Die Nachtigall (eBook)
160 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-77325-2 (ISBN)
Eigentlich ist die Nachtigall ein unscheinbarer kleiner, brauner Vogel. Von Aussehen, Gewicht, Verhalten absoluter Durchschnitt. Doch wenn die Männchen in lauen Frühlingsnächten zu singen anfangen, dann schlagen die Herzen der Verliebten ebenso höher wie die der Ornithologen. Denn der Gesang der Nachtigall ist alles andere als Durchschnitt und stellt in seiner Komplexität mit sage und schreibe zweihundert verschiedenen Strophentypen den anderer Singvögel komplett in den Schatten. Doch was singt die Nachtigall eigentlich und warum? Und was sahen Generationen von Dichtern und Komponisten in ihrem Gesang? Die Biologin Silke Kipper beforscht die Nachtigall seit mehr als zwanzig Jahren, sie hat unzählige Frühlingsnächte lauschend in Berliner Parks verbracht und geht in ihrem Buch dem Nachtigallengesang und unserer Faszination daran auf den Grund.
Ein kenntnisreiches und doch leichtfüßiges Porträt des wohl beliebtesten Singvogels, seines Gesangs, und zugleich ein fundierter Einblick in die Nachtigallforschung und -rezeption.
Prof. Dr. Silke Kipper studierte Biologie und wurde an der FU Berlin promoviert. Im Zentrum ihrer Forschung im In- und Ausland stand die Frage, wie Tiere über Gesänge, Rufe und andere Lautäußerungen Informationen austauschen. Sie untersuchte die Gesänge vieler Vogelarten, wobei ihre besondere Forschungsleidenschaft der Nachtigall galt. Inzwischen lebt Kipper mit ihrer Familie in der Prignitz in Brandenburg, wo sie als Grundschullehrerin mit Kindern die Natur vor der Haustür entdeckt.
Einleitung – Wie ich auf die Nachtigall kam
»Tiuu tiuu tiuu tiuu, Spe tiu zqua. Tio tio tio tio tio tio tio tix. Qutio qutio qutio qutio, Zquo zquo zquo zquo; Tzü tzü tzü tzü tzü tzü tzü tzü tzü tzi. Quorror tiu zqua pipiqui. Zozozozozozozozozozozozo Zirrhading …« Und so weiter und so weiter …
Die ganze Nacht lang. So singt sie, die Nachtigall. Vielmehr, so oder so ähnlich versuchten Generationen von Vogelkundlern (in diesem Fall Johann Matthäus Bechstein 1789), ihren Gesang schriftlich festzuhalten.
Jahrhunderte später leben wir im Zeitalter des Glaubens an quantifizierte Daten als Maß aller naturwissenschaftlichen Dinge und gesangskundige Ornitholog:innen würden den Gesang der Nachtigall eher so beschreiben: Der vielseitige Gesang eines Männchens besteht aus durchschnittlich einhundertachtzig verschiedenen Strophentypen. Dabei werden identische Strophen nicht direkt hintereinander wiederholt, aber die Abfolge der Strophen unterliegt dennoch bestimmten Ordnungsprinzipien. Die etwa vier Sekunden dauernden Strophen wechseln mit etwa ebenso langen Pausen ab. Eine Strophe besteht zumeist aus einem variablen Anfangsteil und einem aus wiederholten Elementen bestehenden Trill oder Schlag, der häufig von einem kontrastierenden finalen Element beendet wird …
Klingt ähnlich unpassend wie Zozozozo Zirrhading?
Um die vielleicht beste Botschaft dieses Buches schon vorwegzunehmen: Wissenschaftlich vollständig ergründet oder gar entzaubert ist der Nachtigallgesang noch lange nicht. Er bleibt einstweilen akustischer Sehnsuchtsort und Projektionsfläche. Das gilt auch für mich, obwohl diesem Gesang und dem Liebesleben der Nachtigall zwanzig Jahre lang meine ganze wissenschaftliche Aufmerksamkeit galt. Erst die Nachtigall hat mich zur begeisterten Naturkundlerin gemacht.
