Französische Zustände (eBook)

Berichte und Essays

(Autor)

eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
288 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-560683-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Französische Zustände -  Lothar Baier
Systemvoraussetzungen
14,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Baiers Essays stützen sich ebenso auf Anschauung wie auf Recherche, neugierige Beobachtung bestimmt sie nicht weniger als genaue Lektüre. Sie handeln von Staatsaffären (de-Broglie-Affäre), aber auch von Land und Leuten (Okzitanien), von politischen Ereignissen (den Nachwirkungen der Résistance, dem Auftritt der »Neuen Rechten«, dem französischen Konservatismus und Antisemitismus), aber auch von literarischen Erkundungen (Artaud, Céline, Giono, Sartre/Flaubert) und von den Wechselfällen des deutsch-französischen Politik- und Ideen-Dialogs (»Kommunisten und Anverwandte«, »Franzosentheorie«, »Blick zurück vom Zaun«) - Lesevergnügen und Lehrstück zugleich. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Lothar Baier (1942-2004) war Schriftsteller, Kritiker, Essayist und Übersetzer.

Lothar Baier (1942–2004) war Schriftsteller, Kritiker, Essayist und Übersetzer.

An den Rändern der Zentrale


»Dieses verfluchte Paris! Eine zentralisierende, despotische Stadt, in der alles geplant, wie am Schnürchen geregelt wird.« Das schreibt Maria-Antonietta Macciocchi in Der französische Maulwurf. Jeder deutsche Französischlehrer hat Beispiele für den zentralistischen Despotismus parat: Wenn zwischen zwei Dörfern eine Brücke erneuert werden soll, hat die Pariser Verwaltung das letzte Wort. Das Budget, über das die Gemeinde verfügt, reicht gerade aus, um die Heizung im Rathaus und eine Schreibkraft zu bezahlen; alle anderen Ausgaben müssen beim Präfekten, das heißt dem Statthalter der Zentrale, beantragt werden. Das soll sich nach der von der neuen linken Regierung beschlossenen Dezentralisierung alles ändern. Der Provinzler auf Zeit allerdings fragt sich, ob der Pariser Despotismus, so wie er ihn erfährt, überhaupt reformierbar ist.

Er will ja keine Brücken bauen oder Dorfstraßen asphaltieren. Aber er hat sich auf eine Sendung von »France-Musique« gefreut und muß bei der Ansage hören, daß das Villa-Lobos-Konzert nur in der Pariser Region stereophon übertragen wird: 600 km von Paris entfernt nimmt der Gebrauchswert einer Stereoanlage spürbar ab. Gerade wenn sich die Medien Mühe geben, die Benachteiligung der Provinzler auszugleichen, machen sie sie erst recht deutlich. Rufen Sie an, heißt es vor Radiosendungen mit Hörerbeteiligung, mit R-Gespräch, »falls Sie nicht in der Pariser Region wohnen«. Der Ton, in dem diese Einschränkung ausgesprochen wird, ist unnachahmlich: Der ›gute‹ Radiohörer ist ohnehin nur in der Region von Paris zu finden. Die heimliche Ehrfurcht, mit der die Pariser Angelegenheiten immer verfolgt worden waren, verwandelt sich in der Provinz in eine verhaltene Wut. Nicht einmal die kapitalistische Markterschließung zeigt sich hier von ihrer verführerischen Seite – bis ein bestelltes Buch in dem Kleinstadtbuchladen eintrifft, vergehen mehrere Wochen.

