Europas Jazz (eBook)

1960-1980
eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
470 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-560810-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Europas Jazz -  Ekkehard Jost
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Jazz in Europa - das hieß lange Zeit soviel wie amerikanischer Jazz, unabhängig davon, ob er von amerikanischen oder europäischen Musikern dargeboten wurde. Erst mit dem Aufkommen des Free Jazz in den USA und der damit verbundenen Befreiung von den traditionellen jazzmusikalischen Ordnungsprinzipien begannen sich jüngere europäische Musiker vom Einfluß ihrer amerikanischen Leitbilder zu lösen. Dies führte in den sechziger und siebziger Jahren dazu, daß sich eine eigenständige europäische Jazzsprache entwickelte, deren bedeutendste Vertreter Ekkehard Jost hier vorstellt. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Ekkehard Jost (geb. 1938) ist gleichermaßen Jazzhistoriker und -soziologe wie -praktiker. Als langjähriger Professor für Musikwissenschaft an der Gießener Universität hat er mit seinen Publikationen in der internationalen Jazzforschung Wegmarken gesetzt. Und zugleich ist er als Baritonsaxophonist - unter anderem in den Formationen Grumpff, Amman Boutz und Chromatic Alarm - aus der deutschen Jazzszene nicht wegzudenken.

Ekkehard Jost (geb. 1938) ist gleichermaßen Jazzhistoriker und -soziologe wie -praktiker. Als langjähriger Professor für Musikwissenschaft an der Gießener Universität hat er mit seinen Publikationen in der internationalen Jazzforschung Wegmarken gesetzt. Und zugleich ist er als Baritonsaxophonist – unter anderem in den Formationen Grumpff, Amman Boutz und Chromatic Alarm – aus der deutschen Jazzszene nicht wegzudenken.

1 Die vergessene Botschaft des Joe Harriott


»Ich erinnere mich noch, wie verstört die Leute waren, als wir das erste Mal bei Ronnie’s spielten. Die meisten anderen Musiker lehnten unsere Musik rundheraus ab. Doch dann, als die Amerikaner damit anfingen, war alles in Ordnung. Wir waren einfach zu früh dran. Aber die Leute liebten, was wir machten. Wir hatten eine enorme Resonanz bei ihnen, denn sie konnten verfolgen, mit welcher Spontaneität wir aufeinander reagierten.«[1]

Coleridge Goode, von dem dieses Zitat stammt, war seit Ende der 50er Jahre Bassist im Quintett des Altsaxophonisten Joe Harriott. Die Gründe, aus denen die Musik dieser Gruppe bei den im Londoner Ronnie Scott Club anwesenden Musikerkollegen so wenig Anklang fand, sind ziemlich leicht zu rekonstruieren. Man vermißte die changes, jene altvertrauten Harmoniefolgen, die – mit dem Charakter des Selbstverständlichen ausgestattet – normalerweise die Improvisationen der Musiker regulierten. Auch fehlten in Harriotts Stücken die Taktschemata, jene formalen Gerüste, denen sich die einzelnen Soli einzupassen hatten, sollte nicht der musikalische Entwicklungsprozeß aus den Fugen geraten. Obendrein spielte die Gruppe nicht einmal richtige Chorusse – so wie man es gewohnt war, immer schön ein Solo nach dem anderen und mit einer Schlagzeugeinlage am Schluß. Statt dessen schien man sich musikalisch zu unterhalten – keine Monologe, sondern eine permanente Konversation, in der einer dem anderen dazwischenredete und bisweilen auch zwei oder drei oder sogar alle fünf gleichzeitig etwas zu sagen hatten.

Die Irritation der Londoner Jazzprofis war um so verständlicher, als ihnen bewußt war, daß die Gruppe auf dem Podium des Ronnie Scott Club in jenem Herbst 1960 ja keineswegs aus Anfängern bestand, die lediglich ihre musikalischen Defizite veröffentlichten. Nein, das waren professionelle Jazzmusiker wie sie selbst, Leute, die das traditionelle Handwerk beherrschten, die man auf der britischen Jazzszene als Bebopper kannte und akzeptierte. Natürlich wußte man, daß in den USA seit kurzem eine neue stilistische Strömung die Aufmerksamkeit der Jazzpresse auf sich zog; eine Musik, die man verlegenheitshalber als New Thing bezeichnete und als deren umstrittener Exponent ein gewisser Ornette Coleman galt. Aber die Kontakte zur amerikanischen Jazzszene waren beschränkt. Seit den 30er Jahren bestand bereits jene Aussperrung, mit der die britische Musikergewerkschaft ausländische Gruppen von der einheimischen Szene verbannte. Was in den USA jazzmusikalisch passierte, erfuhr man von Schallplatten. Und Colemans Platten waren zu diesem Zeitpunkt in Großbritannien noch kaum bekannt, geschweige denn als gültige musikalische Aussagen von den Insidern der Jazzszene akzeptiert. Was also sollte man davon halten, wenn hier eine einheimische Jazzformation so unüberhörbar gegen die Normen musikalischer Organisation verstieß?

»Einheimisch« im Wortsinne war die Gruppe, um die es hier geht, allerdings nicht. Joe Harriott stammte ebenso wie Coleridge Goode aus Jamaika. Der Trompeter und Flügelhornspieler Shake Keane kam von der kleinen Antillen-Insel Saint Vincent, und nur der Pianist Pat Smythe und der Schlagzeuger Phil Seamen waren Eingeborene der Britischen Inseln. – Drei schwarze Musiker aus der Karibik und zwei Engländer waren also die Wegbereiter des Free Jazz in Europa, oder genauer gesagt: Sie hätten es sein können, wenn man ihre Musik aufmerksamer zur Kenntnis genommen hätte.

Die Frage nach der zeitlichen Priorität einer künstlerischen Hervorbringung zielt bekanntlich meistens auch auf die nach Urheberschaft und Nachahmung. Nach allem, was zu erfahren ist, haben Joe Harriott und seine musikalischen Weggefährten ihre Erkundungsreise in das Neuland der freien Improvisation offenbar weitgehend unabhängig von Ornette Coleman gestartet. Daß sie – bei einigen vordergründigen Übereinstimmungen – zu anderen musikalischen Resultaten gelangten, wird zu zeigen sein.

Nach Aussagen seiner Mitmusiker hatte Joe Harriott mit der Idee einer vom Regelsystem funktionsharmonisch gegliederter Taktschemata befreiten Improvisation bereits zu Ende der 50er Jahre zu spielen begonnen, noch bevor die Kunde von Colemans musikalischen Neuerungen nach Europa gelangte. Dazu Coleridge Goode: »Joe hatte stets sehr präzise Vorstellungen; er wußte immer genau, was er wollte. Über free form sprach er das erste Mal mit mir, als wir im April 1958 zu einem Job auf den Kontinent fuhren. Seine ursprüngliche Idee war es, von der Akkordstruktur eines Stückes wegzukommen.«[2] Auf die Frage eines Interviewers, ob man damals bei den Diskussionen über die offene Form nicht auch Ornette Coleman erwähnt habe, sagte Goode 1983: »Ja, aber wir wollten auf etwas ganz anderes hinaus. Ornettes Angelegenheit war irgendwie eher fragmentär, während wir mehr auf ein Gruppengefühl abzielten. Ganz sicher war unsere Musik andersartig als die von Ornette. Davon abgesehen, gab es hierzulande ja zunächst einmal auch überhaupt keine Schallplatten von ihm zu hören; wir lasen nur über ihn im Melody Maker. Wir nahmen, glaube ich, unsere erste Platte 1960 auf. Und als wir Colemans Musik dann schließlich zu hören bekamen, stellten wir fest, daß sie von dem, was wir machten, doch ziemlich weit entfernt war.«[3] Joe Harriott selbst sah den grundlegenden Unterschied zwischen der Musik Ornette Colemans und seiner eigenen darin, daß seine wesentlich freier sei: »Coleman unterwirft sich viel stärkeren Einschränkungen.«[4]

Gehen wir davon aus, daß Joe Harriott und seine Mitspieler ihr Konzept einer freien Improvisation unabhängig von amerikanischen Vorbildern entwickelten, so stellen sich zwei Fragen. Erstens, wie ist es zu erklären, daß gerade Harriott, ein im Londoner Exil lebender schwarzer Musiker aus Jamaika, diesen ersten Schritt auf dem Wege zu einer Emanzipation des Jazz in Europa unternahm – und das unter den Bedingungen eines jazzmusikalischen Klimas, das eher zum Konservatismus tendierte als zum musikalischen Abenteuer? Und zweitens, wie sah dieses Konzept einer free form oder – wie Harriott es auch nannte – eines abstract jazz im Detail aus, und wie unterschied sich seine musikalische Realisation von parallelen Erscheinungsformen des Free Jazz in den USA? Die Antwort auf die erste Frage liegt – zumindest zum Teil – in der Biographie der beteiligten Musiker; die auf die zweite ergibt sich aus der Analyse des musikalischen Materials.

