Rudolf Steiner und die heutige Welt (eBook)

Ein Beitrag zur Diskussion um die menschliche Zukunft
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2016 | 1. Auflage
184 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-560781-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Rudolf Steiner und die heutige Welt -  Walter Abendroth
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Sehr zu Recht lautet der Untertitel »Ein Beitrag zur Diskussion um die menschliche Zukunft«. Damit wird signalisiert, wie aktuell die Denkansätze und prinzipiellen Ansichten der Steinerschen Anthroposophie heute wieder geworden sind. Der Reiz dieses Bandes besteht darin, daß man wichtige Passagen aus dem Werk Rudolf Steiners auf diese Aktualität hin überprüfen kann. Probleme, die sich durch die gegenwärtige Situation jedem von uns stellen, werden skizziert und mit Aussagen Steiners verglichen. Es geht dabei um die Frage nach den Autoritäten, also den Leitbildern, nach der Sinnlosigkeit der Zufallswelt und nach der Sozialidee, der die Pädagogik heute verpflichtet sein sollte. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Walter Abendroth (1896-1973), Komponist, Kulturkritiker und freier Schriftsteller, Studium der Musik in Berlin und München, nach 1945 Feuilletonchef der ZEIT in Hamburg, später Kulturkorrespondent dieser Zeitung in München.

Walter Abendroth (1896–1973), Komponist, Kulturkritiker und freier Schriftsteller, Studium der Musik in Berlin und München, nach 1945 Feuilletonchef der ZEIT in Hamburg, später Kulturkorrespondent dieser Zeitung in München.

Die Sinnlosigkeit der Zufallswelt


Das »kurze« Denken, von dem Rudolf Steiner oft sprach, das Denken nicht über die materielle Welt hinaus, ist zwar, in der heute gegebenen extremen Ausprägung, vielleicht und hoffentlich nur eine epochale Erscheinung (Steiner selbst stellte es als vorübergehend notwendige Entwicklungsphase dar). Es hat jedoch – wie alle seine Folgen, wie mithin auch alles, was oben als jetziger Zustand der Menschheit beschrieben wurde – seinen letzten Grund in der gleichsam a priori »kurzen« Perspektive, dem a priori engen, offenbar zu engen Horizont unserer seit vielen Jahrhunderten allein-gültigen und doch durch nichts als den oberflächlichsten Augenschein begründeten Lebensvorstellung; der Vorstellung, daß wir nur einmal leben. Man sagt nicht zuviel mit der Behauptung, daß auf der Basis dieser Vorstellung die Entwicklung der menschlichen Dinge gar nicht anders laufen konnte, als sie gelaufen ist und einstweilen weiterläuft. Und dies zwar ganz einfach deshalb, weil bei der Annahme nur einmaligen Lebens eben diesem Leben schlechterdings kein Sinn für den einzelnen Menschen abzugewinnen ist. Der Satz »Man lebt nur einmal in der Welt« steht wie ein unumstößlicher, unbeweglicher Block da; und er blockiert das Daseinsbewußtsein der Menschen wie nur die Einsicht einer unausweichlichen Naturtatsache das menschliche Denken, Fühlen und Wollen zu blockieren vermag. Allerdings enthält er trotz dieser blockierenden, dieser Grenzen setzenden, gewissermaßen lähmenden Wirkung ein Potential verschiedenartiger Folgerungen. Die natürlichste ist: das Bestreben, die kurze Zeitspanne so freudenreich, sorglos und unbeschwert, wie es eben gehen will, zu durchlaufen. Eine andere: die Bemühung, das Mögliche zu tun, um das Hiersein allen daran Teilhabenden so genießbar oder erträglich wie möglich zu machen. Eine dritte: die Unterordnung unter ein entweder angeborenes oder anerzogenes, entweder aus freien Stücken oder auf Befehl anerkanntes Pflichtgefühl. Eine vierte: die Wahrnehmung einer Gesinnung, die keinerlei Bindung, Pflicht oder Verantwortung akzeptiert. Und von diesen unterschiedlichen Einstellungen gibt es ebenso unterschiedliche Grade; sie können einerseits ins Kriminelle, anderseits ins Verstiegene ausarten. Indessen: beschaut man die Sache vom Standpunkte der materialistischen Weltansicht – und von ihr als der absolut zeitbeherrschenden haben wir immer wieder auszugehen –, dann sind alle jene möglichen Verhaltensweisen bestenfalls imstande, entsprechend glücklich veranlagten Einzelmenschen eine gewisse subjektive Befriedigung zu gewähren; aber keinesfalls, der ganzen aufgeregten und aufreibenden Veranstaltung irgendeinen annehmbaren objektiven Sinn zu verleihen. Da doch der Tod für den Einzelmenschen alles Erlebte, Geleistete oder Verschuldete mit einem einzigen Federstrich faktisch annulliert, so erscheint die schlechthin triebhafte, auf bloße Selbsterhaltung und Selbstbehauptung gerichtete Einstellung als die einzige realistische. Vor allem gibt das »nur einmalige« Leben keine Grundlage für moralische oder auch nur soziale Postulate her, denen nicht mit den schlagkräftigsten Argumenten widersprochen werden könnte. Denn für das einzelmenschliche Subjekt ist es nach dem Tode völlig gleichgültig, ob es seine Lebensfrist zwischen dem zufälligen Geborenwerden und dem endgültigen Nichtmehrsein als Wohltäter oder Schädling, Heiliger oder Verbrecher, Tatmensch oder Tagedieb absolviert hat. Am wenigsten läßt sich auf die Voraussetzung der »Einmaligkeit« irgendeine Verantwortlichkeit der heute Lebenden für die morgen Lebenden begründen; zumal da die moderne Wissenschaft wie die moderne Soziallehre und vollends die moderne Politik den Menschen nur noch als Gattungswesen begreifen und behandeln. Verantwortlich gemacht werden kann doch allein das selbstbewußte Individuum: Generelle, kollektive Verantwortlichkeit ist Kommandosache, ist Sklaverei. Es sollte überhaupt leicht zu verstehen sein, daß Moral, da sie dem bloßen Naturzustand des Lebens nun einmal keineswegs immanent ist und auch nicht befohlen werden kann, ohne ihren eigentlichen Wert dabei einzubüßen, einzig aus übernatürlichen Impulsen hergeleitet zu werden vermag. Materialistisches Denken widerlegt sich selbst, wenn es Pflicht predigt, Verantwortlichkeit verlangt und sittliche Ordnungen durchsetzen möchte. Das »nur einmal lebende« Individuum ist durchaus berechtigt, jeder entsprechenden Forderung das Argument entgegenzuhalten: es sei ohne seinen Wunsch in das Leben versetzt worden und werde ohne Folge (für es selbst) daraus verschwinden.

Betreffs der nicht-materialistischen, insbesondere der religiösen Lebensdeutung, die den Einzelmenschen von einer postmortalen überirdischen Gerichtsbarkeit her in Pflicht nehmen will, ist anzumerken, daß auch diese Lehre ihre Achillesferse gerade in der Vorstellung der Einmaligkeit des Menschenlebens hat. Denn im Rahmen dieser Vorstellung entbehrt sie nicht allein jeder Logik, sondern verstößt auch gegen die Gerechtigkeit. Der Richter selbst hat da seinen eigenen Geschöpfen die Eigenschaften mitgegeben, über die er nachher richtet; und hat ihnen obendrein die Bedingung bereitet, die Grenzen gesetzt, die unerhört ungleichen Chancen zugeteilt, mit den angeschaffenen Eigenschaften innerhalb einer kleinen Frist sich als »gut« oder als »böse« zu erweisen; auf Grund welchen Befundes er am Ende aber ewige Seligkeit oder ewige Verdammnis verhängt. Der dem Denken ausweichende Einwand »Gott werde schon wissen …«, der uns erst recht zu willenlosen Spielpuppen in der Hand einer hinter »Unerforschlichkeit« verschanzten Verfügungsmacht degradiert, verfängt nicht. Die ungleich verteilten Lose bleiben; die Rechnung geht in keinem Falle auf. Sie geht auch nicht auf, wo ein Sinn gefunden werden soll in der Idee einer allmählichen Höherentwicklung »der Menschheit«. Denn da erhebt sich die Frage: Was hat der einzelne davon, der in diesem Vorgang (ihn einmal als eindeutig anerkannt) lediglich eine Stufe ist? Eine Stufe der Trittleiter, auf welcher das Abstractum »Menschheit« irgendwohin hinaufsteigt, so daß die Letzten als Vollkommenste die Lebens-, Leidens- und Entwicklungsfrüchte aller Vorhergegangenen genießen werden? Eine empörende Vorstellung!

