Thomas Manns biblisches Werk (eBook)

Der Joseph-Roman und die Moses-Erzählung ?Das Gesetz?
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2015 | 1. Auflage
202 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-560728-2 (ISBN)

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Thomas Manns biblisches Werk -  Käte Hamburger
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Thomas Manns Joseph-Roman und seine Moses-Erzählung ?Das Gesetz? gelten als die bedeutendsten Gestaltungen biblischer Stoffe in der Literatur. Käte Hamburgers Analyse von Thomas Manns biblischem Werk ist ein Meisterstück der Dichtungsinterpretation. Die Literaturwissenschaftlerin untersucht die historische Wirklichkeit und die zeitgeschichtliche Verwurzelung des Stoffes ebenso wie seine dichterische Gestaltung. Käte Hamburger verbindet ihre profunde Kenntnis biblischer Überlieferung und der von Thomas Mann genutzten Quellen mit ihrer Fähigkeit, Dichtung kompetent und verständlich darzustellen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Käte Hamburger (1896-1992), Prof. Dr. phil., Literaturwissenschaftlerin. Veröffentlichungen u. a.: ?Der Humor bei Thomas Mann?, ?Rainer Maria Rilke?, ?Leo Tolstoi?, ?Die Logik der Dichtung?.

Käte Hamburger (1896–1992), Prof. Dr. phil., Literaturwissenschaftlerin. Veröffentlichungen u. a.: ›Der Humor bei Thomas Mann‹, ›Rainer Maria Rilke‹, ›Leo Tolstoi‹, ›Die Logik der Dichtung‹.

Der Joseph-Roman


1. Kapitel Stoff und Erzählweise


Wenn in der einleitenden Erörterung über den biblischen Stoff erzählender (und dramatischer) Dichtung die unter dem Gesamttitel »Joseph und seine Brüder« zusammengefaßten vier Romane »Die Geschichten Jaakobs«, »Der junge Joseph«, »Joseph in Ägypten«, »Der Ernährer« unter dem Gesichtspunkt des traditionellen historischen Romans gesehen wurden, so könnte damit gesagt sein, daß im Raume der modernen Romanliteratur ein solcher Roman sich mehr oder weniger anachronistisch ausnimmt, als ein Produkt noch aus dem Geiste des neunzehnten, des historischen Jahrhunderts, das den historischen Roman im Zusammenhang mit der historischen Forschung erst begründet hat. Daß, wie unmittelbar gespürt wird, nichts weniger als ein solches Anachronistisches dem Joseph-Werk anhaftet, beruht nun gewissermaßen paradoxerweise gerade darauf, daß es aufs engste mit der historischen, ja religionswissenschaftlichen Forschung verknüpft ist und sich eben durch diese Tatsache von einem traditionellen historischen Roman unterscheidet. Setzen wir voraus, was in der Einleitung über die Besonderheit eines bibelhistorischen Stoffes gesagt ist, so kann die Besonderheit des Joseph-Romans nur durch einen vergleichenden Blick auf solche Romane hervortreten, die sich für ihre Sujets auf denselben Stand der religionswissenschaftlichen und archäologischen Forschung stützen konnten, wie etwa Franz Werfels Jeremias-Roman »Höret die Stimme« (1937), Schalom Aschs »Nazarener« (1939) und »Moses« (1951). Aber ein vergleichender Blick in diese Werke und das Thomas Manns zeigt sogleich, in welcher Weise sich ein traditioneller Geschichtsroman von dem des Joseph-Dichters unterscheidet. Abgesehen von einer kurzen Vor- oder Rahmenerzählung, in der sowohl in Werfels Jeremias-Roman wie in Aschs Jesus-Roman ein etwas phantastischer Salto mortale der Verwandlung moderner Gegenwart in die zu erzählende biblische Welt vorgenommen wird, wird diese selbst dann in derselben Weise »vergegenwärtigt«, d.h. im Jetzt und Hier ihrer fiktiven Gegenwart geschildert oder erstellt, wie es bei jedem anderen sowohl historischen wie auch nichthistorischen Roman der Fall ist. Wenn aber Thomas Mann in der Zeit der Entstehung der Joseph-Romane, 1939, einmal sagte, der Roman repräsentiere im Unterschied zum alten Epos die Stufe der »Kritik« nach derjenigen der »Poesie« (Kunst d. Romans. X, 360), so hatte er den Roman als »kritische« Dichtungsform weit über diese allgemeine Wesensbestimmung hinaus in den damals vollendeten ersten drei Joseph-Romanen – Die Geschichten Jaakobs, Der junge Joseph, Joseph in Ägypten – gesteigert, sein »kritisches«, im Stellungnehmen des Erzählers an sich gelegenes Vermögen an einem Gegenstande ausgenützt und ausgeprobt, der ihm dazu Gelegenheit bot wie kein anderer. »Der Erzähler«, so heißt es denn auch nicht zufällig gerade im Joseph-Roman, »ist zwar in der Geschichte, aber ist nicht die Geschichte, er ist ihr Raum, aber sie ist nicht der seine, sondern er ist auch außer ihr, und durch eine Wendung seines Wesens setzt er sich in die Lage, sie zu erörtern«. (IV, 821)

Im Unterschied zu dem traditionellen geschichtlichen und bibelgeschichtlichen Roman macht er sozusagen »wissenschaftlichen Ernst« mit der Beschaffenheit seiner Quelle als eines auszulegenden, zu kommentierenden Textes, und eines Textes dazu, der zum vertrautesten Besitz der Menschheit gehört. Kritische Erzählkunst im eigentlichen Sinne des Wortes ist hier am Werke, die im selben Atemzug das uralt Bekannte als bekannt voraussetzt und diskutiert wie es aber auch zu fiktiver Gegenwart, zur »Lebensgestalt« erweckt, da der Dichter, im schönen Bilde solcher Vergegenwärtigung, mit dem Leser hinabfährt in den »Brunnen der Vergangenheit«. Und es möge zunächst wenigstens andeutungsweise ein Begriff davon gegeben werden, was auf der »Brunnenwiese des Märchens« den Leser erwartet, wie nämlich die urvertrauten Geschichten »sich in Wirklichkeit zugetragen haben«: denn dies hatte, berichtet Thomas Mann, zu seiner Heiterkeit die Münchener Abschreiberin des Manuskripts, eine einfache Frau, gefunden und keineswegs unrecht damit gehabt. (XI, 655) Ja, sie begegnen uns in nie geahnter »Wirklichkeit«, die vertrautesten Gestalten der Menschengeschichte. Hier lebt Jaakob wieder – oder »lebt« er nicht vielleicht zum ersten Male? –, der Patriarch, schwer vom Reichtum seiner Herden und schwer von Gottesgedanken, ein »Herdenkönig« und »Gottesfürst«, der Urdenker der Menschheit, »wie er im Buche steht«, großartig und rührend, bedeutend und ausdrucksvoll, so pathetisch ausdrucksvoll, daß es dem Dichter hier und da ein leises Lächeln abnötigt, wie man es wohl den kleinen Schwächen und Absonderlichkeiten geliebter Personen widmen mag. »Jaakobs Geschichten« erstehen uns wieder. Was in den überlieferten Texten der Genesis, des Buches der Jubiläen, der Midrasch- und Sagenliteratur sozusagen akzentlos nebeneinandersteht: das Erhabene und das Komische, das Groteske und das Innige, Betrug und Glaube, List und Frömmigkeit – das ist nun in der Wirkung seiner Gegensätze herausprofiliert und zum gewaltigen Lebensgemälde vereinigt. In die ehrwürdige, aber »gleichgültige« Überlieferung trägt der Dichter die Gefühlsakzente wirklichen Menschenlebens, lacht auch herzlich, wo es etwas zu lachen gibt, freut sich, wenn feine List über das Tölpische den Sieg davon trägt, Jaakob, der Schafzüchter, über Laban, den »Erdenkloß«, und fühlt aufs zarteste mit den Fühlenden. Die Erzählung funkelt vor Vergnügen, als es gilt, vom »großen Jokus« zu berichten, von Esaus, des Tölpels, brüllender Verzweiflung, als er um den Segen betrogen wird. Und keine Ehrfurcht vor des Patriarchen ehrwürdiger Person hindert den Erzähler, auch von weniger würdigen Ereignissen seines Lebens zu berichten, jener grotesken Situation etwa, als Jaakob, der Feine und Geistige, winselnd vor dem starken Knaben Eliphas, Esaus Sohn, im Staube liegt und um sein Leben bettelt – unmittelbar darauf aber die »Haupterhebung«, das Traumgesicht der Erscheinung des Herrn und der Segensverkündung, wie es in Genesis 28,13 zu lesen ist. – Aber wie vergißt man die mythische Ferne der Menschen, wenn nun um Rahel, die Liebliche, Jaakobs Geschichten kreisen und sie sich zuerst begegnen bei den Hirten am Brunnen, der Vetter aus der Fremde und das Labanskind mit Augen, »in deren Blick die Natur allen Liebreiz gelegt hatte, den sie einem Menschenkind nur verleihen mochte – eine tiefe, fließende, redende, schmelzende, freundliche Nacht, voller Ernst und Spott« (IV, 228) –, Augen, die Jaakob wieder liebte in Joseph und die dereinst beim Wiedersehen im Lande Gosen alles Getrennt- und Entfremdetsein auslöschen sollten zwischen dem Vater und dem ägyptischen Sohn. Wenn es nun gilt, die Geschichte von Joseph und seinen Brüdern zu erzählen, »wie sie sich wirklich zugetragen«, wird es menschlich ganz begreiflich, was schon im knappen Bibeltext nicht unverständlich ist: wie Geschwisterhaß sich bilden kann, wenn einer von ihnen, bevorzugt nicht nur durch Schönheit und Klugheit, sondern auch durch die ausschließlich ihn vorziehende Liebe des Vaters, seine bevorzugte Stellung auch noch ausnützt und hochmütige Träume erzählt, ein verwöhnter Junge, der unausstehlich hätte sein müssen, wenn er nicht eben mehr gewesen wäre, umweht von jenem Fluidum eines Menschenkindes, mit dem das Schicksal es in großem Stile vorhat. Aber auch jeden der zehn Brüder, so sehr sie als eine charakterliche Einheit gegen den einen stehen, macht uns der Dichter in seiner Besonderheit lebendig: den starken und leidenschaftlichen Ruben, in dessen Körperturm doch eine sensible Seele lebt, die nicht ohne Ahnung von Josephs Außerordentlichkeit ist; Juda, triebgeplagt und leidend, den geraden Gad, den geläufigen Naphtali, Simeon und Levi, die Inkarnation roher Kraft in ihrem Gegensatz zum Geistesgesegneten – sie alle, deren Namen die Menschheit »am Schnürchen hat«, erfüllen diese Namen nun mit ihrer so und nicht anders beschaffenen Individualität. Aber es sind nicht nur die sozusagen »geschichtlichen« Gestalten des Abrahamsstammes zur Lebensgestalt erweckt, sondern auch jene anderen der ägyptischen Zeit des Joseph, die im Bibeltext wie märchenhaft unbestimmte Staffagepersonen in seiner Geschichte erscheinen: Potiphar und »Potiphars Weib«, Pharao, Mundschenk und Bäcker, und nicht zum wenigsten der »Amtmann über das Gefängnis«. Es bedarf nicht der Versicherung, mit welcher Souveränität der Dichterhistoriker dieses Werks das reiche historische und archäologische Material der Ägyptologie benutzt hat, um die durch jene Personen karg markierte und historisch unbestimmte ägyptische Welt erstehen zu lassen. Zu den größten darstellerischen Reizen gehört hier der Stilunterschied zwischen der pastoralen Naturwelt der Patriarchen und der Kulturwelt Ägyptens. Von den Weiden, den Brunnen, den Betaltären und Opfersteinen der Kinder Israel kommen wir mit Joseph in die bevölkerten Städte des fruchtbaren Niltales, On und Bastet, Menfe und Wese, mit ihrem Marktgewimmel, Armenquartieren und prächtigen Villen der Reichen, mit Pyramiden, Tempeln, Königspalästen und den Gräberkammern im Wüstengebirge. Eben noch die archaisch monumentalen Gestalten der Patriarchenwelt vor Augen, finden wir uns versetzt in eine Sphäre hochkultivierter Großstadtmenschen, eleganter Höflinge, geschminkter Damen, in kostbar ausgestattete Wohnräume und kunstvoll...

Erscheint lt. Verlag 15.12.2015
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Schulbuch / Wörterbuch Lexikon / Chroniken
Technik
Schlagworte Abraham • Ägypten • Bibelroman • Bibeltext • Binsenkorbchen • Exodus • Israel • Jaakob • Jakob • Joseph • Joseph-Roman • Midian • Moses • mythus • Pentateuch • Potiphar • Sachbuch • Sigmund Freud • Sinai • Tammuz • Thomas Mann • Tötung
ISBN-10 3-10-560728-5 / 3105607285
ISBN-13 978-3-10-560728-2 / 9783105607282
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