Autobiographie einer deutschen Rebellin (eBook)

(Autor)

Gisela Brinker-Gabler (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
334 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-560710-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Autobiographie einer deutschen Rebellin -  Toni Sender
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Diese sehr lesbar und flüssig geschriebene Autobiographie von Toni Sender, die sich nie in Nebensächlichkeiten verliert, ist ein ebenso spannender wie informativer Bericht über das turbulente politische Leben in der Weimarer Republik aus der Sicht einer engagierten Frau, die sich auf einem Gebiet profilierte, das auch heute noch nicht als selbstverständliche »Frauensache« gilt. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Ihre Lebensgeschichte weist Toni Sender (1888-1964) als eine ungewöhnlich mutige und energische Persönlichkeit aus. Schon mit sechzehn befreite sie sich aus der Abhängigkeit ihres wohlhabenden Elternhauses und engagierte sich bald in der Arbeiterbewegung, seit 1910 in Paris. Nach dem Kriegsausbruch kehrte sie nach Deutschland zurück, agitierte gegen die Kriegspolitik, nahm 1915 an dem internationalen Antikriegskongreß der sozialistischen Frauen in Bern teil, trat 1917 der USPD bei, wurde 1919 Mitglied des Frankfurter Stadtrates und zog schließlich 1920 als Abgeordnete in den deutschen Reichstag ein, in dem sie eine der aktivsten Frauen des sozialdemokratischen Flügels war und dem sie bis 1933 ununterbrochen angehörte. Obwohl sie bereits sehr früh »auf der Liste« der Nazis stand, nutzte sie unerschrocken weiter jede Gelegenheit, vor den »neuen Barbaren« zu warnen, bis sie im Frühjahr 1933 fliehen mußte und über die Tschechoslowakei und Belgien nach Amerika gelangte. Auch im Exil war sie weiter politisch aktiv - im Kampf gegen den Faschismus und Krieg, in der Gewerkschaftsbewegung und ab 1949 als Vertreterin des Internationalen Bundes Freier Gewerkschaften bei den Vereinten Nationen.

Ihre Lebensgeschichte weist Toni Sender (1888–1964) als eine ungewöhnlich mutige und energische Persönlichkeit aus. Schon mit sechzehn befreite sie sich aus der Abhängigkeit ihres wohlhabenden Elternhauses und engagierte sich bald in der Arbeiterbewegung, seit 1910 in Paris. Nach dem Kriegsausbruch kehrte sie nach Deutschland zurück, agitierte gegen die Kriegspolitik, nahm 1915 an dem internationalen Antikriegskongreß der sozialistischen Frauen in Bern teil, trat 1917 der USPD bei, wurde 1919 Mitglied des Frankfurter Stadtrates und zog schließlich 1920 als Abgeordnete in den deutschen Reichstag ein, in dem sie eine der aktivsten Frauen des sozialdemokratischen Flügels war und dem sie bis 1933 ununterbrochen angehörte. Obwohl sie bereits sehr früh »auf der Liste« der Nazis stand, nutzte sie unerschrocken weiter jede Gelegenheit, vor den »neuen Barbaren« zu warnen, bis sie im Frühjahr 1933 fliehen mußte und über die Tschechoslowakei und Belgien nach Amerika gelangte. Auch im Exil war sie weiter politisch aktiv – im Kampf gegen den Faschismus und Krieg, in der Gewerkschaftsbewegung und ab 1949 als Vertreterin des Internationalen Bundes Freier Gewerkschaften bei den Vereinten Nationen. Gisela Brinker-Gabler, Professorin für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Binghamton University im US-Bundesstaat New York, studierte Germanistik, Philosophie und Pädagogik in Köln und promovierte 1973.

