Crooked Letter, Crooked Letter von Tom Franklin: Reclam Lektüreschlüssel XL (eBook)

Larry Ott

»Scary Larry« (S. 29, 105) – so nennen viele den 41-jährigen Larry Ott, denn er wird mit einem nie aufgeklärten Verbrechen in Verbindung gebracht: dem Verschwinden von Cindy Walker im Jahr 1982. Das Mädchen wurde kurz vor ihrem Verschwinden zuletzt mit Larry gesehen. Man vermutet in ihm einen Vergewaltiger und Mörder und meidet den Kontakt. Er darf wegen seiner Vergangenheit keine Waffe besitzen (S. 5).

Larry ist Larrys Einsamkeitledig und wohnt im Haus seiner Eltern, das nun ihm gehört. Das Haus steht am Rande des Orts. Larrys Vater ist vor Jahren bei einem Autounfall gestorben; seine Mutter ist dement und lebt in einem bescheidenen Pflegeheim. Larrys Existenz ist eintönig. Er lebt ohne Computer und Satellitenfernsehen (für seinen Fernseher hat er nicht einmal eine Fernbedienung, S. 73), umgeben von den Besitztümern seines Vaters: »The tractor, like everything else, had been his father’s« (S. 2). Von den Gegenständen in der Wohnung spiegeln einzig die Bücher, die Larry liest und sammelt, seine eigene Persönlichkeit wider. Es handelt sich dabei hauptsächlich um Horror-Romane. Sein Lieblingsautor ist Stephen King. Er ernährt sich von ›Junk food‹ und schaut anspruchslose Fernsehsendungen an, die ihn zum Schmunzeln bringen (»smiling with the laugh tracks«, S. 1). Der nächste Nachbar wohnt eine Meile entfernt (S. 1).

Wir erfahren schon im ersten Kapitel einiges, was nicht zu Scary Larry?Larrys Ruf als Monster, Vergewaltiger und Mörder passt: Nachdem er angeschossen worden ist, fühlt er eine Art Vergebung für seinen Täter (»strange forgiveness«, S. 8); und er geht, in Ermangelung sozialer Kontakte, geradezu höflich mit seinen Hühnern um: »Have a good day, ladies« (S. 4). Larry kümmert sich überhaupt liebevoll und in sehr kreativer Weise um die Hühner, die alle von ihm mit Namen angesprochen werden (sie sind offenbar nach den Ehefrauen der US-Präsidenten benannt). Er hat ein ausgeklügeltes System für ihre Haltung entwickelt, das sowohl die Wiese schont als auch das Wohlsein der Tiere fördert. Die Eier sind wohlschmeckend und das Eigelb hat eine schöne Färbung. Seine Arbeit als Hobby-Farmer wird sehr eingehend dargestellt, auch die damit verbundenen Gerüche (S. 3) werden beschrieben, um den sinnlichen Aspekt seines Tuns zu evozieren. Seine Larrys Arbeit in der AutowerkstattArbeit in der Autowerkstatt ist dagegen nur eine Scheinbeschäftigung. Er ist ›in der Theorie‹ (S. 4) Automechaniker; in der Praxis hat er kaum Kunden und verbringt wohl mehr Zeit mit der Reparatur und Pflege des eigenen Wagens (der gelegentlich von böswilligen Randalierern beschädigt wird) als mit Arbeiten an defekten Fahrzeugen anderer. Sein Auto ist »a patient with its own full-time doctor« (S. 108). Selbst die Schubladen im Büro der Werkstatt sind gut geölt und gepflegt.

Der einzige regelmäßige Besucher ist French, denn Larry ist grundsätzlich ein Verdächtiger (»a person of interest«, S. 6), wenn es um die Aufklärung von Gewaltverbrechen geht. Das macht Larry zu einem besonderen Außenseiter: Er ist ein Außenseiter, der nicht nur jenseits der restlichen Gesellschaft lebt, sondern zugleich unter ständiger Beobachtung steht. Lediglich die Kellnerin in »The Hub« empfindet Mitleid für ihn: »I always felt bad for him« (S. 107).

