Philologie der Weltliteratur (eBook)

Sechs Versuche über Stil und Wirklichkeitswahrnehmung
eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
96 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-560801-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Philologie der Weltliteratur -  Erich Auerbach
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Auerbachs Kenntnis der europäischen Literaturen, ihrer Geschichte und Wechselbeziehungen war immens - gerade darum aber vermochte er auch an unscheinbaren formalen und stilistischen Details übergreifende Zusammenhänge zu entfalten, die ideologische Frontlinien ebenso einschließen wie spezifische Erwartungshaltungen des Publikums. Seine auch sprachlich eleganten Arbeiten zeigen, was Philologie vermag, wenn sie ihre fachwissenschaftlichen Begrenzungen sprengt. Dabei war jedoch Auerbach kein Verfechter großer theoretischer Entwürfe, sondern ein Meister der unpolemischen, gleichsam lautlosen und diskreten Erkenntnisarbeit, die sich erst im Kopf des Lesers vollendet. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Erich Auerbach, geboren 1892 in Berlin, gestorben 1957 in Wallingford (Conn.), war Professor für Romanistik in Marburg, Istanbul, am Pennsylvania State College und an der Yale University, New Haven. Wichtige Werke: ?Dante als Dichter der irdischen Welt? (1929), ?Das französische Publikum des 17. Jahrhunderts? (1933), ?Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur? (1946). Daneben übertrug Auerbach Werke von Dante, Petrarca und Vico ins Deutsche.

Erich Auerbach, geboren 1892 in Berlin, gestorben 1957 in Wallingford (Conn.), war Professor für Romanistik in Marburg, Istanbul, am Pennsylvania State College und an der Yale University, New Haven. Wichtige Werke: ›Dante als Dichter der irdischen Welt‹ (1929), ›Das französische Publikum des 17. Jahrhunderts‹ (1933), ›Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur‹ (1946). Daneben übertrug Auerbach Werke von Dante, Petrarca und Vico ins Deutsche.

Der Schriftsteller Montaigne


Montaigne war der Sohn eines gascognischen Vaters und einer spanisch-jüdischen Mutter. Die Familie war reich und angesehen: der Großvater Eyquem, Fischhändler in Bordeaux, kaufte das adlige Lehen Montaigne in der Guyenne, der Vater lebte als Soldat und Edelmann; er hat es in Bordeaux zum Bürgermeister gebracht. Michel ist in allen äußeren Dingen sein Nachfolger: Erbe des Vermögens, Soldat, Verwaltungsmann, Reisender, korrekter Familienvater und schließlich maire von Bordeaux. Auch körperlich ist er der Sohn seines Vaters, dessen kräftige Konstitution, sanguinisches Temperament, Anlage zum Steinleiden er in sich wiederfand. Doch die Zeiten waren schwieriger geworden. Der Vater lebte in der glänzenden Epoche der Italienfeldzüge, der Sohn in der schlimmen Verwirrung der Hugenottenkrise, die, zum letzten Male, den nationalen Bestand Frankreichs gefährdete. Sie begann in den 1550er Jahren, als Montaigne gerade erwachsen war, sie endete um 1600, mit dem Siege Heinrichs IV., wenige Jahre nach Montaignes Tod. Die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts, das Zeitalter Philipps von Spanien und Elisabeths von England, zeigt in Frankreich blutige Verwirrung der Ereignisse und eine unheimliche Anarchie der Herzen.

Auf so schwankendem Grunde führte Montaigne ein Leben, dessen Gleichgewicht nie erschüttert wurde. Vielleicht kannte er in seiner Jugend Ehrgeiz und Unruhe; vielleicht Leidenschaft; gewiß Freundschaft in ihrer eigentlichsten Art. Aber das ist in der Zeit, in der wir ihn kennenlernen, längst vorüber. Mit 38 Jahren zieht er sich zurück, wird Privatmann, und von da an gilt seine äußere Tätigkeit der Verteidigung seines Bestandes. Er führt sie klug, ohne Angst und Starrheit, manchmal ein wenig nachgebend, mit Witz und ohne Gewalt; aber zäh und entschlossen.

Welchen Bestand hat er zu schützen: zunächst seinen Besitz, seine Familie und seine Sicherheit. Doch das ist das wenigste. Das tat er kaltblütig, freundlich, mit einigen geschickten Bewegungen. Es ist lustig zu lesen, wie er die Banden von Plünderern durch Anstand und Sicherheit des Auftretens, durch seine bloße Haltung entwaffnet. Wäre es zu arg gekommen, hätten diese Pflichten allzu viel von ihm verlangt, so war er bereit, sie preiszugeben. Das eigentliche Objekt seiner Defensive ist sein inneres Zentrum, das Versteck seines Geistes, die arrière-boutique, die er sich vorbehalten hat. Il faut faire comme les animaux, qui effacent la trace à la porte de leur tanière.[1] Das gilt nicht nur, und am allerwenigsten, für sein äußeres Leben. Er war ein offenherziger, mitteilsamer und gastlicher Mensch; er versagte sich dem Abenteuer nicht; er gab sich zwar nicht, aber er lieh sich gern. Er war neugierig und sogar ein wenig snobistisch; er macht sich adliger als er ist, er weiß uns auf die bescheidenste Art seine große soziale Position deutlich zu machen, und seine Selbstkritik und Selbstironie sind voll von einem sympathischen Hochmut. Er ist keineswegs ein Eremit; er ist nur ein Privatmann, und er liebt manchmal Gesellschaft. Doch die arrière-boutique des inneren Wesens ist unzugänglich: dort ist sein eigentliches Zuhause; dort ist er bei sich; auf ihre Sicherheit und ihren Komfort verwendet er die ganze Aktivität des klügsten Mannes seiner Zeit.

Er besaß ein ausgeprägtes Gefühl für Anstand und loyales Verhalten. Er hatte einen guten und klugen Vater, eine freundliche Kindheit und eine freie Jugend; böse Gedanken und niedriges Handeln waren ihm fremd, er erwartete nichts derart von anderen und betrug sich selbst, wie er es von seinem Vater gesehen hatte. Es war loyal, dem König zu dienen, seinen Freunden gefällig zu sein, seine Familie zu schützen; es gehörte sich, zu Untergebenen menschlich und natürlich, zu den Oberen frei und respektvoll zu sein. Es war loyal, die überkommenen Vorschriften und Gebräuche zu achten, und überdies närrisch, zu glauben, man könne durch das gegenteilige Verhalten etwas anderes hervorrufen als Verwirrung. Es stand nicht dafür, es wäre unnütz, unbequem, unzweckmäßig, sich in irgendeiner Weise äußerlich von anderen Menschen des gleichen Standes zu unterscheiden, ihre Pflichten zu versäumen oder gar andere, die ihnen nicht oblagen, freiwillig zu übernehmen. Vielleicht war es auch ganz erfreulich festzustellen, daß man ein Geschäft oder ein Amt, dem man nicht gut ausweichen konnte, ebensogut oder besser zu verwalten verstand wie die anderen – ohne sich deshalb übermäßig anzustrengen oder gar hinzugeben. Das war die Bedingung. Si quelquefois on m’a poussé au maniement d’affaires estrangères, j’ay promis de les prendre en main, non pas au poulmon et au foye[2]; so handelte er auch, als er in schwierigen Zeiten, halb gezwungen, maire von Bordeaux wurde. Er war ein guter Vater seiner Familie, ein loyaler Franzose, ein Mann, der sich in den großen Geschäften seiner Zeit auskannte; es lag nur an ihm, daß er keine führende Person am Hofe wurde. Es lag nur an ihm, denn er wollte nicht. Er verteidigte sich gegen alles, was ihm über das Maß des Notwendigen hinaus Pflichten auferlegte: gegen den König, gegen seine Freunde, gegen die Bürger von Bordeaux, gegen seine Familie. Er verteidigte sich gegen die Bindungen des Gemüts, die den ganzen Menschen verpflichten, ebenso hartnäckig und liebenswürdig wie gegen äußere Feinde.

Er verteidigt seine innere Einsamkeit; aber was besaß er an ihr, was machte sie ihm so wertvoll? Sie ist sein Leben selbst, sein Insich- und Beisichsein, sein Haus, sein Garten und seine Schatzkammer. Dorthin trägt er, was er etwa auf seinen Streifzügen in die Welt Kostbares erobert; dort verarbeitet und durchdringt er es mit der Würze seines Wesens. Was ist und was tut er dort? Es ist nicht christliche Weltflucht, nicht Wissenschaft und nicht Philosophie. Es ist etwas, wofür es noch keinen Namen gibt. Er überläßt sich sich selbst. Er läßt seine inneren Kräfte spielen; keineswegs nur den Geist allein; der Körper hat mitzureden, er darf sich einmischen in seine Gedanken, und auch in die Worte, die er zu schreiben beginnt.

