Sozialgeschichte des Jazz in den USA (eBook)

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2015 | 1. Auflage
420 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-560945-3 (ISBN)

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Sozialgeschichte des Jazz in den USA -  Ekkehard Jost
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Die Geschichte des Jazz, mal anders. Nicht wie üblich Stilformen und Interpreten aneinander gereiht, sondern eine Geschichte der Brutstätten: New Orleans, Chicago, New York, Westcoast etc. Ekkehard Jost thematisiert die großen Zusammenhänge zwischen den diversen Spielarten des Jazz, zeigt, wie die große Depression der 30er Jahre, die politischen Unruhen der 60er Jahre und die Interessen der Schallplattenindustrie den Jazz verändert haben, wie aber auch der Jazz das Lebensgefühl ganzer Generationen beeinflusst hat. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Ekkehard Jost (geb. 1938) ist gleichermaßen Jazzhistoriker und -soziologe wie -praktiker. Als langjähriger Professor für Musikwissenschaft an der Gießener Universität hat er mit seinen Publikationen in der internationalen Jazzforschung Wegmarken gesetzt. Und zugleich ist er als Baritonsaxophonist - unter anderem in den Formationen Grumpff, Amman Boutz und Chromatic Alarm - aus der deutschen Jazzszene nicht wegzudenken.

Ekkehard Jost (geb. 1938) ist gleichermaßen Jazzhistoriker und -soziologe wie -praktiker. Als langjähriger Professor für Musikwissenschaft an der Gießener Universität hat er mit seinen Publikationen in der internationalen Jazzforschung Wegmarken gesetzt. Und zugleich ist er als Baritonsaxophonist – unter anderem in den Formationen Grumpff, Amman Boutz und Chromatic Alarm – aus der deutschen Jazzszene nicht wegzudenken.

Einleitung


Was eine Sozialgeschichte des Jazz zu leisten vermag, hängt nicht nur davon ab, wie tief sie gräbt und welche Fülle von Fakten sie dabei zutage fördert, sondern vielmehr davon, worauf sie ihre Fragestellungen richtet und welchen Geltungsanspruch sie an sich selbst stellt.

Begnügt sie sich damit, die historische Entwicklung der Jazzszene (auf den Begriff ist zurückzukommen) in einer Art Ereignisgeschichte des Außermusikalischen nachzuweisen, so gibt sie nicht nur ihren Anspruch, eine Sozialgeschichte des Jazz zu sein, preis, sondern wird zugleich als Sozialgeschichte fragwürdig.

Geschichtsschreibung besteht, wenn sie als solche ernst genommen werden will, niemals nur in der chronologischen Aneinanderreihung von einzelnen Fakten, sondern in deren sinnvoller Verknüpfung. Erst in den Zusammenhängen zwischen den Einzelphänomenen wird Geschichte sichtbar.

Verstehen wir unter Jazzszene die historisch veränderliche Gesamtheit der Organisationsformen jazzmusikalischer Produktion, Distribution und Rezeption einschließlich der an den verschiedenen Stufen des Prozesses beteiligten sozialen Gruppen, so besteht eine der grundlegenden Aufgaben sozialgeschichtlicher Jazzforschung in der Analyse dieses Beziehungsgefüges in seiner historischen Dynamik. Eine solche Analyse ist notwendiger Bestandteil, wenn nicht gar Voraussetzung für eine Sozialgeschichte des Jazz, jedoch nicht mit dieser zu verwechseln. Denn die letztere ist, auch bei einer deutlichen Akzentuierung des Sozialen, keineswegs im gleichen Maße von der Musik selbst emanzipierbar wie die erstere.

Die Sozialgeschichte des Jazz verlangt damit, beim Worte genommen, nach einer Verknüpfung von drei Dimensionen: der historischen, der sozialen und der musikalischen oder ästhetischen. Das klingt, auch ohne daß zunächst geklärt ist, wie diese Dimensionen aufeinander bezogen werden können, sehr anspruchsvoll. Impliziert es doch eine Integration oder zumindest Kooperation von Teildisziplinen, die im allgemeinen eher beziehungslos nebeneinander stehen: Jazzgeschichtsschreibung, Jazzsoziologie und jazzmusikalische Analyse.

Damit ist freilich noch nicht das ganze Terrain abgesteckt und jede relevante Relation unter Kontrolle. Denn natürlich enthält auch dieses relativ aufwendige Begriffsgebilde Sozialgeschichte des Jazz immer noch einen Grad an Abstraktion, der schwer zu ertragen ist. Denn nicht nur ist eine soziale Konfiguration wie die Jazzszene, losgelöst von den allgemeinen gesellschaftlichen Verhältnissen, deren Teil sie ist, kaum angemessen zu analysieren; auch die musikalischen Konfigurationen hängen, soweit sie durch Außermusikalisches überhaupt erklärbar sind, keineswegs nur mit der inneren Dynamik der Jazzszene zusammen, sondern ebenso mit den gesamtgesellschaftlichen Bewegungen. Woraus folgt, daß eine Sozialgeschichte des Jazz immer auch aus der Perspektive und im Zusammenhang mit der Geschichte – in diesem Fall der amerikanischen Geschichte – gesehen werden muß.

Da es nicht Sinn dieser Vorbemerkungen sein kann, eine ausführlich ausgearbeitete Methodologie einer Sozialgeschichte des Jazz zu entwerfen, möchte ich nur versuchen, in der gebotenen Kürze einige grundsätzliche Probleme meiner Arbeit zu erörtern und insbesondere einige Begriffe zu klären.

Geht man davon aus, daß das hinter historiographischer Arbeit stehende Erkenntnisinteresse im wesentlichen nicht auf die Sachen selbst gerichtet ist (das heißt für uns: den Jazz, die Musiker, die Schallplattenindustrie, die amerikanische Gesellschaft usw.), sondern vielmehr auf die Relationen zwischen ihnen, und zwar in ihrer historischen Dynamik, so ist es zunächst einmal wichtig, sich über die Art des Beziehungsgefüges Klarheit zu verschaffen, das wir vor uns haben.

In seinem Vorwort Zur Kritik der politischen Ökonomie schreibt Marx:

»In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt. Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten … In der Betrachtung solcher Umwälzungen muß man stets unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstantierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewußt werden und ihn anfechten.«[1]

Die Anschaulichkeit und scheinbare Einfachheit des Basis-Überbau-Modells, das für die musiksoziologische Reflexion – wie auch immer – von großer Bedeutung war und ist, verhinderte nicht, sondern provozierte eher, daß dieses Modell häufig zur Begründung eines abstrakten Kausalitätsprinzips herangezogen wurde, nach welchem die Ursache jeder künstlerischen Äußerung in einer letzten ökonomischen Instanz zu finden sei.

Jedoch die Beziehungen zwischen Wirtschaft und Gesellschaft, Produktionsweisen und Bewußtseinsformen sind äußerst komplex, und man darf sich nicht darüber hinwegtäuschen, daß ein so anschauliches Begriffspaar wie Basis-Überbau nur ein vereinfachendes Bild für die in der Komplexität historischer Prozesse wirkende Dialektik ist.

Als Produkt menschlichen Bewußtseins gehört der Jazz dem (ideologischen) Überbau an, der freilich – wie Georg Lukács deutlich machte – nicht nur passiv auf die ökonomischen Zwänge reagiert, sondern selbst wiederum an der »Erzeugung« gesellschaftlicher Wirklichkeit beteiligt ist.[2] Marx spricht davon, daß die Musik im Menschen den Sinn für Musik schaffe. Das bedeutet: Die Musik ist nicht nur – und wie zu zeigen sein wird, niemals gänzlich – Funktion von etwas, sondern erfüllt zugleich selbst auch immer Funktionen.

Akzeptiert man als Grundaussage, daß in der Beziehung von Unterbau und Überbau, Gesellschaft und Kunst kein starres Kausalitätsprinzip am Werke ist, sondern daß ein kompliziertes Geflecht von Wechselwirkungen besteht, so gilt es, die Perspektiven zu finden, von denen aus dieses Geflecht zu betrachten ist. Versuchen wir analytisch auseinanderzuhalten, was in der Realität ineinandergreift, so gelangen wir zu drei Aspekten, die uns als Leitlinien unseres Erkenntnisinteresses nützlich zu sein versprechen:

  1. Die Frage nach den Konstitutionsbedingungen: Wie greifen gesellschaftliche Tendenzen in die jazzmusikalische Produktion ein?

  2. Die Frage nach dem Widerspiegelungsverhältnis: Was sagt eine bestimmte jazzmusikalische Erscheinungsform über die gesellschaftlichen Tendenzen der Zeit aus?

  3. Die Frage nach der gesellschaftlichen Funktion: Welchen Zweck und welche Aufgaben erfüllt Jazz in einer bestimmten gesellschaftlichen Konstellation?

Die Herausarbeitung dieser drei Aspekte soll nicht nahelegen, daß es sich dabei um alternative methodologische Ansätze handelt. Sie bezeichnen vielmehr eine dreiseitige Fragestellung, in der freilich ein Wechsel der Perspektive von Fall zu Fall durchaus legitim sein dürfte.

Die über eine im plattesten Sinne materialistische Basis-Überbau-Schematik hinausführende Erkenntnis, daß Kunst, Literatur und Musik als Produkte geistiger Arbeit mehr sind als nur passiver Reflex der an der Basis ablaufenden ökonomischen Bewegungen, daß sie vielmehr als Teilmomente im gesamtgesellschaftlichen Prozeß selbst aktiv sind, ist für unser Beziehungsgefüge »Sozialgeschichte des Jazz« von grundlegender Bedeutung. Aus ihr folgt eine zweite, nicht weniger wichtige. Lukács schreibt:

»Die geistige Tätigkeit des Menschen hat also auf jedem ihrer Gebiete eine bestimmte relative Selbständigkeit; dies bezieht sich vor allem auf die Kunst und die Literatur. Ein jedes solches Tätigkeitsgebiet, eine jede Sphäre entwickelt sich – durch das schaffende Subjekt hindurch – selbst, knüpft unmittelbar an die eigenen früheren Schöpfungen an, entwickelt sich weiter, wenn auch kritisch und polemisch. – Wir haben schon darauf hingewiesen, daß diese Selbständigkeit relativ ist, daß sie keineswegs das Leugnen der Priorität des wirtschaftlichen Unterbaus bedeutet. Daraus folgt aber bei weitem nicht, daß jene subjektive Überzeugung, eine jede Sphäre des geistigen Lebens entwickle sich selbst weiter, eine bloße Illusion sei. Diese Selbständigkeit ist im Wesen der Entwicklung, in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung objektiv fundiert.«[3]

Der »relativen Selbständigkeit« oder auch »relativen Eigengesetzlichkeit«[4] künstlerischer Produktion, die sich in einer – wie Dahlhaus es nannte – »internen Problemgeschichte« (beispielsweise des Komponierens) manifestiert[5], kommt in den verschiedenen...

Erscheint lt. Verlag 15.12.2015
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Schulbuch / Wörterbuch Lexikon / Chroniken
Technik
Schlagworte Afrika • Bebop • Braßband • Chicago • Chicagoans • Drogen • Jazzclub • Jazzkritik • Jazzszene • John Zorn • Kalifornien • Lennie Tristano • Miles Davis • NAACP • New Orleans • New York • Paul Whiteman • Rockjazz • Sachbuch • Schallplattenmarkt • Stanley Crouch • Swingära • USA • Wynton Marsalis
ISBN-10 3-10-560945-8 / 3105609458
ISBN-13 978-3-10-560945-3 / 9783105609453
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