I. Kindheit im Kaiserreich


Ich muß als Kind zu Hause sehr verschlossen gewesen sein. Als ich vor einigen Jahren mit meiner Schwester Recha Kindheitserinnerungen austauschte, sagte sie plötzlich: »Weißt du, an dich habe ich aus der damaligen Zeit nicht viele Erinnerungen, weil du fast nie geredet hast.«

Die Individualität eines Menschen entwickelt sich in frühester Jugend, aber sie wird nicht immer als Segen empfunden. Sie kann verwirrend und beunruhigend sein. Man weiß nicht, wo man hingehört. Eine unbewußte Kraft scheint einen von den Menschen wegzutreiben, die man liebt. Andererseits weiß man nicht, wo man sich hinwenden soll. Aber besser allein in die Irre gehen, als immer geführt, beschützt und herumkommandiert zu werden.

Ich muß meine Eltern um Verzeihung bitten, daß ich ein so widerborstiges Ding war und mich so scheu aus der frohen Atmosphäre unserer Familie absonderte. Meine Eltern verlangten blinden Gehorsam, und wenn ich mich angepaßt hätte, wäre ich in diesem warmen und freundlichen Haushalt in Biebrich geborgen gewesen. Vater war ein sehr fröhlicher, humorvoller Mensch, ein echter Rheinländer, der das Leben liebte. In seiner Kindheit und Jugend hatte er Jahre in Frankreich verbracht, denn sein Vater hatte es sich sehr angelegen sein lassen, ihm eine umfassende Bildung zu vermitteln. Er liebte die Pariser Atmosphäre und träumte davon, nach Beendigung des beruflichen Lebenskampfes in die geliebte Stadt zurückzukehren. Doch dies blieb leider immer ein Traum. Der Krieg und die Inflation verhinderten seine Verwirklichung.

Trotz seines Werdegangs hatte mein Vater eine sehr autoritäre Haltung gegenüber seinen Kindern. Seine Erziehungsmethoden waren sehr streng. Wir mußten seine Autorität hinnehmen, ohne Fragen zu stellen. Widerspruch war nicht erlaubt. Außerdem war er ein zutiefst orthodoxer Jude und jahrelang Vorsteher der jüdischen Gemeinde und erwartete von uns, daß wir in seine Fußstapfen treten würden. Während meiner Kindheit sprach ich kaum je mit meinem Vater, außer an jenen seltenen Feiertagen, wenn er mit uns einen Ausflug in den Taunus oder in die Wälder am Rhein machte oder mit uns eine der alten Burgen besichtigte. Dann war er ein guter Kamerad, der sein Land gut kannte und es genoß, bei Sonnenschein durch schöne Landschaften zu wandern. Bei solchen Anlässen wagte ich es, ihn nach den Namen von Blumen, Bäumen, Bergen und Flüssen zu fragen. Als ausgezeichneter Bergsteiger war er stets an der Spitze unserer kleinen Karawane. Nach stundenlangen Märschen führte er uns zu irgendeinem malerischen Gasthof, wo wir unseren Proviant auspackten. Mutter gab uns immer reichlich zu essen mit, und wir durften uns dazu unsere jeweiligen Lieblingsgetränke bestellen. Vater stimmte sogar mit ein, wenn wir Volksweisen oder Wanderlieder sangen. Für uns alle waren dies heitere Stunden – bis die tristen Tage der Unterdrückung und des Gehorsams wieder begannen …