Übrigens ist die Ungleichheit der Lose, wie der angeborenen Eigenschaften und Möglichkeiten, von derselben, jede vernünftige Moralbegründung ausschließenden Bedeutung, wenn sie nicht gottgegeben, sondern zufällig sein soll – wie in materialistischer Sicht ja alles mechanisch Unerklärliche zufällig ist: von Zeit und Ort der Geburt angefangen über das Geschlecht, die Erbanlagen, die geschichtlichen Zeitumstände bis zur Todesursache und dem Termin des natürlichen oder gewaltsamen Abbruchs der Lebensbahn. Daß die auf materialistischer Weltauffassung fußenden Zivilisationsmächte, die wirtschaftlichen wie die politischen, den von ihnen beherrschten Menschen anstelle echter Moralbegriffe angeblich sie verpflichtende Verhaltensweisen diktieren, ist durchaus logisch: In der materialistisch interpretierten Zufallswelt ist Moral gleich Interesse, Moral gleich Politik. Zum Beispiel gilt schon heute und wird in der Zukunft der perfekten »Industriegesellschaft« noch nachdrücklicher gelten, daß Eigenschaften, die unverbogenes, natürliches Empfinden als menschliche Vorzüge, als »Tugenden«, also als moralische Kräfte versteht – zum Exempel Anspruchslosigkeit, Bescheidenheit, Sparsamkeit, Genügsamkeit –, zu strafwürdigen Lastern gestempelt werden, weil sie der permanenten Expansion des Konsums hinderlich sind. Selbstlosigkeit wird in Selbstsucht umgewertet; individueller Wert zu kollektivem Unwert. Die politischen Meinungen selbst werden, je nach augenblicklicher Erwünschtheit oder Unerwünschtheit, moralisch bewertet. Es gibt politische Rechtgläubigkeit und politische Ketzerei. In dem politischen Gewissenszwang (den die Demokratie, genau betrachtet, so gut kennt wie die Diktatur) ist, materialistisch umgedacht, das religiöse Mittelalter wiederauferstanden; hier wie dort wurden und werden den Einzelmenschen geistige Fesseln angelegt. Das konsequent materialistische Denken treibt die Sinnentleerung des einmaligen Lebens aber noch viel weiter. Es löscht den Menschen als Menschen aus, indem es das Hauptmerkmal des Menschseins, eben die Individualität, die Unvertauschbarkeit des Einzelmenschen und seines Schicksals, für die bedeutungsloseste aller Zufälligkeiten erklärt. Nur die Gemeinschaft soll einen Sinn, nur sie und sie ganz allein soll Daseinsrecht und sittliche, verpflichtende Bedeutung haben. So wird für seine knappe einmalige Lebensspanne das einzelne Menschenwesen auch noch auf die Ebene der Tierheit heruntergedrückt und damit sein Vorhandensein erst völlig sinnlos gemacht. Die selbstverantwortliche und überhaupt verantwortungsfähige Persönlichkeit, höchster Wert und höchste Würde des Menschentums, wird ausgelöscht zugunsten reibungsloser Funktion einer mechanischen Kollektiventwicklung auf das Ziel eines mittels organisierter Planung vermeintlich der Zufälligkeit enthobenen Gemeinschaftsparadieses für spätere Nutznießer hin. Menschheitserlösung durch radikale Entmenschung also! Eine widernatürliche Wahnidee; Triumph der äußersten Unsinnigkeit.

Man stelle es an, wie man wolle: In das »nur einmalige« Leben ist kein Sinn hineinzubringen und zu -zwingen; sein Entwicklungsgang in immer sinnlosere Unsinnigkeit entspricht vollkommen dem Gesetz dieser »Einmaligkeit«, die...

Erscheint lt. Verlag 15.2.2016
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Schulbuch / Wörterbuch Lexikon / Chroniken
Technik
Schlagworte Anthroposophie • Arthur Schopenhauer • Ätherleib • Dreigliederung • Egon Friedell • Geisteswissenschaft • Lebensleib • Lebensnotwendigkeit • Menschenbild • Robert Owen • Rudolf Steiner • Sachbuch • Sozialidee • Vergewaltigung • Wilhelm Röpke
ISBN-10 3-10-560781-1 / 3105607811
ISBN-13 978-3-10-560781-7 / 9783105607817
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