Larry fühlte sich als Kind vom Vater ungeliebt. Er ist nicht groß und stark wie sein Vater – dieser zeichnete sich durch die hochgewachsene Gestalt eines Sportlers »a tall, pitcher’s physique« (S. 45) aus –, sondern ist eher etwas pummelig. Es ist von »shambling, stoop-shouldered pudginess« (S. 44) die Rede (shambling bedeutet hier etwa »ungelenk«). Der Vater macht sich über seinen Sohn lustig, etwa durch die scherzhafte Wendung »mechanically disinclined« (S. 45), die man als liebevolle Hänselei deuten könnte, wenn man nicht wüsste, dass Carl Ott auch gegen seinen eigenen Sohn Gewalt anwendet. Im Übrigen zeugt Larrys Werdegang davon, dass er eben nicht handwerklich unbegabt ist; im Gegenteil, er verlässt die Armee als ausgebildeter Mechaniker. Carl Ott kommt wohl nicht damit zurecht, dass sein Sohn ein Außenseiter ist, dass er ungewöhnliche Ein Junge mit ungewöhnlichen HobbysHobbys hat (die Lektüre von Horrorromanen) und nicht sportlich ist. Larry fällt auch dadurch auf, dass er gefangene Wildtiere (Schlangen) in die Schule mitnimmt. Er tut dies wohl in der Hoffnung, anderen zu imponieren oder aber einfach auch um Kontakt zu suchen. Trotzdem gilt er in der Mittelschule als »the new kid who was never quite accepted« (S. 51). Schlüsselszenen aus dem Roman zeugen von misslungenen Bemühungen um Akzeptanz und Geltung. Aufmerksamkeit bekommt er zwar immer wieder – zum Beispiel als er bei der Halloween-Party als Zombie auftritt, aber Hoffnung auf AkzeptanzAnschluss findet er in der Gruppe trotzdem nicht. Sein Wunsch dazuzugehören ist so groß, dass er um der Akzeptanz willen eine schwarze Mitschülerin beleidigt (S. 55) – das führt allerdings nicht dazu, dass er wie versprochen mit Ken und David ins Autokino darf, vielmehr wird er von den schwarzen Schülern verprügelt. Ein Asthmaleiden, das ihn bis in die 5. Klasse plagt (S. 98), und eine Neigung zu stottern sind zwei weitere Merkmale seines Außenseitertums. »When he stuttered, the other boys laughed and his teacher thought he was doing it on purpose and fussed at him« (S. 97). Das Stottern, das er in der 4. Klasse überwunden hatte, kehrt beim Kampf um das Gewehr umso prononcierter zurück (S. 103).

Larry ist nicht hochintelligent, hat aber dank seiner Buchleidenschaft einen großen Wortschatz. Silas muss Larrys Definition einer Jungfrau – »Somebody that hadn’t ever had intercourse.« – zur Bestätigung vereinfachen: »Intercourse? You mean somebody ain’t never been fucked?« (S. 89). Bestimmte Eidechsen nennt er in fast zwanghafter Ablehnung der umgangssprachlichen Bezeichnung »anoles« (S. 69). Dieses Bewusstsein für die Feinheiten der Sprache ist Teil seines Außenseitertums.

Larrys Schicksal hat einen tragischen Aspekt, denn nicht nur seine Schwäche und seine Larrys Naivität – sein Untergang?Naivität führen zu seinem Untergang, sondern auch seine Treue: Er verschweigt zunächst Cindys angebliche Schwangerschaft, was ihn in den Augen der Polizei unglaubwürdig und somit auch verdächtig macht. Larrys Gutgläubigkeit wirkt sich auch auf seine Freundschaften aus. Zwar gelingt es ihm, mit Silas eine kurze und auch genuine Jugendfreundschaft zu knüpfen, aber als er später Cindys vorgespieltes Interesse an ihm für echt hält, und er ihr Verhalten also völlig falsch einschätzt, hat das für ihn katastrophale Folgen. Seine Unerfahrenheit im Umgang mit Gleichaltrigen hat auch einen ganz praktischen Hintergrund: Aufgrund seines entlegenen Wohnorts ist es für Larry schwierig, sich mit anderen Schülern zu treffen. Viele Jahre später entwickelt sich zwischen Wallace Stringfellow und Larry eine Art Freundschaft, aber auch in diesem Fall schätzt Larry den neu gefundenen Freund völlig falsch ein. Die Gründe hierfür sind einerseits in Larrys Persönlichkeit und schwieriger Kindheit zu suchen, andererseits sind sie vergleichsweise banal: Wenn man lange Zeit keinen Kontakt zu anderen Menschen gehabt hat, dann ist man nicht besonders wählerisch (S. 209).

Larrys religiöses Empfinden lässt sich schwer fassen. Zwar ist von einem Hunger nach Gott die Rede (»hungry for God«, S. 209), und das Beten gehört zu seinem täglichen Ritual (S. 209), doch auch in dieser Hinsicht zeigt er sich ziemlich einfältig: Nicht Sinnsuche, sondern ein naiver Glaube an einen Lenker prägt seine Religiosität.

Am Ende ist es vor allem Larrys Eine einsame ExistenzEinsamkeit, die die Leser berührt. Dass er an dieser jahrelangen Einsamkeit nicht schuld ist, verleiht seinem Schicksal eine sehr schmerzliche Note. Der Autor unterstreicht Larrys Einsamkeit durch die Beschreibung einiger Kleinigkeiten: Von seinem Briefkasten heißt es, dass das rote Fähnchen schon vor langer Zeit abgerissen war (»red flag long wrenched off«, S. 5). Dieses Fähnchen zeigt eingehende und auch ausgehende Postsendungen an, steht also letztlich für die Kommunikation mit der Außenwelt. Dass Larry sein Auto nach mutwilligen Beschädigungen durch engstirnige und gehässige Randalierer so geflissentlich repariert, als handle es sich um eine Selbstverständlichkeit; dass er die Schubladen im Werkstattbüro, den Traktor des Vaters so gut pflegt, jedoch seinen eigenen Briefkasten unrepariert vor dem Haus stehen lässt, das ist eine etwas traurige und zugleich subtile Aussage darüber, dass der 41-Jährige mit der Möglichkeit eines irgendwie gearteten Soziallebens schon längst abgeschlossen hat.

Interessant und zugleich überraschend ist die Tatsache, dass Larry nach seinem Erwachen aus dem Koma in der Lage ist, seine schreckliche Situation relativ...