Ich bin ein Kind der großen Stadt. Zwar fuhren wir mit der Familie an jedem Wochenende auf die Datsche außerhalb Berlins in unmittelbarer Wald-, Feld- und Seenähe, doch die Liebe zur echten, wilden Natur weckte das nicht. Natur kam nicht wild, sondern in von Menschen geordneten Verhältnissen daher. Dass die brandenburgische Kiefernmonokultur nicht der ›Inbegriff‹ eines Waldes ist, verstand ich erst als Biologiestudentin.
Die Spatzen und Tauben in der Stadt sahen allzu schmuddelig und verwahrlost aus, um gemocht zu werden, und meine in den Kinderhygiene-gläubigen Siebzigern erziehenden Eltern warnten ohnehin vor jedem Kontakt mit lebenden oder toten Vögeln oder Teilen davon. Bis heute kann ich – wider besseres Wissen – ein ungutes Gefühl nicht ganz abstellen, wenn Kinder begeistert Federn aufsammeln. Mein Verhältnis zu Federtieren war pragmatisch: ich konnte einen Broiler zerlegen und liebte meine Daunendecke. Aber auf Vogelstimmen achten oder sie gar zuordnen können? Fehlanzeige!
Als meine Eltern uns im Schulalter endlich den Wunsch nach einem Haustier erfüllten, zog bei uns eine Reihe putziger Hamster ein, die im Monatstakt verstarben. Schließlich kam Kleinpapagei Bobbie, ein Rosenköpfchen, ins Haus. Die gehören zu den sogenannten »Unzertrennlichen«. Wie der Name schon sagt, eine Vogelgattung, die extrem sozial ist und unbedingt einen Partner braucht. Das wussten wir wohl nicht. Bobbie war Single. Er wurde viele Jahre alt, aber nie zahm, und sein kräftiger Schnabel verursachte blutende Wunden, wenn meine Mutter ihn in den Transportkäfig steckte. Erst später begriff ich, dass der arme Kerl vermutlich der einsamste Vogel unter der Sonne war. Er hat so viel Krach gemacht, dass sich der sensible Nachbar im hellhörigen Plattenbau ständig beschwerte. Auch Bobbie brachte mich dem Wohlklang des Vogelgesangs nicht näher.
Wann sich meine persönlichen Leitsätze im Umgang mit Tieren entwickelten, weiß ich nicht mehr. Sie lauten: ›Nicht anfassen, nur gucken‹ und ›Der Abstand zwischen einem Tier und mir wird vom Tier bestimmt‹. Während des Biologiestudiums waren diese Verhaltensregeln jedenfalls bereits geformt. Sie brachten Freundinnen mit Schweinebürsten-, Affenfüttern- und Delphinstreicheln-Neigungen manchmal zur Verzweiflung. Erst im Berufsleben als Biologin biss ich in den sauren Apfel der Erkenntnis und akzeptierte, dass wissenschaftlicher Erkenntnisgewinn mitunter auch das »Anfassen« und »Annähern« nötig macht.
Wie konnte unter diesen Voraussetzungen eine Verhaltensbiologin aus mir werden? Wie so oft entschied der Zufall. Im ersten Semester des Hauptstudiums waren die Kurse, die mich interessierten, sofort ausgebucht – auch alle anderen wollten den Elektronenmikroskopierkurs oder die Teneriffa-Exkursion belegen. Das Los entschied, und ich landete in einem Moosbestimmungskurs und einem zur Bioakustik der Nachtigall. Während der Moosbestimmungskurs keine sichtbaren Spuren hinterlassen hat, weckte die Bioakustik irgendetwas in mir. Bioakustik – was war das denn jetzt wieder? Und eine Nachtigall meinte ich noch nie gehört zu haben. Doch wohl nicht in Berlin!
Und damit begann das Abenteuer. Unsere Dozentin nahm uns mit auf den Berliner Teufelsberg, um Nachtigallgesänge aufzunehmen. Nachts, versteht sich. Erlebnisse mit Wildschweinen, Nachtbus-Fahrern und dem Wachpersonal der damals noch intakten riesigen Radaranlage dort fühlten sich mindestens so abenteuerlich an wie Jane Goodalls Schimpansen-Feldforschungen im Dschungel. Ich erlag also nicht dem melodisch-sehnsuchtsvollen Gesang, sondern einem Forschungsplot und einem Image.
Feldforschung sollte es sein, nachts und mitten in der Großstadt! In meiner ornithologischen Naivität machte ich selbstverständlich allerhand Anfängerfehler – etwa, als ich begeistert eine Nachtaufnahme machte und sie Henrike stolz als ›Balzgesang‹ einer Nachtigall präsentierte, denn sie hatte uns erklärt, dass die Männchen bei direkter Anwesenheit eines Weibchens zarter und weniger strukturiert singen, dieser Gesang aber kaum je aufgenommen wurde. Es war dann doch nur ein nachts flötendes Rotkehlchen. Ich denke mit Nachsicht an diese Episode angesichts meiner eigenen Studierenden, die zum Nestersuchen eine Leiter mitnehmen wollten oder versehentlich Playbacks mit Amseln statt Nachtigallen machten. Expertise entsteht erst mit der Zeit! Es dauerte sehr viele Jahre, bis mir schon ein einmaliges leises kurzes Klick oder Huit zur sicheren Detektion einer Nachtigall ausreichte.
Die Methode des Aufnehmens und Analysierens von Tierlauten begeisterte mich zudem in ihrer Kultiviertheit. Man musste die Tiere nicht einfangen oder aufschneiden. Stattdessen ging es so einfach: Man hielt sein Mikrofon mit Aufnahmegerät in die Natur. Oder noch besser: Man konnte es einfach liegen lassen. Mitten in der Stadt! Dinge, die Menschen nicht zu sehen erwarten, bleiben auf wundersame Weise unsichtbar. Später lud man die Aufnahmen auf einen Computer und setzte sie in Spektrogramme um – jedes Geräusch, jede Strophe wurde so zu einem Bild von wiederum ganz eigener Ästhetik. Da konnte man Muster wiedererkennen, Dauer und Frequenzen messen … ein Daten-Traum!
Die Mitte der Neunziger gerade aufkommende Möglichkeit der digitalen Übersetzung von Klängen in Bilder erlaubte auch einem stark visuell orientierten Menschen wie mir den Zugang zu einem Forschungsfeld, das versucht, die Sprache der Tiere zu verstehen. Ich wollte und will noch heute begreifen, warum diese kleinen braunen Vögel so viele verschiedene Gesänge singen. Um die hundertachtzig Strophen beherrscht ein Männchen, und die werden alle erlernt. Vom Vater. Oder von den anderen Männchen in der Nachbarschaft. Vorerst interessierte mich allerdings mehr, was die Nachtigallmänner mit ihrem Gesang mitteilen wollen – und wem genau. Und warum die Weibchen wohl bis auf einige Rufe stumm bleiben.
Wer an von Menschen dicht besiedelten Orten mit Mikrofon und Fernglas steht, um Tiere zu beobachten, der bekommt Kultur- und Alltagsgeschichte gratis dazugeliefert. So war auch meine Forschung von unzähligen Nebengeräuschen begleitet: Ich diskutierte nachts im Park mit einem Polizisten darüber, wie er die Nachtigall vor seinem Schlafzimmerfenster vertreiben könne und ob das erlaubt sei. Am Tag verdächtigten die Damen vom Ordnungsamt unser Feldteam der Suche nach einem entlaufenen, nicht angeleinten Hund oder sogar der Beobachtung kleiner Kinder. Die Dealer am Bahnhofseingang fühlten sich ebenfalls ungut ins Visier genommen, verstanden aber schnell, dass sie nicht im Fokus...
Erscheint lt. Verlag | 11.4.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Schulbuch / Wörterbuch ► Lexikon / Chroniken |
Technik | |
Schlagworte | aktuelles Buch • Bioakustik • bücher neuerscheinungen • David Rothenberg • geschenk für ornithologen • Geschenk für Vogelkundler • insel taschenbuch 4972 • IT 4972 • IT4972 • Nachtigall • Nachtigallen in Berlin • Neuerscheinungen • neues Buch • Nils Hoff • Ornithologie • Singvögel • Vögel in Berlin |
ISBN-10 | 3-458-77325-8 / 3458773258 |
ISBN-13 | 978-3-458-77325-2 / 9783458773252 |
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