 

Coleridge Goode sagte einmal über Joe Harriott: »Joe tat alles mit einer phantastischen Intensität, war niemals maßvoll. Man konnte einfach nicht mit ihm argumentieren, rationale Auseinandersetzungen mit ihm waren kaum möglich. Wenn er sich einmal eine Idee in den Kopf gesetzt hatte, war es wie eine Tunnel-Vision: Vernunft bedeutete ihm überhaupt nichts. In seinem Spiel aber drang er wirklich zu den Leuten durch – es war so etwas wie ein Schrei nach Liebe in seinem Sound.«[5]

Joe Harriott wurde am 15. Juli 1928 in Kingston, Jamaika, geboren. In jener Zeit war die Insel noch britische Kronkolonie. Harriott wuchs als Waise auf – und als Schwarzer in einer von Weißen beherrschten Welt. Sich gegen alle möglichen Widerstände durchzusetzen, gehörte zu den elementaren Verhaltensmustern seiner jugendlichen Sozialisation. Seine erste musikalische Ausbildung erhielt Harriott in der Schule; Ende der 40er Jahre spielte er Saxophon in verschiedenen Tanzkapellen; in einem lokalen Symphonieorchester wirkte er als Klarinettist. Als er 1951 als Mitglied der West Indian All Stars nach London kam, war Harriott bereits ein gründlich ausgebildeter Musiker, der sich in den verschiedensten professionellen Situationen zurechtfand. Zentrum seines musikalischen Universums aber war der Jazz, Bebop die richtungweisende Stilform und Charlie Parker die maßgebliche musikalische Bezugsgröße.

1953 nahm Harriott für MGM seine erste Schallplatte mit einem Quartett unter seiner Leitung auf. Es handelte sich dabei um eine sog. EP (Extended Play) von zweimal sieben Minuten Spieldauer mit zwei Titeln darauf: einem Blues aus seiner Feder und dem alten Cole Porter-Song My heart belongs to daddy. Auch in den folgenden Schallplatteneinspielungen hielt sich Harriott an das seinerzeit gängige Standardrepertoire von jazzgeeigneten Broadway-Schlagern: Cherokee, I’ll remember April, Easy to love usw. Auffällig ist eine deutliche Präferenz für solche Balladen, für deren Interpretation Charlie Parker berühmte Vorbilder geliefert hatte: Out of nowhere, Don’t blame me und My old flame. – Ende der 50er Jahre begann Harriott dann gemeinsam mit dem ebenfalls aus Jamaika stammenden Trompeter Dizzy Reece an einem neuen Improvisationskonzept zu arbeiten. Seine Idee war es, die Improvisationen vom Akkordgerüst des thematischen Materials zu lösen und damit den Solisten in die Lage zu versetzen, unbehindert von irgendwelchen formalen Begrenzungen allein seinem melodisch-rhythmischen Erfindungsreichtum zu folgen. Von den musikalischen Ergebnissen dieser experimentellen Phase der Zusammenarbeit mit Dizzy Reece ist nichts überliefert. Die Schallplatten, die Harriott im Mai 1959 im Quintett mit dem Trompeter Hank...

Erscheint lt. Verlag 15.12.2015
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Schulbuch / Wörterbuch Lexikon / Chroniken
Technik
Schlagworte Alexander von Schlippenbach • CBS • Composer • Europa • Han Bennink • Improvisation • Irène Schweizer • Jazz • Jazzszene • Joe Harriott • Michel Portal • Orchester • Peter Brötzmann • Quintett • Sachbuch • Schallplatte
ISBN-10 3-10-560810-9 / 3105608109
ISBN-13 978-3-10-560810-4 / 9783105608104
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