Die Provinzler auf Dauer teilen diesen Groll nur selten; von Paris haben sie sich nie etwas versprochen außer Staatsakten. Paris ist für sie so weit entfernt, daß sich gleichzeitig die Distanz zu dem Ausländer zu verringern scheint: Als Fremde stehen Pariser und Engländer oder Deutsche fast auf derselben Stufe. Der Provinzler auf Zeit hat diesen Zustand zu schätzen gelernt, der die xenophobischen Reflexe der ländlichen Provinzbewohner gleichmäßig auf alle Landfremden verteilt und dadurch mildert; allerdings hat er sich auch die Vorstellung abschminken müssen, in den Provinzbewohnern schlummerten lauter verhinderte Aufrührer, die mit der geballten Faust in der Tasche dem Tag entgegenfieberten, an dem sich der Unmut der Provinzen im Aufstand entladen wird, wie seinerzeit in der Vendée, der Provence oder in Lyon. Die Entfernung zur Pariser Zentrale wird zwar als Maßeinheit einer Welt empfunden, in der die Willkür regiert, aber sie schafft auch Distanz zur Macht; jahrhundertelange Erfahrung hat die Provinzler gelehrt, daß die Zentralmacht nicht wie ein Panoptikum funktioniert – sie sieht nicht alles. Im Bischofssitz von Viviers an der Rhone scheint die Erinnerung an die viele Jahrhunderte zurückliegende Epoche noch lebendig zu sein, in der das Vivarais zusammen mit Arles zum Heiligen Römischen Reich deutscher Nation gehörte: Damals ging es uns gut, sagt der Priester, da war die Macht noch weiter weg. Der Provinz geht es aus denselben Gründen gut, aus denen es ihr schlecht geht: Schlecht geht es ihr, weil die Kraft zur Erschließung der Regionen von der Zentrale aufgesaugt wurde; in den letzten hundert Jahren hat das Departement Ardèche ein Drittel seiner Bewohner verloren, und im Tal des Flusses Ardèche ist die Trasse einer begonnenen und dann doch nicht eröffneten Bahnlinie als Symbol erlahmter Erschließungsenergie stehengeblieben. Wo die Bürger auf schlechten Straßen schlecht vorankommen, trifft aber auch die Macht auf Kommunikationsprobleme; Regionen mit löchriger Infrastruktur sind meistens auch Regionen verdünnter Kontrolle. Als beispielsweise der gefürchtete »lange Arm des Bundeskriminalamts« im Herbst 1977 sogar die entlegensten Cevennentäler nach deutschen Terroristen abtasten wollte, unter Einschaltung französischer »Amtshilfe«, kehrten die ortskundigen Gendarmen mit den Auskünften zurück, die sie wie gewohnt in den Dorfkneipen bekommen hatten. Wie Horst Herolds Datenverarbeitung die beim Rouge am Tresen gesammelten Daten verarbeitet hat, das wüßte ich heute noch gern. Zu behaupten, daß es der Provinz gut ginge, weil das Innenministerium weit weg ist, wäre natürlich übertrieben; ich will damit nur sagen, daß ich die Provinzler unter dem Zentralismus, der sie erst zu Provinzlern macht, nicht so habe stöhnen hören, wie man es sich als westdeutscher Föderalist gewöhnlich vorstellt.

Die schlimmsten Leiden, die der französische Zentralismus in seiner jakobinischen Form verursacht hat, ihre Homogenisierung zu Franzosen, haben die Provinzler im 19. Jahrhundert durchgestanden. Was hat, als vergesellschaftender Faktor, die Nachfolge angetreten? Der Warenmarkt natürlich und die Medien, das weiß jeder. Als Provinzler auf Zeit muß ich aber bei den Medien ein kleines Fragezeichen setzen: Außer der Sportzeitung Equipe wird in meiner Umgebung keine der Pariser Zeitungen gelesen; die regionalen Zeitungen – Le Progrès und Le Dauphiné libéré – kommen aus Lyon und Grenoble. Das Fernsehen: seine zentralisierenden Botschaften haben Mühe, durch die Filter der Provinzgewohnheiten zu den Augen und Ohren vorzudringen. Der Fernseher läuft zwar den ganzen Abend, aber ich habe niemals erlebt, daß sich die Bauernfamilien von ihm stören ließen; die Kinder schauen nur gelegentlich von ihren Schularbeiten auf, und das Gespräch bei Tisch wird nicht einem Film zuliebe unterbrochen. Fernsehen muß sein; aber man weiß offenbar nicht recht, weshalb. Die Lokalseiten der Zeitung dagegen werden mit großem Interesse gelesen. Warum aber soll jeder seine eigene Zeitung halten? Ist der Dauphiné ausgelesen, bringen die Kinder ihn beim Nachbarn vorbei.

Der Kritiker des Konsumismus kann gelegentlich ins Schwärmen geraten, wenn er entdeckt, mit welchem Beharrungsvermögen die Provinzler sich dem Diktat des Konsums widersetzen: Auf der Müllkippe hinterm Dorf habe ich noch nie etwas gefunden, das man brauchen kann (während wir uns aus dem heimischen Sperrmüll ganze Wohnungseinrichtungen zusammensuchen). Es wird repariert, gebastelt, geflickt, was das Zeug hält; auf den Müll wandern nur die zu nichts mehr verwendbaren Reste. Recycling und Selbstversorgung wurden hier praktiziert, lange bevor daraus städtische Schlagworte wurden. Daß die Bauern unter den Provinzlern sich vor allem mit dem ernähren, was sie selbst anbauen oder im Stall fettgefüttert haben, ist ein Gebot der bäuerlichen Ökonomie, kein Zugeständnis an die antikonsumistische Ökologie.

Dennoch hätte der wütende Pasolini an diesen französischen Bauern so wenig seine reine Freude gehabt wie an den Bauern der Abruzzen: Gerade weil sie keine gelernten Konsumenten sind, können sie den Verführungstechniken nicht widerstehen, derer sich die modernen Konsumpromoter bedienen. Da sich die weite Fahrt zum nächsten Supermarkt auch lohnen muß, kehren sie zurück, den Kofferraum vollgestopft mit billigem Ramsch; weil das japanische Walkie-Talkie im Sonderangebot so preiswert war, muß es mitgenommen werden; es existiert dazu kein Äquivalent, an dem es gemessen und bewertet werden könnte; für seine Unersetzbarkeit sind die zweihundert Francs kein zu hoher Preis. Daß das Walkie-Talkie nach vierzehn Tagen nicht mehr funktioniert und außerdem seinen Zweck nie erfüllt hat, weil seine schwache Leistung nicht in den Talgrund reichte, wo der Bauer bei der Arbeit erreichbar sein wollte, merkt er zu spät.

Der Provinzler auf Zeit fühlt sich da überlegen; er würde sich den Schrott nicht andrehen lassen, den die Centres Leclerc, Carrefours und Mammouths an die Einheimischen loswerden. Er hat dann viel Zeit gebraucht, um zu begreifen, daß die Mühe der Bastelei und Selbstversorgung, die er nicht kennt, den Wunsch hervorbringen kann, einmal aus dem Reich der Notwendigkeit und der Gebrauchswerte entlassen zu werden und sich durch den simplen Tauschakt den Zutritt zum Universum der Wünsche zu verschaffen. Es hat zuerst sein Geschmacksempfinden verletzt, wenn er eine Bauernküche betrat und den alten, rauchgeschwärzten Schrank durch ein Monstrum aus Resopal ersetzt sah, mit indirekter Beleuchtung für Hochzeits- und Kommunionsporträts; irgendwann aber hat er zu ahnen begonnen, daß die gebrauchten Formen, deren Lob er mit Bert Brecht so gern singt, für ihre lebenslangen Benutzer zum Symbol der Niederlage werden können – ihre Schönheit ist auch die Kehrseite unbeweglicher Verhältnisse.

Die Auswirkungen, die der Regionalismus der siebziger Jahre in der Provinz hinterläßt, sind von einer eigenartigen Ambivalenz aufgeladen. Eine Gruppe von Jugendlichen ist mit der traditionellen Kirchweih unzufrieden und hat ein alternatives Dorffest organisiert. Statt der üblichen Tanzkapelle spielt eine Folkloregruppe mit Drehleier und Dulcimer, und das okzitanische »théâtre de la Carriera« führt ein feministisches Theaterstück auf. Für ein Wochenende haben die Jugendlichen das Dorf in ein Museum verwandelt: Auf einem Brachfeld wird mit dem Ochsengespann gepflügt, im Gemeindesaal sind landwirtschaftliche Geräte von einst ausgestellt, Handwerker führen in Kleidern von 1900 die Künste ihrer Altvorderen vor. Die Touristen sind ebenso begeistert wie der Provinzler auf Zeit; so möchte er seine Provinz gern sehen: stolz auf ihre...

Erscheint lt. Verlag 16.11.2015
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Schulbuch / Wörterbuch Lexikon / Chroniken
Technik
Schlagworte Antonin Artaud • Bericht • Essay • Essays • Frankreich • Franzosentheorie • Gestapo • Jean-Paul Sartre • Konservativismus • kpf • Languedoc • Le Monde • Louis Althusser • Louis-Ferdinand Céline • Nationalsozialismus • Okzitanien • Paris • Paul Rassinier • Robert Faurisson • Vichy • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-10-560683-1 / 3105606831
ISBN-13 978-3-10-560683-4 / 9783105606834
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 872 KB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich