Evangelische Kindertageseinrichtungen als Labore für gesellschaftliche Transformation (eBook)
237 Seiten
epubli (Verlag)
978-3-7584-4749-5 (ISBN)
Martin Kleinert, Jahrgang 1962 war als Sozialpädagoge in verschiedenen Feldern der Kinder- und Jugendarbeit tätig. Seit mehr als 20 Jahren begleitet er als Kitaleitung, Fach- und Organisationsberater und Regionalleiter frühkindliche Bildung in evangelischen Kindertageseinrichtungen. Ein besonderer Schwerpunkt seiner Tätigkeit liegt dabei auf der Implementierung einer kindzentrierten Offenen Arbeit.
Martin Kleinert, Jahrgang 1962 war als Sozialpädagoge in verschiedenen Feldern der Kinder- und Jugendarbeit tätig. Seit mehr als 20 Jahren begleitet er als Kitaleitung, Fach- und Organisationsberater und Regionalleiter frühkindliche Bildung in evangelischen Kindertageseinrichtungen. Ein besonderer Schwerpunkt seiner Tätigkeit liegt dabei auf der Implementierung einer kindzentrierten Offenen Arbeit.
Warum macht das verfügbar gemachte Objekt nicht glücklich? Weil ihm einseitig ein Willen aufgezwungen, es unterworfen wird. Eine einseitig geprägte „Beziehung“ macht Menschen nicht glücklich, weil sie eine Reaktion auf ihre Aktion benötigen. Als Resonanz bezeichnet Rosa hingegen eine wechselseitige Beziehung, die für ihn aus vier Schritten besteht. Resonanz entsteht, wenn eine Berührung, eine Affizierung – eine Beeindruckung, zugelassen wird. Eine Landschaft, ein Musikstück, eine Idee können einen Menschen inwendig ansprechen, ihn beeindrucken. Wenn der Panzer der Verdinglichung, das Streben nach Steigerung und Optimierung durchbrochen wird, wird der Aggressionsmodus verlassen.
„Der Modus der Resonanz (ist) vom Zustand der Entfremdung durch eine gleichsam doppelseitige Bewegung zwischen Subjekt und Welt unterschieden: Auf der einen Seite wird das Subjekt von der Welt affiziert, das heißt, so berührt oder bewegt, dass es ein intrinsisches Interesse an dem begegnenden Weltausschnitt entwickelt und sich gleichsam „adressiert“ fühlt.“ (Rosa (2019), S.39)
Dann muss das Subjekt als Adressat antworten. Diese Antwort zeigt sich in der Regel auch körperlich, z.B. durch eine Gänsehaut, einen Schauer, der über den Rücken läuft, eine veränderte Atemfrequenz oder einem anderen Hautwiderstand. Die Emotion bedeutet ein `nach außen´ gehen. Durch die Erfahrung einer wechselseitigen Kommunikation zwischen ihm und der Welt, erlebt sich das Subjekt als selbstwirksam. Das Wechselspiel zwischen affiziert sein und selbst zu affizieren kann in einem angeregten Gespräch erlebt werden oder im Kontakt des Säuglings, der auf die Blicke, Laute und Sprache eines Erwachsenen reagiert – und dem Erwachsenen ein Lächeln entlockt. Der dritte Schritt zur Resonanz ist die Anverwandlung, die Transformation. Damit ist die gegenseitig beeinflusste Veränderung von Subjekt und Welt gemeint. In einer Begegnung zweier Menschen, die sich gegenseitig beeindrucken, affizieren und sich in der Begegnung jeweils selbstwirksam erleben, werden sich beide verändern. Sie sind nach der Begegnung nicht mehr dieselben, wie vorher. Die beiderseitige Veränderung ist der Unterschied zur bloßen Aneignung.
