Moralität des Bösen

Ethik und nationalsozialistische Verbrechen
Buch | Softcover
269 Seiten
2009
Campus (Verlag)
978-3-593-39021-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Moralität des Bösen -
57,00 inkl. MwSt
Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust
Adorno sprach von einem neuen kategorischen Imperativ nach Auschwitz - der Holocaust erfordert demnach eine veränderte Ethik und Moral. Wie soll die gegenwärtige Moralphilosophie auf die historische Erfahrung des Holocaust reagieren? Können moralische Grundsätze eine Folge historischer Erfahrung sein? Im neuen Jahrbuch werden diese Fragen zur Diskussion gestellt. Daneben wird verdeutlicht, wie die nationalsozialistischen Verbrechen durch Versatzstücke moralischer und ethischer Theorien gerechtfertigt wurden, etwa in Konzepten von Carl Schmitt und Martin Heidegger. Die Beiträge zeigen, inwiefern man von einer nationalsozialistischen Moral sprechen kann und welche Echos dieser besonderen Moral sich bis in die Gegenwart vernehmen lassen.

Der Band enthält Beiträge renommierter Philosophen, Politologen und Historiker, wie Ernst Tugendhat, Gesine Schwan und Jean-Pierre Faye. Das Jahrbuch wird herausgegeben von Werner Konitzer und Raphael Gross.

Inhalt

Werner Konitzer, Raphael Gross
Einleitung

I. Nationalsozialistische Moral?

Rolf Zimmermann
Holocaust und Holodomor Was lehrt historische Erfahrung über Moral?

Wolfgang Bialas
Die moralische Ordnung des Nationalsozialismus Zum Zusammenhang von Philosophie, Ideologie und Moral

Ernst Tugendhat
Der moralische Universalismus in der Konfrontation mit der Nazi-Ideologie

Herlinde Pauer-Studer
Transformationen der Normativität: Das NS-System aus dem Blickwinkel der Moralphilosophie

Werner Konitzer
Moral oder "Moral"? Einige Überlegungen zum Thema "Moral und Nationalsozialismus"

Raimond Gaita
Das Holocaust-Ressentiment: Die Implikationen der Behauptung, der Holocaust sei einzigartig und einige seiner Aspekte würden unsere Versuche, ihn zu verstehen, für immer vereiteln

Gesine Schwan
Wussten sie nicht, was sie tun? Die Deutschen in der Zeit des Nationalsozialismus

II. NS-Moral in Philosophie, Theologie, Jurisprudenz und der SS

Christian Strub
Gesinnungsrassismus Zur NS-"Ethik" der Absonderung am Beispiel von Rosenbergs Der Mythus des 20. Jahrhunderts

Micha Brumlik
Emanuel Hirsch oder die Dialektik des Gewissens

Emmanuel Faye
Heidegger gegen alle Moral

Matthias Lutz-Bachmann
Carl Schmitt: Recht und Moral im Kontext des Nationalsozialismus

Raphael Gross
Die Ethik eines wahrheitssuchenden Richters Konrad Morgen, SS-Richter und Korruptionsspezialist

Autorinnen und Autoren

Die moralische Ordnung des Nationalsozialismus Zum Zusammenhang von Philosophie, Ideologie und Moral Wolfgang Bialas Moralphilosophische Überlegungen zur Analyse der moralischen Ordnung des Nationalsozialismus Assoziiert mit Konzentrations- und Vernichtungslagern, Euthanasie und Holocaust gilt der Nationalsozialismus zu Recht als Inbegriff der Unmoral schlechthin. Dass die Nationalsozialisten in ihrer Rechtfertigung von Judenverfolgung und Holocaust als moralisch richtig und notwendig, als etwas, das aus guten Gründen getan werden musste, für sich in Anspruch nahmen, in ihrer Vernichtungspolitik moralischen Prinzipien zu folgen, scheint absurd. Die Annahme einer eigenständigen nationalsozialistischen Moral widerspricht der intuitiven Unterstellung, bei einer Moral handle es sich immer um nachvollziehbare Begründungen eines Verhaltens fairer Gegenseitigkeit zwischen Menschen, denen ihr durch spezifische Gruppenzugehörigkeiten bedingtes, vor allem aber auch ihr individuelles Anderssein als selbstverständliches, wechselseitig anerkanntes Menschenrecht zugestanden werde. Wohl auch deshalb stehen Forschungen zur nationalsozialistischen Moral erst am Anfang. Haben auch die nationalsozialistischen Täter im Horizont einer eigenen moralischen Ordnung in ihrem Selbstverständnis moralisch und mit dem guten Gewissen, das Richtige zu tun, gehandelt? Sie behaupteten, frei von eigennützigen Motiven im Interesse des Gemeinwesens, der deutschen Volksgemeinschaft oder auch der Durchsetzung höherer Werte zu handeln. Für ihre Verbrechen suchten sie Rechtfertigungsgründe in einer Gemengelage aus historischen Konstellationen und ideologischen Begründungen. Aus ihrer Sicht war ihr Handeln moralisch gerechtfertigt und erlaubt, ja sogar geboten. An ihrem Handeln und ihrem Selbstverständnis zeigt sich, dass monströse Taten nicht nur von moralischen Monstern oder pathologischen Kriminellen begangen werden können, sondern auch von in ihrer Charakterstruktur und Biografie durchschnittlichen, normalen Menschen, die unter anderen Umständen weder die Gelegenheit gehabt hätten noch in Versuchung gekommen wären, sich an Verbrechen und Massenmord zu beteiligen. Die moralische Verfassung der Täter ist Schnittpunkt zahlreicher Einflüsse, die sie nicht lediglich geformt, sondern auf die sie in je spezifischer Weise mit der Ausbildung eines eigenen Gerüsts moralischer Werte und Rechtfertigungen reagiert haben. Ihre Motive und Beweggründe waren ebenso entscheidend für ihr Handeln wie die ihr Leben bestimmenden soziokulturellen Umstände, die sie unhinterfragt akzeptierten oder als unproblematisch unterstellten. In dieser Konstellation ergeben sich eine Reihe von Fragen: Brauchen Täter in einer ideologisch formierten Gesellschaft persönliche Beweggründe, um so zu handeln, wie es von ihnen erwartet wird? Oder reicht es aus, wenn sie ideologische Vorgaben akzeptieren, auf die sie dann zurückgreifen können, wenn es darum geht, ein Handeln zu rechtfertigen, das aus dem Rahmen trotz des ideologischen Umbaus der Gesellschaft noch immer geltender moralischer Grundannahmen fällt? Kann es in solchen Gesellschaften den Menschen überlassen werden, worin ihre Beweggründe für systemkonformes Handeln bestehen, solange sie nur bereit sind, im Sinne der vom System nachdrücklich gesetzten Erwartungen zu agieren? Menschliches Handeln unterliegt keiner naturgesetzlich zwingenden Logik, sondern findet immer in einem Spektrum möglicher Optionen statt. Es hat Ursachen und Beweggründe, folgt Interessen und moralischen Überlegungen und stellt die Menschen noch in der Abwägung aller Umstände und möglichen Konsequenzen ihres Handelns doch immer wieder vor die Entscheidung, sich in einer bestimmten Weise zu verhalten. Die Annahme eines Reichs der Zwecke, in dem die Menschen einander nur als moralische Subjekte begegnen, ist ebenso fiktiv wie die Unterstellung einer zweckrationalen Verkehrsform, in der moralische Überlegungen überhaupt keine Rolle spielen. Kants moderate Annahme, es sei möglich, dass Menschen sich in einer Weise begegnen, in der sie sich nicht nur gegenseitig als Mittel zur Realisierung ihrer eigennützigen Interessen und Zwecke benutzen, ist da weitaus realistischer. Statt die Vision einer rein moralischen Gesellschaft zu verfolgen, wirft sie die Frage auf, in welcher Weise moralische Überlegungen im Zusammenhang einer Vielzahl anderer Handlungsmotive und -gründe eine Rolle spielen, spielen können oder spielen sollten. Moralisches Handeln zielt in Hannah Arendts Verständnis auf die Schaffung eines symbolischen Raums der zweckfreien Begegnung von Menschen. In diesem Raum konstituiere sich ein atmosphärischer Grund gegenseitiger Verpflichtung von Menschen, die sich wechselseitig in ihrer Differenz akzeptieren. Die Moral ist für Arendt keine Handlungsart unter anderen, sondern eine Haltung, die auf die Ganzheitlichkeit menschlichen Verhaltens zielt. Als eigene Handlungsart verselbstständigt sich die Moral zu einer Hochkultur der guten Absichten und höheren Zwecke, in der die Bedeutungen menschlichen Handelns durch eine Rationalität des Außeralltäglichen bestimmt werden. Aus der Ausnahmesituation des Handelns in der außeralltäglichen Bewährung am Maßstab höherer Ideen und Werte wird moralisches Handeln in dieser konzeptionellen Moderation zu einer Komponente der alltäglichen Lebenswelt durchschnittlicher Menschen. Diese sind nun selbst verantwortlich für die situative Ausbalancierung ihrer inneren und äußeren Beweggründe, die sie befähigt, sich in einer für sie schlüssigen, ihre Mitmenschen einbeziehenden und ihnen zumutbaren Weise zu verhalten. Wie auch immer sich Menschen schließlich entscheiden, ob sie für das Naheliegende oder aber das Abwegige optieren, immer hätten sie sich auch anders entscheiden können. Auch diejenigen, die sich aktiv an der Planung und Durchführung nationalsozialistischer Verbrechen beteiligt haben, hätten anders handeln können, als sie gehandelt haben, und tragen ebendeshalb die Verantwortung für ihr Handeln auch dann, wenn ihnen selbst gar nicht bewusst war, eine Entscheidungsmöglichkeit gehabt zu haben. Selbst wenn es gewichtiger Gründe bedarf, um sich gegen Optionen zu entscheiden, für die nach Abwägen aller Umstände alles zu sprechen scheint, ist es doch auch immer möglich, sich für das Unwahrscheinliche zu entscheiden. Sicher ist es wahrscheinlicher, sich für und nicht gegen die eigenen unmittelbaren Interessen zu entscheiden und also zum Beispiel im Extremfall der ideologisch begründeten Bestimmung einer minderwertigen und dennoch gefährlichen rassischen Existenzform das eigene Überleben dem der ohnehin zur Vernichtung bestimmten Rasse vorzuziehen. Innerhalb des Wahnsystems der nazistischen Rassenideologie wurden solche Entscheidungen als vernünftige und schlüssige Konsequenz einer wissenschaftlich begründeten, mit Gesetzmäßigkeiten von Natur und Geschichte übereinstimmenden und ebendeshalb folgerichtigen und unbezweifelbaren Weltanschauung gerechtfertigt. Diejenigen, die die Verbindlichkeit des weltanschaulichen Rahmens für sich anerkannten, sollten mit der intuitiven Sicherheit handeln, gar nicht anders handeln zu können. Auf jeden Fall konnten sie sich dabei der Übereinstimmung mit geltenden Normen sicher sein. Handeln findet immer unter Bedingungen statt, die Menschen nicht frei gewählt und die sie deshalb nur bedingt oder gar nicht zu verantworten haben. Dem Einfluss dieser Bedingungen auf ihre Entscheidungen können sie sich dennoch nicht entziehen. Obwohl wir nicht für die Bedingungen und Zwänge, unter denen wir handeln, verantwortlich sind, tragen wir trotzdem Verantwortung für die Konsequenzen unseres Handelns. Die äußeren Bedingungen, die unser Handeln ursächlich bestimmen, ersetzen nicht die persönlichen Gründe und Motive, die uns letztlich in einer bestimmten Weise handeln lassen. Wir werden sowohl durch auf Bedingungen zurückgehende Ursachen als auch durch uns plausible Gründe dazu bewegt, zu handeln, wie wir handeln. Unmoralisches Handeln Was also sind die konstituierenden Elemente moralischen Handelns? Ist es die in der Identität als Person gründende Perspektive auf sich selbst und den Anderen, aus der eine bestimmte Haltung erwächst, die sich auch unter Umständen behauptet, die moralisches Handeln mit negativen Sanktionen und Risiken belegen? Oder ist es der sich im Wissen um gut und böse, moralisch und unmoralisch frei entscheidende Wille zu dem einen oder anderen? Bedarf es der plausiblen Darstellung des Unmoralischen als der Moral einer neuen Ordnung, damit Menschen sich guten Gewissens für die Unmoral entscheiden? Ist es Menschen auch möglich, Unrecht zu tun und unmoralisch zu handeln, ohne dafür Rechtfertigungen zu finden und sich selbst als anständige Menschen und ihr Handeln als moralisch legitim zu sehen? Welches moralische Selbstverständnis hat die Täter mit gutem Gewissen geleitet? Wie lassen sich moralphilosophische Spekulation, empirische Beschreibung und erklärende Interpretation in einer Weise zu stimmigen Argumentationen zusammenführen, die es uns erlaubt, wenigstens näherungsweise zu verstehen, was im Holocaust geschehen ist? In der alltagssprachlichen Verwendung wird in aller Regel nicht zwischen der Faktizität und Geltung ethischer Normen unterschieden. Von einem Handeln, das uns als moralisch oder unmoralisch gilt, sagen wir, es ist moralisch bzw. unmoralisch. Diese Redeweise unterstellt zugleich, dass auch diejenigen, auf deren Handeln wir uns moralisch wertend beziehen, unsere moralischen Standards teilen. Wenn wir ihnen vorwerfen, unmoralisch zu handeln, so gehen wir intuitiv davon aus, dass sie sich selbst der moralischen Verwerflichkeit ihres Handelns bewusst sind oder aber dass sie prinzipiell fähig sind, diese zu erkennen. Handeln sie im Wissen um den unmoralischen Charakter ihres Tuns, so nehmen wir an, dass sie aus Gründen und unter Einflüssen handeln, die ihre moralischen Standards überlagern und in der konkreten Situation nicht hinreichend zur Geltung kommen lassen. Die Demütigung und Stigmatisierung, die Verfolgung, Ausgrenzung und Vernichtung der europäischen Juden war nicht nur ein beispielloses Verbrechen, sie war auch zutiefst unmoralisch. Diese Feststellung bedarf keiner weiteren Begründung und lässt doch viele Fragen offen. Offen ist vor allem die Frage nach den Motiven und Gründen derjenigen, die aktiv an den Verbrechen beteiligt waren oder sie durch ihre Zustimmung und Indifferenz erst ermöglicht haben. Dass Menschen unmoralisch handeln, kann eine Vielzahl von Gründen haben. Zunächst unterstellt diese Redeweise die Möglichkeit einer unproblematischen Differenzierung moralischen und unmoralischen Handelns. Die Annahme einer alle Menschen einbeziehenden universellen Moral setzt voraus, dass Menschen intuitiv zwischen moralischem und unmoralischem Handeln unterscheiden können. Teilen Menschen, die aus unserer Sicht unmoralisch handeln, unsere Standards moralischen Handelns, so dass sie bewusst unmoralisch handeln, oder handeln auch sie in ihrem eigenen Selbstverständnis und also nach eigenen Kriterien moralisch? Ist das vermeintlich gute Gewissen der Täter nur vorgespielt und selbst eine ideologische Konstruktion, die darauf zielt, das ideologisch nahegelegte Verhalten als moralisch unbedenklich und geboten akzeptabel zu machen?

Erscheint lt. Verlag 9.11.2009
Reihe/Serie Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust
Co-Autor Wolfgang Bialas, Micha Brumlik, Emmanuel Faye, Raimond Gaita, Raphael Gross, Werner Konitzer, Matthias Lutz-Bachmann, Herlinde Pauer-Studer, Gesine Schwan, Christian Strub, Ernst Tugendhat, Rolf Zimmermann
Verlagsort Frankfurt
Sprache deutsch
Maße 140 x 212 mm
Gewicht 346 g
Themenwelt Geschichte Allgemeine Geschichte 1918 bis 1945
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung Politische Theorie
Schlagworte Deutschland • Deutschland/Nachkriegszeit • Ethik • Hardcover, Softcover / Geschichte/20. Jahrhundert (bis 1945) • Holocaust • Holocaust; Jahrbuch • Holocaust/Moral • Holocaust / Shoah; Jahrbuch • Moral • Nachkriegszeit • Nationalsozialistische Verbrechen • Nationalsozialistische Verbrechen/Ethik • NS-Verbrechen
ISBN-10 3-593-39021-3 / 3593390213
ISBN-13 978-3-593-39021-5 / 9783593390215
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