Schizophrenie und Kunst (eBook)

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2015 | 1. Auflage
160 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-560886-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Schizophrenie und Kunst -  Leo Navratil
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Der Psychiater Leo Navratil untersucht die Zusammenhänge zwischen Schizophrenie und Kunst und greift dabei auf seine langjährigen Erfahrungen mit schizophrenen Patienten zurück. Der Autor bestreitet, daß sich das schizophrene Werk durch Abstrusität und Unverständlichkeit von den Arbeiten gesunder Künstler unterscheidet, denn nach seiner Ansicht ist »die psychische Dynamik des Schöpferischen bei Gesunden und Kranken gleich«. Der Gesunde ist häufig nur durch Ausbildung, Übung und Information im Vorteil. Die Werke der Schizophrenen entsprechen nach Navratils Einschätzung dem manieristischen Stil der Kunst bis in die Einzelheiten. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Leo Navratil (1921-2006) studierte in Wien Medizin, Psychologie und Anthropologie und trat 1946 als Sekundararzt in die Niederösterreichische Landes-Heil- und Pflegeanstalt Gugging (später Landesnervenklinik Maria Gugging) ein. Nach zusätzlicher Ausbildung und einem Studienaufenthalt in London wurde er 1959 Leiter einer psychiatrischen Abteilung in Gugging. Auf seine Anregung hin wurde dort 1981 das »Haus der Künstler« gegründet. Leo Navratil war 40 Jahre in Gugging tätig. Er hat zahlreiche Bücher zu Fragen des Zusammenhangs zwischen psychischen Störungen und kreativer Tätigkeit veröffentlicht.

Leo Navratil (1921–2006) studierte in Wien Medizin, Psychologie und Anthropologie und trat 1946 als Sekundararzt in die Niederösterreichische Landes-Heil- und Pflegeanstalt Gugging (später Landesnervenklinik Maria Gugging) ein. Nach zusätzlicher Ausbildung und einem Studienaufenthalt in London wurde er 1959 Leiter einer psychiatrischen Abteilung in Gugging. Auf seine Anregung hin wurde dort 1981 das »Haus der Künstler« gegründet. Leo Navratil war 40 Jahre in Gugging tätig. Er hat zahlreiche Bücher zu Fragen des Zusammenhangs zwischen psychischen Störungen und kreativer Tätigkeit veröffentlicht.

II. Der schizophrene Stil


1. Schizophrene Gestalter


Franz


Franz kam im Alter von neunzehn Jahren in unsere Behandlung. In der körperlichen Entwicklung glich er einem Dreizehnjährigen. Er war taub und gab nur unartikulierte Laute von sich. Ganz wenige Worte wie »Mama« und »schön« konnte er sprechen. Er war weder imstande, vom Mund abzulesen, noch war er mit den Buchstaben vertraut. Auf sprachlichem Wege konnte man sich daher mit ihm nicht verständigen. Es fehlten dem Kranken auch alle an Worte gebundenen Begriffe, sein Denken konnte nur mit Hilfe visueller Vorstellungen vor sich gehen, und sein Weltbild mußte im wörtlichen Sinn aus Bildern bestehen. Seine Zahlbegriffe sowie die Kenntnis der Ziffern erstreckten sich auf den Zahlenraum von eins bis fünf, aber auch einfachste Rechnungen konnte er nicht durchführen. Auf dem Gebiet der praktischen Intelligenz erzielte er bessere Leistungen. So brachte er es beim Mosaiklegen im Rahmen des Hamburg-Wechsler-Tests zu einem dem Durchschnitt entsprechenden Ergebnis. Auffallend war aber das Zeichentalent des Kranken.

In den ersten Jahren seines Anstaltsaufenthaltes zeigte Franz schwere Störungen des Verhaltens, wie man sie nach frühkindlichen Hirnschädigungen beobachtet. Er neigte zu Zornausbrüchen, war oft ausgesprochen liebebedürftig, freundlich und anschmiegsam, dann wieder reizbar, verstimmt und boshaft. Zwischen mein und dein konnte er nicht unterscheiden. Es fehlte ihm jede Stetigkeit und Ausdauer. Aus diesem Grunde war er nicht imstande, die einfachsten Arbeiten zu verrichten. Das Zeichnen war die einzig sinnvolle Beschäftigung, die er gelegentlich ausübte.

Es machte ihm Spaß, Abbildungen aus illustrierten Zeitungen abzuzeichnen. Er zeigte dabei große Geschicklichkeit, so daß ihm oft treffende Wiedergaben gelangen (Abb. 1). Nach der Natur oder aus der Phantasie zeichnete er nicht.

Abb. 1
Vor dem Ausbruch der Psychose

Im vierundzwanzigsten Lebensjahr des Kranken wurden die ersten Anzeichen einer Psychose bemerkt. Schlaflosigkeit stellte sich ein. Franz saß stundenlang am gleichen Platz, kümmerte sich nicht um die Vorgänge in seiner Umgebung, bewegte zeitweise die Lippen, als ob er sprechen würde, schien dann wieder in sich versunken zu sein oder sich mit einem imaginären Gegenüber durch Gesten und unartikulierte Laute zu unterhalten. Es fielen eigentümliche Hand- und Fingerbewegungen auf, die den Eindruck erweckten, der Kranke wolle etwas nicht Vorhandenes wegwischen oder ergreifen. Dabei lächelte er verschmitzt und setzte sich zur Wehr, wenn man ihn davon abzuhalten suchte.

Schließlich lag Franz einige Monate hindurch völlig autistisch im Bett und versteckte den Kopf unter der Decke. Er beachtete niemanden, der sich ihm näherte, und lehnte zeitweise die Nahrungsaufnahme ab. Das einfachste Mosaik konnte er nicht mehr zusammensetzen, sondern hantierte mit den Würfeln in ganz sinnwidriger Art. Dabei war lebhaftes Grimassieren zu beobachten. Erhielt er Bleistift und Papier, brachte er nur mehr Kritzelbewegungen, und zwar ein primitives Hiebkritzeln zustande (Abb. 2).

Abb. 2
Auf dem Höhepunkt der Psychose (unbehandelt)

Abb. 3
Nach Beginn der Behandlung

Nach Einleitung einer Elektrokrampftherapie besserte sich der Zustand des Kranken. Franz nahm wieder ein wenig Anteil an seiner Umgebung, obwohl er weiter von Halluzinationen geplagt wurde. Er zeichnete auch wieder, und zwar rasch und mühelos, sobald man Bleistift und Papier vor ihn legte. Dabei schien er ausschließlich vom Rhythmus seiner Hand und von den Vorstellungen, die ihm während dieser Tätigkeit in den Sinn kamen, gelenkt zu werden. Eine richtige Lust am Zeichnen war oft nur kurze Zeit vorhanden. Man konnte dem Patienten aber, sooft man wollte, ein neues Zeichenblatt hinschieben, er zögerte niemals, etwas darauf zu entwerfen. Ermüdung und Einfallslosigkeit ließen sich bei solchen Versuchen daran erkennen, daß die Produktionen einfacher wurden und einen stereotypen Charakter annahmen. Franz legte keinen Wert darauf, seine Zeichnungen zu behalten. Sie standen vielmehr im Dienste seines Mitteilungsbedürfnisses, war es ihm doch versagt, seine Gefühle und Vorstellungen auf andere Weise zu äußern.

Eine der ersten Zeichnungen, die Franz jetzt herstellte (Abb. 3), zeigt einen männlichen Kopf von eigentümlich archaischem Gepräge. Dieser Eindruck der Starrheit beruht auf einer stark hervortretenden Geometrisierung. Dynamisch wirken dagegen mehrere parallele Linien, zwischen denen die Windungen einer Schlange liegen.

Franz hatte vor dem Ausbruch seiner Psychose ausschließlich kopiert und stets nur vertraute Gegenstände seiner Umwelt zeichnerisch wiedergegeben. Was mochte er sich »gedacht« haben bei der Herstellung dieser Skizze, die so rätselhaft symbolisch anmutet?

Von nordwestamerikanischen Indianern wird durch eine auf einem vogelähnlichen Schiffe sitzende menschliche Gestalt, aus deren Mund eine Schlange hervorkommt, die aus dem Körper fliehende Seele dargestellt.[112] Dasselbe (oder die Wiederbelebung des entseelten Körpers) wollte vielleicht Franz zum Ausdruck bringen. Freilich legen wir eine solche Deutung in das von ihm geschaffene Bild hinein. Dem Kranken selbst waren ja das Wort und der Begriff »Seele« unbekannt. In seinem Geist konnte nichts anderes als eine von lebhaften Gefühlen begleitete Zusammenballung von Bildern vor sich gegangen sein. Die Zeichnung ist kein Symbol für die Seele, sondern ein bildhaftes Vorstadium unseres Begriffes. Der völlige Sprachmangel des Kranken und seine innige Beziehung zu den Bildern mögen günstige Voraussetzungen für die Neuschöpfung solcher Symbolik in der Psychose gewesen sein.

Eines der nächsten Blätter (Abb. 4) ist bis an den Rand mit Figuren und Kritzeleien bedeckt. Man erkennt Gebäude in verzerrter Perspektive, Tiere, ein einzelnes Auge und spiralenartige Linienzüge. Es fehlt die durchgehende Vertikalorientierung des Zeichenblattes, das während des Zeichnens von dem Kranken gedreht wurde.

Im weiteren Verlaufe der Behandlung traten die psychotischen Symptome wieder stärker hervor. Die Bauwerke, die Franz jetzt zeichnete (Abb. 5), zeigen eine beschleunigte Perspektive und scheinen aus dem Raum zu stürzen. Die spiralenförmige Linie in der Bildmitte verstärkt den Eindruck des Durcheinandergewirbeltseins. Hinter einer labyrinthisch verschlungenen Linie erkennt man einen Totenschädel (Abb. 6). Es folgen groteske Gestalten (Abb. 7), vorbeischwebende Figuren mit Heiligenschein (Abb. 8), alle Zeichnungen in sehr schwungvoller Linienführung.

Abb. 4 und 5. Während des Behandlungsverlaufes

Abb. 6–8. Während des Behandlungsverlaufes

Wir versuchten mehrmals, den Kranken zu veranlassen, andere Bilder abzuzeichnen, wie er es früher gerne getan hatte. Er war dazu aber nicht imstande. Unverzüglich drängten sich ihm seine eigenen Vorstellungen auf, und er beachtete die Vorlage nicht mehr, sondern zeichnete, was ihm in den Sinn kam.

Abb. 9–11. Während der weiteren Behandlung

Abb. 12 und 13.
Sich ankündigender Rückfall

Immer häufiger traten unheimliche Gestalten auf: das alte Weib, Hexen, der Tod (Abb. 911). Dann kam Franz wieder mehr ins Kritzeln hinein (Abb. 12), und schließlich verzichtete er ganz darauf, etwas Gegenständliches darzustellen (Abb. 13).

Nach Beendigung der Krampfbehandlung (mit insgesamt 12 Konvulsionen) brachte der Kranke keine Zeichnung mit höherer Struktur mehr zustande. Ein Blatt, das durch einen waagerechten Strich in zwei Hälften geteilt ist (Abb. 14), zeigt in der oberen Hälfte das durch ein Dreieck symbolisierte Auge Gottes, in der unteren einen Sarg, eine Wolke und einzelne unzusammenhängende Striche.

Abb. 14 und 15. Während des psychotischen Rückfalls

In der Folge war der Kranke nur mehr fähig zu kritzeln. Es war ein schwerer psychotischer Rückfall eingetreten. Franz zeigte jetzt eine besondere Neigung, am äußersten Rand des Papiers zu zeichnen. Die Striche brachen mitunter jäh am Blattrand ab, manchmal wurden sie auf der Unterlage fortgesetzt. Der Raum, den das Zeichenblatt bot, blieb bei diesem Vorgehen zum größten Teil leer (Abb. 15). Klinisch war Franz wieder völlig unzugänglich, halluzinant und mit sich selbst beschäftigt. Unter den vielen Kritzeleien, die wir von ihm im Laufe der nächsten zwei Monate erhielten, befanden sich nur zweimal erkennbare Gebilde: ein kleiner Engel (Abb. 16) und ein Totenkopf (Abb. 17). Auf manchen dieser Kritzeleien ließen sich Linienzüge erkennen, die einer Handschrift ähnlich sehen (Abb. 15, 16).

Eine zweite Elektrokrampfkur wurde 63 Tage nach Abschluß der ersten Krampfserie begonnen. Der psychische Zustand des Kranken war so schlecht wie vor Beginn der ersten Behandlung. Schon zwei Stunden nach der Auslösung eines neuerlichen Krampfanfalls gelang dem Kranken zum erstenmal wieder die Darstellung einer menschlichen Gestalt (Abb. 19). Nach der vierten Konvulsionsbehandlung hatte sich sein psychischer Zustand bedeutend gebessert. Die Behandlung wurde nun auf medikamentösem Wege...

Erscheint lt. Verlag 15.12.2015
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Schulbuch / Wörterbuch Lexikon / Chroniken
Technik
Schlagworte Arnulf Rainer • Franz Franz Kauer • Geistesstörung • Geometrisierung • Gestaltungskraft • gestaltungsmuster • Gugging • Johann Hauser • Kreativität • Kunstpsychologie • Manierismus • Otto Prinz • Paul Bleier • Prinzhorn • Psychose • Sachbuch • Schizophrene • Schizophrenie • Wien • Wilhelm Abb
ISBN-10 3-10-560886-9 / 3105608869
ISBN-13 978-3-10-560886-9 / 9783105608869
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