„Ohne die Trias aus Affizierung (im Sinne der Berührung durch ein anderes) und Emotion (als selbstwirksame Antwort, durch die eine Verbindung entsteht) und anverwandelnder Transformation bleibt die Aneignung eine Beziehung der Beziehungslosigkeit. (Rosa (2019), S42)
Das letzte und wichtigste Moment ist die Unverfügbarkeit. Es gibt keine Garantie oder einen Stufenplan, der Resonanz willentlich herstellen lässt. Selbst wenn alle Rahmenbedingungen stimmen, kann es sein, dass bei einer Begegnung die innere Berührung ausbleibt oder das Subjekt sein Gegenüber nicht zu affizieren vermag und somit die gegenseitige Transformation nicht geschieht. Als gutes und wahrscheinlich bekanntes Beispiel für Unverfügbarkeit nennt Rosa das Weihnachtsfest. Mag der Weihnachtsbaum noch so perfekt sein, die Familie komplett versammelt, das Essen pünktlich und schmackhaft auf dem Tisch sein und niemand bricht einen Streit vom Zaun, kann dennoch die Affizierung ausbleiben, alles bleibt Fassade „der Funkt springt nicht über“. (vgl. Rosa (2019), S.43). Die Unverfügbarkeit von Resonanz hat neben der Unplanbarkeit auch noch eine zweite Seite. Der Transformationsprozess, der durch Resonanz geschieht, ist ebenfalls nicht steuer- oder vorhersehbar. Es bleibt offen, in welche Richtung oder wie tief eine Veränderung des Subjektes stattfindet, wenn eine Begegnung mit einem anderen Menschen, einer anderen Lebensform, einem Buch oder Film geschieht.
Die Unverfügbarkeit der Resonanz ist der Gegenpol zur modernen (westlichen) Welt, in der alles planbar und jederzeit verfügbar sein muss. Die Akzeptanz der Unverfügbarkeit kann der erste Schritt sein, für Resonanzerfahrungen (wieder) offen zu sein und sich gegen allgegenwärtige Werbeversprechen zu wehren, die mit der Sehnsucht der Menschen nach Resonanz arbeiten. Die Veranstalter sogenannter einmaligen Erlebnisse wie ein Candlelight-Dinner oder einer Kreuzfahrt mit Nordlicht- und Eisbärgarantie spielen mit dem Wunsch der Menschen nach Beziehung. Das gekaufte Erlebnis bleibt aber letztlich doch wohl meistens nur objektbezogen. Der Kreuzfahrer HAT am Ende der Reise zwar ein Foto vom Eisbären, aber er konnte sich auch sicher sein, dass der Eisbär im Zweifel erschossen wird, wenn er den Menschen zu nahe rückt, so geschehen im Jahr 2018 {16}. Zwischen einem Menschen und einem Eisbären wird im Rahmen einer Kreuzfahrt in der Regel keine wechselseitige Beziehung, keine Resonanz und keine Transformation entstehend.
Wie bereits weiter oben beschrieben, ist das Streben nach einer Verfügbarmachung der Welt in der modernen Gesellschaft fest strukturell verankert. Das Subjekt kann sich dieser Grundhaltung kaum entziehen. Wissenschaft, Technik, Ökonomie und Politik funktionieren auf der Basis, dass Verfügbarmachung „gut“ ist und stabilisieren auch diese Grundhaltung. Die Politik schafft durch Gesetze und Normensetzung die nötige Verlässlichkeit für die Ökonomie, um technische und wissenschaftliche Prozesse voranzutreiben. Umgekehrt fordern und benötigen Wissenschaft, Technik und Ökonomie jeweils neue Regelungen z.B. im Bereich der pränatalen Diagnostik, der Biotechnologie und der künstlichen Intelligenz, weil grundlegende neue Erkenntnisse gewonnen werden und zur weiteren Forschung und Entwicklung von Nutzungsmöglichkeiten rechtliche Rahmen benötigt werden. Ein Beispiel für die Veränderung von Rahmenbedingungen ist die Nutzung und auch Abschaffung der Kernenergie. Sie wurde auch gegen breite Widerstände der Bevölkerung zunächst nutzbar gemacht. Der Ausstieg aus der Kernkraft wurde nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima 2011 von der Ökonomie lange stark kritisiert, weil vertragliche Regelungen aufgekündigt wurden. Die Haltung der Bevölkerung zur Nutzung der Atomkraft ließ der damaligen Bundesregierung aber wahrscheinlich keine andere Möglichkeit, als der Industrie den Ausstieg teuer zu bezahlen und lange, bis zum 15.4.2023, hinauszuzögern. Bei der Reaktorschmelze in Tschernobyl 1986 wurde ein Ausstieg aus der Atomenergie hingegen nicht erwogen. Die politische und gesellschaftliche Grundstimmung war damals eben anders als 2015.
