Sich verschreiben (eBook)

Jean-Paul Sartre, 1939-1953
eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
206 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-560557-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Sich verschreiben -  Walter van Rossum
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Daß der Mensch ein Produkt der »Umstände« ist und dennoch verantwortliche Entscheidungen zu treffen hat, daß er die Geschichte, die ihn prägt, mit oder ohne Willen selbst hervorbringt - dieser unaufhebbare Widerspruch wurde von keinem anderen europäischen Intellektuellen mit solcher Intensität durchlebt, erlitten und reflektiert wie von Jean-Paul Sartre. 1939, als Sartre aus einer eher behaglichen Existenz gerissen und in den Krieg geschickt wurde, stellte sich ihm dieses Problem mit voller Schärfe, und es veranlaßte ihn in den folgenden Jahren zu einer besessenen, weitverzweigten Aktivität: Umfangreiche Tagebücher entstanden, