Deutschland und die Weltpolitik im 20. Jahrhundert (eBook)

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2015 | 1. Auflage
138 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-560635-3 (ISBN)

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Deutschland und die Weltpolitik im 20. Jahrhundert -  Ludwig Dehio
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Der Marburger Historiker Ludwig Dehio schreibt über Deutschland und die Weltpolitik im 20. Jahrhundert: Deutschland und die Epoche der Weltkriege / Ranke und der deutsche Imperialismus / Gedanken über die deutsche Sendung 1900-1918 / Versailles nach 35 Jahren / Das sterbende Staatensystem / Deutsche Politik an der Wegegabel. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Ludwig Dehio (1888-1963) war ein deutscher Historiker.

Ludwig Dehio (1888–1963) war ein deutscher Historiker.

Deutschland und die Epoche der Weltkriege


Deutschland rückt nach Jahren der politischen Passivität aufs neue in die Zone eigenster Verantwortung[1]. Mehr denn je bedarf es der Klarheit über jene Epoche, die seiner Ausschaltung aus der Verantwortung vorausging, die Epoche der beiden Weltkriege. Soll die Diskussion über sie auch vor diesem Forum weitergeführt werden, so kann es freilich nur in aphoristischer Kürze geschehen, durch Markierung einiger Punkte, deren Verbindung eine ungefähre Silhouette ergäbe.

Ein Leitbegriff sei vorangestellt, der geeignet erscheint, als Mittelpunkt unserer heutigen Erörterung zu dienen, ja vielleicht jeder Erörterung unseres Themas, sofern sie hinausstrebt über Anklage und Verteidigung des Tages nach etwas Drittem, einem in sich ruhenden historischen Bilde. Ich meine den Begriff des Hegemonialkampfes. Denn die beiden Weltkriege, untereinander als zwei Akte desselben Dramas zusammenhängend, sie zeigen ja beide aufs höchste gesteigert die wohlbekannten Familienzüge jener europäischen Hauptkriege, wie sie bezeichnet werden durch die Namen Karls V. und Philipps II., Ludwigs XIV. und Napoleons I.

Diese These durch vergleichende Analyse des äußeren Geschehens auf dem weiten Gebiete der großen europäischen Politik insgesamt zu begründen, hieße den zeitlichen Rahmen dieser Stunde sprengen. Aber es sei versucht, aus ihr Gewinn zu ziehen für die Betrachtung des deutschen Geschehens unserer Epoche im besonderen, gerade auch ihrer inneren Abläufe. Und hierbei läßt sich nun mit Vorteil ein zweiter Begriff verwerten, der mit dem ersten unschwer in nahe Beziehungen zu setzen ist: der der Dämonie der Macht. Ist er doch nicht von ungefähr während des letzten Weltkrieges, das heißt des letzten europäischen Hegemonialkrieges, so eindrucksvoll in unser Bewußtsein gehoben worden.

Indem ich dem Leitbegriffe eine überragende Bedeutung beimesse, rücke ich schon ein wenig ab von den Deutungen, die auf ihn verzichten. Vorab von solchen, die in isolierender Betrachtung das deutsche Geschehen unserer Epoche einfach aus deutscher Wurzel emporwachsen sehen mit der Zielstrebigkeit eines Baumes, ohne die Verflechtung dieses Geschehens mit der Umwelt dauernd im Auge zu behalten. Sodann aber auch von solchen, die weiter umblickend den Akzent gerade auf die zeittypischen Analogien legen. Beide Betrachtungen sind gewiß im Recht. Aber beide bedürfen der Ergänzung. Am meisten die isolierende, die das Ausland bevorzugt; sie neigt zur Überbetonung der deutschen Sonderart. Die zweite Betrachtung freilich droht sie eher zu verwischen. Wer aber mit uns in Deutschland die Hegemonialmacht unserer Zeit erblickt, hofft beiden Gefahren zu entgehen. Denn ihm erscheint einerseits Deutschland, eben in seiner Funktion als Hegemonialmacht, unbedingt als singulär verglichen mit seinen Geschwistern in der Völkerfamilie. Aber andererseits erscheint ihm damit nicht auch schon festgelegt, es habe auch zuvor ein singuläres Wesen von je besessen! Und ein weiterer Gesichtspunkt mahnt uns zu vorsichtigem Urteil. Er ergibt sich bei der Rückschau auf die älteren Hegemonialmächte. Sie macht uns nämlich bewußt, daß manche Züge des modernen Deutschlands, die im Rahmen des zwanzigsten Jahrhunderts sich als singulär aufdrängen, auch schon bei jenen wenigstens vorgebildet sind und also, im Rahmen früherer Jahrhunderte betrachtet, auch ihre typische Seite haben. Freilich macht uns aber dieselbe vergleichende Rückschau auch bewußt, inwiefern in der Kette der Hegemonialkriege dem deutschen Doppelgliede seine einzigartige Bedeutung zukommt. Und diese tritt schließlich als Resultat aller Vergleiche, sei es mit älteren, sei es mit zeitgenössischen Erscheinungen, nur immer einleuchtender und objektiver hervor.

Was nun aber jene Dämonie der Macht angeht, die den ihr Verfallenen umhertreibt in dem Strudel überhöhten Geltungsstrebens und amoralischer Kampfleidenschaft, so kann es nicht anders sein, als daß sie in den umfassendsten und heftigsten Kämpfen des Erdteils, den hegemonialen, am machtvollsten auftritt. Und da nun inmitten dieser Kämpfe die festländische Vormacht, eben die Hegemonialmacht, als einsame Hauptfigur emporragt, so wird ihr nun auch eine dämonische Versuchung spezifischer Art zugeordnet sein.

Aber genug einleitender Überlegungen. Gehen wir dazu über, mit wenigen Sätzen Deutschlands Einrücken in den hegemonialen Bereich zu kennzeichnen. Das Kernstück sämtlicher Kämpfe um die europäische Hegemonie (nur um diese handelt es sich) erblicken wir in den Konflikten, in die die jeweils stärkste Macht auf dem alten Kontinent (nicht in seinen östlichen Außenbereichen) mit der Seemacht gerät. Von solchen Konflikten ist aber in der preußisch-deutschen Geschichte vor dem Flottenbau am allerwenigsten die Rede. Sie zeigt die ausgeprägtesten Züge des rein kontinentalen Machttyps: freilich gesteigert durch eine zu ihrer Zeit unvergleichliche Vehemenz und Jugendlichkeit. Denn die Ausbreitung Preußens nach Westen verjüngte die stockende Nation bis in letzte Tiefe und übertrug auf sie von der geschichts- und kulturarmen Peripherie des Ostens her jene hinreißende Vehemenz, die eine neue Vitalität hervorlockte und formte – im biologischen Bereiche, im geistigen, im wirtschaftlichen: und vor allem im politischen. Hier war es die Dreiheit von kühnster Führung, systematischer Rüstung und diszipliniertem Menschentum, die sich dem Denken des erneuerten Deutschlands unverwischbar einprägen sollte. Die Tradition des preußischen Machtstaates, der an Suggestionskraft dem alten Abendland nichts an die Seite zu stellen hatte, lehrte den Triumph des Willens, der vom kleinsten Ausgangspunkte her in gewaltigen Sprüngen vorzudringen vermag bis in den Kreis der Größten!

Dieser Strom binnenländisch beschränkter Geschichte trat nun mit dem Beginn unseres Jahrhunderts in jäher Wendung in die Zone der europäischen und globalen Entscheidungen höchsten Ranges ein, jener Entscheidungen, die, trotz der Großartigkeit der kontinentalen Kämpfe, auf den Meeren mehr als auf dem Lande fallen. Wir fragen: Wie ist der Weltkrieg, nicht veranlaßt, aber ermöglicht worden? Als Weltkrieg unzweifelhaft durch den Expansionsdrang des verjüngten Deutschlands; der russische allein hätte ihn damals noch nicht herbeiführen können. Daß er jedoch die klassische Form eines Kampfes um die europäische Hegemonie annahm, das ist das Werk der englischen Gegenwirkung.

Wir Deutsche suchten in echt preußischer Methode, das heißt mit Hilfe systematischer Rüstung, diesmal zur See, aus der europäischen Enge hinaus in das erhoffte Weltgleichgewichtssystem einzudringen, so wie einst Preußen eingedrungen war in das europäische Gleichgewichtssystem. Es war das aber nicht möglich, ohne dies europäische System gleichsam auf sein Altenteil zu verweisen. Es war auch nicht möglich, ohne zugleich England auf sein Altenteil zu verweisen: ohne es zurückzudrängen – in Europa aus seiner Stellung als Bürge des bisherigen Gleichgewichtes, in der Welt aus seiner Stellung als Inhaber der Seehegemonie. Die unausweichliche Folge unseres Strebens? Es führte uns auf den Weg in den Weltkrieg: wir und nur wir bedrohten die zentralen Lebensnerven der englischen Weltmacht. Unser an sich typischer Imperialismus nahm damit einen singulären Zug an, obgleich draußen im kolonialen Bereiche die Reibungsflächen anderer Imperialismen mit dem englischen viel umfangreicher waren als die des unseren.

Während wir nun, den unsteten Blick auf die weite Welt gerichtet, weniger einzelne Erwerbungen fest ins Auge faßten, als überhaupt auf umfassende Änderungen des Status quo auf Kosten unseres Rivalen spekulierten, suchte dieser sich zu behaupten, indem er gerade das alte europäische Gleichgewicht verteidigte, das uns fast antiquiert erschien dank der halbhegemonialen Stellung des Bismarckreiches auf dem Festlande: England drängte uns durch die Einkreisung allmählich in die isolierte Stellung eines potentiellen Bewerbers um die europäische Hegemonie im vollen Sinne, während unser Imperialismus an der englischen Weltseehegemonie vorbei noch immer dem Typ einer Weltmacht neben anderen zustrebte. So bekämpfte jeder der Rivalen unter Berufung auf das Gleichgewicht die hegemoniale Stellung des anderen, nur daß jeder unter Hegemonie und Gleichgewicht etwas gänzlich Verschiedenes verstand.

Wohl lernten wir unter dem Druck der Einkreisung schon vor 1914 an der Schlüssigkeit unserer optimistischen Berechnungen von der Jahrhundertwende zweifeln, als ob nämlich England, durch unsere Seerüstung in Schach gehalten, aus seinen Schlüsselpositionen sich friedlich werde herausmanövrieren lassen. Aber das ist nun das Entscheidende: Unsere jugendliche Kraft zog daraus keine Konsequenz. Plehn konnte 1913 schreiben: »In dem Jahre nach der letzten Marokkokrisis ist die Stimmung nahezu Allgemeingut der deutschen Nation geworden, daß wir uns nur durch einen großen europäischen Krieg die Freiheit zu unserer weltpolitischen Betätigung erkämpfen könnten[2]

Und so kam dieser große europäische Krieg, der sich zum Weltkrieg ausweiten sollte. Erst jetzt wurde die bisher nur drohende Verwandlung unserer Lage furchtbare Wirklichkeit. Erst jetzt übernahmen wir die Funktion einer europäischen Hegemonialmacht. War doch die Beseitigung des alten Gleichgewichtes für die stärkste Festlandsmacht logischerweise verbunden mit dem Griff nach der Hegemonie in Europa, mochten wir auch diese Folgerung vor uns selbst oder vor anderen maskieren. Erst jetzt prägen sich unter der Last der neuen Situation auch ganz neue Züge unserem Wesen ein, deren einfache Zurückdatierung nicht angängig ist, wenn sie...

Erscheint lt. Verlag 16.11.2015
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Schulbuch / Wörterbuch Lexikon / Chroniken
Technik
Schlagworte 20. Jahrhundert • Deutschland • England • Erich Marcks • Erster Weltkrieg • Frankreich • Friedrich Meinecke • Hegemonialkrieg • hegemonialmacht • Hermann Oncken • Historie • Imperialismus • Napoleon I. • Otto Hintze • Rußland • Sachbuch • Staatensystem • Versailles • Weltpolitik • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-10-560635-1 / 3105606351
ISBN-13 978-3-10-560635-3 / 9783105606353
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