Neben ihm sind die großen Geister des 16. Jahrhunderts, die als Führer der Renaissance, des Humanismus, der Reformation und der Wissenschaft das moderne Europa geschaffen haben, samt und sonders Spezialisten. Theologen oder Philologen, Astronomen oder Mathematiker, Künstler oder Dichter, Diplomaten oder Feldherren, Historiker oder Ärzte: in einem weiten Sinne sind es alles Fachleute. Manche haben mehrere Fächer; Montaigne hat keines. Er ist durchaus kein Dichter. Gelernt hat er Rechtswissenschaft, aber er war ein gleichgültiger Jurist, und seine Äußerungen über die Grundlagen des Rechts, obgleich in anderem Zusammenhang bedeutend, haben keinen fachlichen Wert. Was er überhaupt praktisch getrieben hat, steht mit seinem geistigen Wirken in keinem beruflichen Zusammenhang. Es liefert ihm häufig Material für seine Gedanken. Aber die Bedeutung dieser Gedanken ist unfachlich; sie sind weder juristisch noch militärisch, noch diplomatisch, noch philologisch, obgleich sie aus all diesen Gebieten und noch manchen anderen ihre bezaubernde Konkretheit schöpfen. Sie sind auch nicht eigentlich philosophisch: jedes System und jede Methode fehlen. Er bleibt Laie selbst dort, wo er etwas von der Sache zu verstehen scheint, etwa in der Pädagogik. Man könnte sich nicht vorstellen, daß er eines dieser Fächer, die er gelegentlich berührt, ernsthaft betreibt. Und jedenfalls liegt seine Leistung nicht in einem von ihnen. Worin seine Leistung besteht, ist selbst heut nicht leicht zu formulieren; in seiner Zeit ist die Wirkung fast unbegreiflich. Denn jede Leistung bedarf eines Adressaten, für den sie wertvoll ist, jede Wirkung eines Publikums. Das Publikum der Essais hat Montaigne jedenfalls nicht vorgefunden, und er konnte nicht ahnen, daß es existierte. Er schrieb weder für den Hof noch für das Volk, weder für die Katholiken noch für die Protestanten, weder für die Humanisten noch für irgendeine bestehende Gesamtheit. Er schrieb für eine Gesamtheit, die es nicht zu geben schien, für die lebenden Menschen überhaupt, welche als Laien einige Bildung besitzen und sich über ihre Existenz Rechenschaft geben wollen; für die Gruppe, die man später etwa das gebildete Publikum nannte. Bis dahin gab es als Gesamtheit, wenn man von Beruf, Stand und Staat absah, nur die Christenheit. Montaigne wandte sich an eine neue Gesamtheit, und indem er sich an sie wandte, schuf er sie; an seinem Buch erwies sie zum erstenmal ihr Vorhandensein.

Montaigne war sich dessen nicht bewußt; er sagt, er schreibe für sich selbst, um sich zu prüfen und zu kennen, und für seine Freunde, damit sie noch ein deutliches Bild von ihm besitzen, wenn er tot ist. Gelegentlich ist er etwas weiter gegangen und hat gemeint, in der Verfassung des einzelnen Menschen finde sich die Verfassung des ganzen Menschengeschlechts. Jedenfalls ist er selbst ein einziger Gegenstand, und sein einziger Zweck ist, leben und sterben zu lernen – dies ist das Wichtigere, denn wer zu sterben gelernt habe, so meint er, der verstehe auch zu leben. Das klingt philosophisch und ist es auch letzten Endes. Aber von einer Philosophie Montaignes zu sprechen ist mißverständlich. Jedes System fehlt; sagt er doch zum Beispiel auch, daß Sterbenlernen unnütz sei, denn die Natur besorge dies Geschäft ohne uns; und auch ein eigentlicher Wille zu lehren fehlt, wie ihn der sonst wohl vergleichbare Sokrates besaß, und darum auch jeder Wille zur objektiven Geltung. Was er schreibt, ist für ihn und gilt nur für ihn; finden andere daran Nutzen und...

Erscheint lt. Verlag 16.11.2015
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Schulbuch / Wörterbuch Lexikon / Chroniken
Technik
Schlagworte Adalbert Stifter • Christlichkeit • Giambattista Vico • Italien • Jean-Jacques Rousseau • Michel de Montaigne • Philologie • Sachbuch • Stil • Wirklichkeit • Wirklichkeitswahrnehmung
ISBN-10 3-10-560801-X / 310560801X
ISBN-13 978-3-10-560801-2 / 9783105608012
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