' (1994), 'Paradiesstraße (1996), 'Ostpreußische Lebensläufe' (1998), 'Ritas Leute' (2002), 'Der Akazienkavalier' (2008) und 'Die blinde Gärtnerin' (2011, alle bei Rowohlt.

Ulla Lachauer, geboren 1951 in Ahlen/Westfalen, lebt in Lüneburg. Sie arbeitet als freie Journalistin und Dokumentarfilmerin. Von ihr sind erschienen: "Die Brücke von Tilsit" (1994), "Paradiesstraße (1996), "Ostpreußische Lebensläufe" (1998), "Ritas Leute" (2002), "Der Akazienkavalier" (2008) und "Die blinde Gärtnerin" (2011, alle bei Rowohlt.

Erster Teil


Raumfressende Pflanzen


Eines Tages im November war es so weit. Es wollte und wollte nicht hell werden, der Himmel über den umliegenden Mietshäusern war graulila, so etwas gibt es hier, in Mannheim. Ich war allein zu Haus, Einsprüche waren nicht zu befürchten, die klassische Situation für eine hinterhältige Tat. Sie war überfällig.

«Er wird verschwinden!»

Dachte ich, ganz wohl war mir nicht dabei. Um mir Mut zu machen, sagte ich es noch einmal laut, in die betreffende Richtung: «Du wirst verschwinden!»

Den Baum aus unserer Küche rauszutragen war nach Lage der Dinge unmöglich. Ohne eine Säge oder Ähnliches, das ihn in Stücke teilte, würde es nicht gehen. Meine Wahl fiel auf den kleinen stabilen Fuchsschwanz, ein bewährtes Stück, mit dem mein Vater früher westfälische Kirschbäume beschnitt.

Ich schaute das riesenhafte grüne Wesen noch einmal an, verbeugte mich leicht vor ihm, immerhin hatte es einige Jahre unseres Lebens begleitet. Und legte los. Probeweise sägte ich erst mal einige Zentimeter von der Spitze ab. Aus der Schnittstelle trat eine weiße Flüssigkeit. Zwei, drei Tropfen fielen – das Monster blutete.

Der Baum, ein «Ficus benjamini», war der letzte Überlebende. Ein halbes Dutzend anderer Wohnungsgenossen hatte längst das Zeitliche gesegnet, zwei Drachenbäume, eine Yucca-Palme, ein rosa blühender Kaktus, was eben so angeschleppt wurde von Freunden und Verwandten. Nicht zu vergessen die Euphorbia splendens, auch Christusbaum genannt, von einer Tante, deren Namen ich lieber nicht nenne. Sie starben, während wir auf Reisen waren, vertrockneten, weil die schöne, ewig verliebte Studentin von nebenan sie vergaß. Oder ertranken, wenn der alte Ingenieur von gegenüber sie in Pflege nahm; er lebte seit dem Tod seiner Frau hauptsächlich in seiner Kindheit, in Mährisch-Ostrau, und goss, wann immer er kurz in die Gegenwart zurückkehrte, gedankenverloren, bis zu fünfmal pro Tag. Schlimmer als in unserer Mansardenetage konnten es Pflanzen wohl kaum treffen. Dürre, Sintflut, ausgiebiges Lüften zur Winterzeit, allein der Ficus ertrug es geduldig, um nicht zu sagen mit Grandezza. Dabei hatte auch er seine Kindheit in einem holländischen Gewächshaus zugebracht, war, wie alle anderen, im Grunde nur für ein begrenztes, kränkelndes Leben ausgestattet.

Er schien unsere kleine, helle, nach Süden gewandte Küche zu lieben. Vielleicht war das Klima dem seiner indischen Urheimat ein wenig ähnlich? In den schwülen Sommern am Oberrhein, wenn wir immer matter wurden, drehte er richtig auf. Anfangs, aber nur sehr kurz, schoss er in die Höhe. Dann hatte er, fast im rechten Winkel, einen Knick gemacht, lichtwärts. Seitdem wuchs der Ficus beharrlich aufs Fenster zu, immer weiter, an unserem mächtigen hundertjährigen Küchenschrank vorbei, und umfing diesen auf halber Höhe mit seinem grünen Arm. Erst versperrte er die Tür, hinter der Nudeln, Reis und Konserven lagern, später Besteckschubladen und Geschirrfächer. Um die Teetassen herauszubugsieren, musste man sich mit ihm anlegen.

«Gestatten, Madame?»

Jeden Morgen dasselbe Ritual, dieselbe Frage, ein fester Griff. Ob man ihn nach oben oder unten bog, er fand blitzschnell, fast ohne Nachwippen, in die Ausgangsposition zurück. Mein Mann hielt den Eigensinnigen für weiblich, ich natürlich für männlich.

«Gestatten, Monsieur?»

Mit der Zeit wurde der Ton rau.

«Olles Kamuffel!»

«Hundling, elendiger!»

Wer sich flach auf den Bauch legen muss, um an Bratpfannen und Töpfe zu gelangen, greift im Reich der Geschöpfe schon mal daneben. Wir selbst fühlten uns manchmal in unserer Küche wie Tiere, Kriechtiere.

Ein Gast, der uns einmal bäuchlings sah, tippte sich an die Stirn. Er hatte recht: Wir waren im Begriff, närrisch zu werden. Eine überraschende Entdeckung auf einer Israelreise tat ein Übriges. In einer Allee in Tel Aviv hatten wir beim Spazierengehen ovale, ledrige Blätter gefunden, unzweifelhaft von einem «Ficus benjamini». Die Bäume, die sie abgeworfen hatten, waren haushoch. Von da an wussten wir in etwa, was auf uns noch alles zukommen könnte.

Bei unserer Rückkehr hatte sich das häusliche Exemplar, das laut Botanikbuch zur Familie der Maulbeerbaumgewächse gehört, der Gewürze bemächtigt, der letzten Abteilung des Küchenschrankes, und verdeckte bereits das Foto von «Wine», des Buben in Lederhosen, der mein Mann wurde. Vier Wochen, und Piero della Francescas schwangere Madonna war so gut wie verschwunden. Eine weit zurückliegende Italienerinnerung an Monterchi, kein Morgen verging ohne einen Blick auf das verblichene Plakat, zur Muttergottes und den Engeln. Nur Marias demütig gesenkter Kopf und der zarte, auberginefarbene Baldachin ragten jetzt noch übers Grün.

Was tun? Nach den Gesetzen der Statik hätte unser Ficus längst umkippen müssen. In dem viel zu kleinen Terrakottatopf stand er da wie ein gedrungener Akrobat, der ein überdimensioniert langes Bein ins Nirgendwo reckt. Er wuchs ungestüm, geradezu tollkühn weiter, und er behielt die Balance. Im folgenden Dezember legte sich das erste Blatt auf das Kofferradio, zu Silvester berührte es die Fensterscheibe. Der Baum fraß unsere Küche, das Praktische, das Schöne, er verdrängte uns. Wann endlich würde er stürzen?

«Wohin des Wegs?»

Witzelten wir manchmal. Da, wo der grüne Geselle hinwollte, jenseits des Fensters, ist nichts. Ein Hinterhof nur, Dächer von Tiefgaragen, drei Bäume, wovon zwei, die Kastanie und der Kirschbaum, krank sind, einige noch nicht vergiftete Tauben. Ein schon lange ansässiges Elsternpaar, das vielleicht ist sehenswert. Hier und da ein Meislein. Und sommers – die einzige wirkliche Sensation – die Mauersegler, die sich zu Hunderten schreiend, rasend schnell in die hässliche Häuserschlucht stürzen und beim Aufsteigen bizarre Muster in die Lüfte schreiben.

Wir hielten uns tapfer, unterdrückten die aufkommenden Mordgelüste.

«Ich täte es!»

Der Rat kam aus Westfalen. In den berühmten «Haubenbriefen» (Briefen, die meine Schwiegermutter jeden Freitag beim Friseur, unter der Haube, an uns schrieb) kam das Thema immer häufiger zur Sprache. «Da würd ich mich nicht dranhängen.» Irgendwann fiel am Telefon der denkwürdige Satz: «An Pflanzen soll man sich ergötzen, nicht erquälen.» Anlass war, soweit ich mich erinnere, unser Verdacht, der Ficus könnte den Mehlmotten, die nach etlichen Feldzügen kurz vor der Ausrottung standen, Asyl geben. Ganz aus der Luft gegriffen war das nicht, immerhin waren seine Vorfahren in Indien Wirtsbäume für Schildlackläuse gewesen. Nur, wer von uns würde es tun?

«Frauen sind beherzter.» Wieder so ein Satz aus Westfalen.

An Blut hatte ich, als ich mir schließlich im November ein Herz fasste, allerdings nicht gedacht. Es floss reichlich aus der kleinen Wunde, beim nächsten Schnitt würde es bestimmt mehr sein. Ich zögerte. Plötzlich, ohne das leiseste vorherige Zittern, fiel der Baum um. Der Terrakottatopf zersprang mit einem Riesengetöse und gab einen festen, vielfach verknäulten Wurzelballen frei, in dem zu meiner Verwunderung nur ein paar Krümel Erde hingen. Es gab kein Zurück mehr. Alle dreißig Zentimeter etwa setzte ich den Fuchsschwanz an, systematisch, Stück für Stück, Stamm, Äste und Ästchen, das weiße Blut klebte zäh an den Händen. Es lief weiter, als ich am Ende des Gemetzels die Teile in blaue Müllsäcke packte, sieben oder acht stopfte ich voll. Ich war schweißgebadet. Glücklicherweise hatte mein Denken ausgesetzt. Ab und zu blitzte eine Szene aus dem Hitchcockfilm «Fenster zum Hof» durch den Kopf.

«Der Hinterhof! Natürlich!»

Finster musste es sein. Und kein James Stewart durfte mehr am Fenster sitzen und beobachten, ob der Nachbar vielleicht seine zerstückelte Frau im Hof vergräbt. Es war eine sternlose Nacht, auf leisen Sohlen trug ich die Säcke zu den Mülltonnen.

Mein Mann war voller Anerkennung, geradezu überschwänglich dankbar. Offenbar ahnte er was, er wollte nämlich über die Einzelheiten des Verschwindens nichts wissen. Wir waren nun wieder im Vollbesitz unserer 12 Quadratmeter großen Küche. Doch irgendwie, weiß der Himmel warum, ließ uns der Baum nicht in Ruh. Wir merkten es zuerst daran, dass wir seine frühere Anwesenheit, all die Malaisen mit ihm, hartnäckig beschwiegen.

Es dauerte nicht lange, und wir entdeckten sie allüberall in der Stadt: die monströsesten Geschöpfe. Im Seniorenheim um die Ecke war ein Ficus benjamini gerade im Begriff, den Fensterrahmen auszuhebeln. An einem hellen Julitag sahen wir im Zeichensaal der Realschule die Lampen brennen, weil ein Dutzend Schefflera das Sonnenlicht abschirmten. Wuchernde, oft aberwitzig verkrüppelte Naturen, plötzlich hatten wir einen Blick für sie. Bei Freunden blockierte eine die Klotür, sie war nicht mehr zu schließen, und das beschwor einen Familienstreit herauf: «Scheißhaus oder Gewächshaus?» Vornehmer ausgedrückt: «Privatheit» contra «Lebensrecht der Pflanze»? Wir lächelten dazu, ein wenig beklommen. Wenn im verrauchten Café die Kellnerinnen stritten, ob man die lästigen, armseligen Bewohner der mit Zigarettenkippen gespickten Blumentöpfe nicht lieber «abmurksen» sollte, anstatt ihren «natürlichen Tod» abzuwarten, spitzten wir die Ohren.

Einmal sahen wir in einer Benediktinerabtei einen Priester, der sich auf dem Weg vom Altar zum Tabernakel und zurück durch einen wahren Urwald...

Erscheint lt. Verlag 16.11.2009
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Einfühlsam • Garten • Kurzgeschichten • Menschen • Wahre Geschichten
ISBN-10 3-644-00451-X / 364400451X
ISBN-13 978-3-644-00451-1 / 9783644004511
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