Der Versuch, die Verfügbarmachung in und mit Regeln zu gestalten kommt jedoch immer wieder an Grenzen. Zum einen ist oftmals die politische Willensbildung langsamer als die wissenschaftliche und technische Entwicklung. Auf der anderen Seite ändern sich Haltungen und Meinungen in der Bevölkerung, die zu politischen Mehrheitsverschiebungen führen können und somit Veränderungen in Regelungen und Gesetzen erzwingen. Als Beispiele seien hier die Gleichstellung von Mann und Frau, die veränderte Haltung zu gleichgeschlechtlichen Partnerschaften oder die wachsende Nachfrage nach biologisch angebauten und fair produzierten Produkten genannt. Erschien in den 1970er Jahren eine Trauung gleichgeschlechtlicher Paare undenkbar, ist dies heute für weite Teile der Bevölkerung nicht mehr der Rede wert. Für Rosa sind diese Veränderungen Prozesse des Unverfügbar-Werdens.
„Dass sich die Welt indessen immer wieder entzieht und allen Bemühungen zum Trotz doch immer weiter als unverfügbar erweist, ist dabei allerdings selbst ein Funktionserfordernis, ohne welches das gesellschaftliche Leben längst sklerotisch erstarrt wäre. Konsequenterweise wird die Dynamik des sozialen Lebens gerade durch die sich immer wieder verschiebenden Fronten des Konflikts zwischen dem Verfügbaren und dem Unverfügbaren erzeugt.“ (Rosa (2019), S.99f)
Die Idee, dass das Unverfügbar-Werden eine Gegenbewegung zu einer unbeweglichen und versteiften, auf ein im Beharren fokussierten Gesellschaft darstellt, ist für mich der Ansatzpunkt und Hoffnungsträger, dass sich Gesellschaft verändern kann und alte Muster durchbrochen werden können. So wie es der 68´ Generation gelungen ist, die Spießigkeit der Nachkriegsjahre zu überwinden, bedarf es heute Bewegungen, die die gesellschaftliche Verharrung im Konsumismus und Neoliberalismus aufzuweichen. Vielleicht sind die „Fridays-for-Future“, die „Letzte Generation“ und „Extinction Rebellion“ Bewegungen erste Antriebsfedern eines gesellschaftlichen Wandels.
2.2.2. Relevanz des Modells der Weltbeziehung für Evangelische Kindertageseinrichtungen
Das soziologische Modell der Weltbeziehung will die Trennung zwischen dem Menschen und der Welt überwinden, in dem es Mensch und Welt in eine Beziehung setzt. Der Mensch wird nicht in eine fertig bestehende Welt hineingeboren, und seine Sicht und Beziehung zur Welt entsteht durch Konstruktion und Co-Konstruktion. Dadurch eröffnen sich Möglichkeiten, die relevant für die Ausgestaltung des Bildungs- und Erziehungsauftrages von Kitas sind, insofern als Kitas die Prozesse der Konstruktion von Weltsicht beeinflussen.
Frühkindliche Bildung in Kitas orientiert sich, je jünger die Kinder sind, an den körperlichen Bedürfnissen der Kinder. Sie treten nach Rosa durch die Grundelemente menschlicher Weltbeziehungen und insbesondere der sechs Kategorien der Körperlichkeit mit der Welt in Verbindung: In-die-Welt-Gestelltsein; Atmen; Essen und Trinken; Stimme, Blick und Antlitz; Gehen, Stehen und Schlafen; Lachen, Weinen und Lieben (vgl. Rosa (2016), S.83ff). Ohne in die Detailbeschreibung zu gehen, ist festzuhalten, dass Rosa zu jeder Kategorie beschreibt, wie durch die jeweilige körperliche Erfahrung das Subjekt im Kontakt mit der Umwelt...
Erscheint lt. Verlag | 13.12.2023 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Schulbuch / Wörterbuch |
Sozialwissenschaften ► Pädagogik ► Erwachsenenbildung | |
Schlagworte | Anthropozän • Bildung für nachhaltige Entw • Evangelisches Profil • Kita • Pädagogik • Systemisches Konsensieren • Werkstattpädagogik |
ISBN-10 | 3-7584-4749-6 / 3758447496 |
ISBN-13 | 978-3-7584-4749-5 / 9783758447495 |
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Größe: 6,2 MB
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