Prüfungsangst (eBook)

Symptome - Formen - Ursachen
eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
222 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-560550-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Prüfungsangst -  Hans-Werner Prahl
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Dr. Hans-Werner Prahl beschreibt die Symptome der Prüfungsangst in Schule und Hochschule, diskutiert die wichtigsten Erklärungsansätze und zeigt den Zusammenhang zwischen der Gesellschaftsstruktur und den Folgen der Prüfungsangst auf. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Dr. Hans-Werner Prahl, geboren 1944, ist pensionierter Professor der Soziologie am Institut für Pädagogik der Universität Kiel. Gemeinsam mit der Arbeitsgemeinschaft für Hochschuldidaktik führte er ein Forschungsprojekt über »Prüfungssystem und Prüfungsreform an den Hochschulen der Bundesrepublik« durch.

Dr. Hans-Werner Prahl, geboren 1944, ist pensionierter Professor der Soziologie am Institut für Pädagogik der Universität Kiel. Gemeinsam mit der Arbeitsgemeinschaft für Hochschuldidaktik führte er ein Forschungsprojekt über »Prüfungssystem und Prüfungsreform an den Hochschulen der Bundesrepublik« durch.

1. Prüfungsangstforschung zwischen Verdrängung und Entlarvung


Mit diesen Überlegungen wurde der Versuch eingeleitet, die Prüfungsangst nicht bloß zu beschreiben und zu beklagen, sondern auch ihre Ursachen zu erforschen. Trotz dieser Anstöße und der kaum zu übersehenden Klagen über die Prüfungsangst konnte eine wissenschaftliche Forschung, die sich mit der Ausprägung und den Ursachen der Prüfungsangst befaßte, nicht recht gedeihen. So fand MOELLER (1967) in einer Literaturübersicht heraus, daß in den ersten sechs Jahrzehnten dieses Jahrhunderts nur etwa zwanzig Buch- und Zeitschriftenpublikationen erschienen sind, die sich psychologisch bzw. psychoanalytisch mit den Ursachen der Prüfungsangst beschäftigten. In der Zwischenzeit hat sich zwar die Zahl der Publikationen zur Prüfungsangst deutlich vermehrt, doch bleibt der Eindruck bestehen, daß sich die Wissenschaft bislang nicht nur ungenügend der Erforschung der Prüfungsangst gewidmet hat, sondern in dieser Frage einer regelrechten Selbstzensur unterliegt.[8]MOELLER (1969c, S. 214) hat diese erschreckende Forschungslücke auf gesellschaftliche und wissenschaftliche Verdrängungsprozesse zurückgeführt: »Es ist erstaunlich, daß die Prüfung als eines der entscheidenden Meßinstrumente der Gesellschaft, mit der bis heute die Bildungs- und Kulturselektion durchgeführt wird, selbst so wenig Anlaß zu wissenschaftlichen Untersuchungen bot. Dieses Phänomen dürfte in einen Bereich gehören, den man ›Psychodynamik der Themenwahl‹ nennen könnte. Die ›wissenschaftliche Lücke‹ (STENGEL, 1938) der Arbeiten über die Genese der Prüfungsangst repräsentiert eine Verdrängung, die mit den beiden großen gesellschaftlichen Tabus zusammenhängt, den Tabus der autoritären Position und der sexuellen Beschränkung.« Dieser Verdrängungsprozeß darf allerdings nicht als individuelles Forscherproblem gesehen werden – etwa in der Ableitungskette: Forscher seien zumeist selbst auch Prüfer und als solche mit Autorität ausgestattet sowie zu affektiver (Trieb-)Neutralität verpflichtet, so daß sich die genannten gesellschaftlichen Tabus in den Forschern widerspiegelten und diese von der Erforschung der Prüfungsangst abhielten. Vielmehr muß davon ausgegangen werden, daß Trieb und Herrschaft in den meisten Gesellschaften zentrale Tabu-Bereiche darstellen, die das menschliche Denken und Verhalten beschränken und die wissenschaftliche Themenwahl beeinflussen. Die Thematisierung dieser Tabu-Bereiche wird zwar nicht direkt negativ sanktioniert, doch bleibt sie in der wissenschaftlichen Sozialisation weitgehend ausgespart und erweist sich wissenschaftlicher Methodik eigentümlich unzugänglich. Gewiß: Diese Tabus mögen in der wissenschaftlichen Forschung angegangen und »entlarvt« werden, doch macht gerade diese vermeintliche »Entlarvung« die Tabus eher noch stärker, denn sie werden so auf eine Ebene verschoben, auf der sie nur noch sublimer wirken. Indem die Tabu-Bereiche Herrschaft und Trieb wissenschaftlich thematisiert werden, werden sie zwar vom Zustand des Vorbewußten in den Zustand des Bewußten gehoben. Aber solange Wissenschaft nicht in gesellschaftliche Praxis umgesetzt werden kann, wirkt das Tabu der autoritären Position oder das Tabu der sexuellen Beschränkung fort, ohne aufgehoben zu werden. Mit dem Etikett, wissenschaftlich »entlarvt« zu sein, erlangen diese Tabu-Bereiche neue Immunität. Solange Wissenschaft diese Dialektik von Entlarvung und Immunisierung nicht überwinden kann, erscheint der Hinweis auf die »Selbstzensur der Wissenschaft«, die für die mangelhafte Erforschung der Prüfungsangst verantwortlich gemacht wurde, plausibel. Jedoch sind diese Hinweise viel zu allgemein, um den bisherigen Mangel an Forschungen zur Prüfungsangst hinreichend erklären zu können. Ergänzende Hypothesen müssen berücksichtigt werden.

Eine vordergründige trivial erscheinende, hintergründig aber mit dem genannten Verdrängungsprozeß in Einklang stehende Hypothese kann in der bisherigen Individualisierung der Prüfungsangst gesehen werden. Prüfungsangst wurde bislang und wird überwiegend auch noch heute als ein individuelles Problem betrachtet, mit dem der jeweilige Prüfling mehr oder minder gut fertig wurde, wie LAUTMANN (1970/71, S. 360) betont: »Prüfungen werden oft nur als individuelles Problem gesehen: wie gut der einzelne auf sie vorbereitet ist, welche Ängste er entwickelt, wie er mit dem Prüfer fertig wird und der Prüfer mit ihm, und anderes.« Wenn aber die Prüfungsangst als von der jeweils individuellen Disposition des Prüflings abhängig angenommen wurde, so bestand kaum ein Anlaß, die Prüfungsangst genauer zu erforschen. Solange unterstellt wurde, daß die Angst vor Prüfungen nur das Problem einzelner Prüflinge sei, also bei einigen von ihnen auftrat, bei anderen nicht, und solange jeder in ganz unterschiedlicher Weise mit diesem Problem fertig zu werden schien, mochte man sich zwar für den Einzelfall interessieren, doch dem Problem kaum allgemeinere Relevanz zusprechen. Eine solche Individualisierung des Problems erlaubte es, das Problem der Prüfungsangst gesellschaftlich zu verdrängen.

Mit dieser Hypothese hängt eine andere Hypothese eng zusammen, nach der die Prüfungsangst als normal und für die Entwicklung der Prüfungskandidaten als förderlich angesehen wird. Diese Annahme kann sich auf SPRANGERS Diktum[9] berufen: »Im ganzen späteren Leben muß man immer wieder vor die Kanonen.« In angeblich wissenschaftlicher Formulierung eines Psychologie-Professors[10] liest sich dieses Argument dann so: »In Anbetracht alles dessen kann nicht genügend betont werden, daß Angst in dieser Situation absolut normal und sogar nötig ist. Jede Maximalleistung hat Angst zur Voraussetzung … Angst wird so zum Anreiz oder zur Leistungsmotivation. Sie ist überhaupt die ›dira necessitas‹ des Lebens und bleibt weiterhin notwendig. Ohne Angst ist der Mensch unmenschlich.« Die Prüfungsangst wird so zu einer unabdingbaren Voraussetzung jeder Leistung hochstilisiert, die für die Bewältigung der Leistungssituation funktional sei. Sollte diese Annahme zutreffen, so müßte die wissenschaftliche Forschung daran interessiert sein, daß die Angst zur Erreichung möglichst guter Leistungen noch gesteigert und adäquat eingesetzt werden kann. Die Widersinnigkeit einer solchen Argumentation ist unmittelbar einleuchtend, dennoch darf ihre Bedeutung für den Mangel an Prüfungsangstforschungen nicht unterschätzt werden. Denn wenn die Prüfungsangst als normal und funktional deklariert wird, besteht wenig Anlaß, ihren Ursachen und Determinanten genauer nachzugehen. Zumal dann, wenn man von der Erwartung ausgeht, daß man »im ganzen späteren Leben immer wieder vor die Kanonen muß«, also immer wieder Grenzsituationen bewältigen muß, glaubt man ein Argument dafür zu haben, auch im Examen Extremsituationen zu erproben. Eine solche Denkweise erscheint ohne weiteres Nachdenken zunächst einmal plausibel und enthebt von der Aufgabe, über die Ursprünge und Ausprägungen der Prüfungsangst weiter nachzusinnen. Bedenkt man, mit welch’ niedrigem Grad an Plausibilität sich manche Wissenschaften bisweilen zufriedengeben, so kann die hier genannte Hypothese durchaus zur Erklärung des Mangels an Prüfungsangstforschung herangezogen werden. Es hieße vielleicht, die Reflexivität mancher Wissenschaften zu überfordern, wenn neben solchen unmittelbar plausiblen Gedanken auch noch alternative Überlegungen durchdacht werden sollen, wie es SEIFFERT (1969, S. 186) tut: »Man fragt sich, ob in dieser Argumentation ein Sinn steckt. Wenn man ohnehin immer wieder ›vor die Kanonen‹ muß – warum muß man es dann im Examen noch zusätzlich? Dann lernt man es offensichtlich auch ohne Examen.«

Die bisherigen Hypothesen gingen von gesellschaftlichen oder individuellen Verdrängungsprozessen aus, die eine Thematisierung der Ursachen und Determinanten der Prüfungsangst verhinderten. Diese Hypothesen sind aber zumindest um weitere Annahmen zu ergänzen, die sich auf die Strukturen und Verwertungsbedingungen der Wissenschaft beziehen. Um mit den einfachsten Annahmen zu beginnen: Psychologie, Pädagogik und Soziologie sind nicht nur allesamt Wissenschaftsdisziplinen relativ neuen Datums, sondern untereinander – nicht zuletzt wegen ihrer Profilierungsbedürfnisse und Statusunsicherheiten – auch wenig kooperativ. Da es aber gerade diese Disziplinen sind, die sich am ehesten der Erforschung der Prüfungsangst widmen könnten, mag es nicht verwundern, daß von ihnen bislang nur wenig zur Erforschung der Prüfungs- bzw. Leistungsangst unternommen wurde. Mit diesem allgemeinen Entwicklungsstand der genannten Wissenschaften hängen methodische Schwierigkeiten zusammen: Die experimentell arbeitende Psychologie kann nur Phänomene erforschen, die sich auch unter Laborbedingungen kontrollieren lassen, die Psychoanalyse kann nur Einzelfallanalysen anstellen, die nicht ohne weiteres verallgemeinert werden können, die Motivationspsychologie kann nur Annahmen über die Entwicklung von Motiven akzeptieren, die sich auch unter Experimentalbedingungen überprüfen lassen, die Erziehungswissenschaften können nur Bedingungen für angstfreies Lernen angeben, die mit der pädagogischen Praxis freilich selten übereinstimmen, die Soziologie kann Angaben über die allgemeine Angstentstehung in der primären und sekundären Sozialisation oder über die gesellschaftlichen Funktionen von Prüfungsritualen und -legitimationen machen, die zur Erklärung der konkreten...

Erscheint lt. Verlag 16.11.2015
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Schulbuch / Wörterbuch Lexikon / Chroniken
Technik
Schlagworte Alma Mater • Angst • Determinante • Erfolgshoffnung • Hypothese • Initiation • Konflikt • Leistungsmotiv • Leistungsmotivation • Lerntheorie • Misserfolg • Mißerfolgsfurcht • Motivationspsychologie • Prüfung • Prüfungsangst • Prüfungsangstforschung • Prüfungssituation • Reifung • Sachbuch • Symptom • Triebwunsch
ISBN-10 3-10-560550-9 / 3105605509
ISBN-13 978-3-10-560550-9 / 9783105605509
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