Mutter kam nie mit, sondern zog es vor, allein zu Hause zu bleiben und die Ruhe zu genießen. Sie war in der Schweiz als Tochter einer wohlhabenden, aus Frankreich stammenden Familie zur Welt gekommen, und sie war pessimistischer veranlagt als mein Vater. Sie hatte in sehr jungen Jahren ihre Mutter verloren, ihr Vater hatte wieder geheiratet, und sie hatte es dann ziemlich schwer gehabt, was sich auf ihr Wesen ausgewirkt haben mag. Sie war sehr intelligent und energisch, eine strenge Mutter, die absoluten Gehorsam verlangte – eine Forderung, die große Schwierigkeiten und viele Mißverständnisse zwischen uns zur Folge hatte. Ich war gerne bereit, mich überzeugen zu lassen, konnte es aber nie ertragen, daß man mir Befehle erteilte. Trotz dieser ständigen inneren Auflehnung zweifelte ich nie daran, daß meine Mutter nur unser Bestes wollte, und ich hatte volles Vertrauen sowohl zu ihrer Güte als auch zu ihrer Tüchtigkeit. Selbst in schwierigeren Zeiten, als unsere Diskussionen erbitterter wurden, zweifelte ich weder an ihren noch an Vaters guten Absichten. Es gab nicht eine Woche in meinem Leben, in der ich ihnen nicht schrieb. Dennoch kam es vor, daß ich später, als ich in Frankfurt lebte und sie übers Wochenende besuchte, mich manchmal frühmorgens heimlich aus der Stadt stahl, ohne mich von irgend jemandem zu verabschieden. Das geschah, wenn wir am Vorabend eine heftige Auseinandersetzung hatten, bei der sich meine Eltern all meinen Bitten verschlossen. Doch sobald ich in Frankfurt ankam, schrieb ich ihnen einen freundlichen Brief; die Zwietracht hatte mich mehr geschmerzt als sie.

Es gab einen Platz, den ich in den Jahren meiner Kindheit heiß liebte – den uralten, großen Maulbeerbaum in unserem Hof bei dem noch älteren Gartenhäuschen. Wenn ich nur auf den Baum klettern und mich so unsichtbar machen konnte, um ungestört zu träumen, dann war ich völlig glücklich. Eines Tages geschah etwas Merkwürdiges. Meine Mutter, unser unternehmungslustiger Geist, hatte beschlossen, auf dem sehr großen Grundstück hinter unserem Haus ein kleines Mietshaus zu errichten. Das bedeutete, daß der alte Maulbeerbaum, der im Wege war, gefällt werden mußte. Ein orthodoxer Jude darf jedoch keinen lebenden Baum fällen – wer die baumlosen Hügel von Palästina gesehen hat, kann dieses Verbot verstehen. Was sollten wir tun? Mein Vater zerbrach sich den Kopf. Aber eines Nachts tobte ein schwerer Sturm. Am Morgen, als mein Vater in den Hof ging, rief er uns. Wir standen alle stumm da und staunten über den Anblick, der sich uns bot. Der alte Baum lag auf der Erde. Der Sturm hatte ihn entwurzelt.

Natürlich erwartete man von uns Kindern, daß wir uns wie die Sprößlinge anderer wohlanständiger Mittelstandsfamilien betrugen. Welche Qual diese Samstags- oder Sonntagsspaziergänge durch den alten Park mit seinen riesigen Kastanienbäumen und dem See, auf dem eine Prozession sehr hochmütig aussehender Schwäne schwamm, die ebenso klassenbewußt schienen wie manche Leute, die sie bewunderten! Wir waren alle sehr sorgfältig gekleidet, und man erwartete von uns, daß wir ebenso makellos zurückkehrten, wie wir weggegangen waren. Was für eine Fessel für ein lebhaftes Kind! Wieviel lieber hätte ich mit den Gassenjungen auf der Rheinpromenade oder am Flußufer gespielt.

Erst viele Jahre später, als ich bereits auf eigenen Füßen stand, hatte ich ein Auge für die Schönheit der hügeligen Rheinufer und den Zauber jenes alten Parks des früheren Herzogs von Nassau. Man kann in einem Paradies leben und doch keine Freude daran haben, wenn die Atmosphäre bedrückend ist.

Das Beste, was mir am Wochenende passieren konnte, war, daß mir mein Vater befahl, zu Hause zu bleiben, mein Sonntagskleid auszuziehen und den Tag allein im Hause zu verbringen. Was für eine wunderbare Strafe! Allein bleiben zu dürfen war alles, worum ich gebeten haben würde, wenn ich es nur gewagt hätte!

Meine Eltern waren der Ansicht, daß ich nicht mit den richtigen Kindern spielte und befreundet war. Die Kinder der reicheren Familien waren so steif, wie man das von mir erwartete, und interessierten mich daher nicht. Die Mädchen, mit denen ich herumtollen konnte, entstammten weniger begüterten Familien und waren in der Regel auch schlechtere Schülerinnen. Aber ich hatte eine tiefe Abneigung gegen die biederen Vergnügungen der anderen Mädchen. Wenn die Freundinnen meiner Schwestern kamen, versuchte ich mich immer von ihren Spielen auszuschließen. Um wieviel besser war es, sich ungesehen auf einen der Dachböden zu schleichen. Dort standen große Kartons mit Büchern, darunter auch Klassiker und sämtliche Ausgaben der Gartenlaube, ein Familienmagazin mit Erzählungen und Fortsetzungsromanen, das faszinierend gewesen sein muß, denn ich vergaß oft, in die unteren Geschosse zurückzukehren, bis mich die Dämmerung daran erinnerte, daß es Zeit war aufzuhören. Auf dem Dachboden gefiel es mir auch aus anderen Gründen. Ich probierte dort die abgelegten Kleider meiner Mutter an und stöberte unter den alten Möbeln der Familie und vielem anderen alten Krimskrams herum, den man zu Maskeradezwecken hätte verwenden können, aber dazu kam nie die Gelegenheit. Wenn ich ein Geräusch hörte, versteckte ich mich in einer großen Kiste und rührte mich nicht. Oft hörte ich sie mich rufen, aber ich verriet meinen Schlupfwinkel nie.

In den Sommerferien schickten mich meine Eltern einmal mit meiner älteren Schwester und meinem Bruder in den Schwarzwald, wo wir bei Verwandten auf deren Bauernhof wohnten. Zum ersten Mal genoß ich Freiheit. Obwohl ich erst neun Jahre alt war, schrieb ich meinen Eltern, daß ich dableiben und in der benachbarten Stadt zur Schule gehen wolle. Natürlich erlaubten sie mir das nicht. Als ich wieder nach Hause kam, fragte mich meine Mutter: »Liebst du uns so wenig, daß du uns verlassen willst?« Ich konnte ihr die Gründe nicht erklären, die mich zu meiner Bitte veranlaßt hatten.

Die Atmosphäre in der Schule entsprach derjenigen zu Hause. Es herrschte sehr strenge Disziplin. Da war keine Zeit für neugierige Fragen. Gehorsam, Gehorsam – immer Gehorsam! Ich fügte mich. Wenige Lehrer hatten wahrscheinlich eine Vorstellung von der Heftigkeit der inneren Rebellion, die ich niederhielt. Meine Eltern erwarteten von mir, daß ich Klassenbeste blieb, auch nachdem ich eine Klasse übersprungen hatte. Dies trug zu meinem Mißbehagen bei. Obwohl ich ihren Ehrgeiz nicht teilte, wagte ich es nicht, sie zu enttäuschen.

Sehr oft langweilte ich mich in der Schule fürchterlich. Es war mir ein Rätsel, warum ich die Schule nicht mochte, denn ich wußte, daß ich einen ungeheuren Lerneifer hatte und alles über das Leben und die Natur erfahren wollte. Nur eines beeindruckte mich in meinen frühen Schuljahren und sollte mein ganzes weiteres Leben...

Erscheint lt. Verlag 15.12.2015
Übersetzer Brigitte Stein
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Schulbuch / Wörterbuch Lexikon / Chroniken
Technik
Schlagworte Arbeiterrat • Autobiographie • Clara Zetkin • Deutschland • Hugo Haase • Jean Jaurès • KPD • NSDAP • Reichsbanner • Reichstag • Robert Dißmann • Sachbuch • SPD • Toni Sender • UNRAA • USPD • Weimarer Republik
ISBN-10 3-10-560710-2 / 3105607102
ISBN-13 978-3-10-560710-7 / 9783105607107
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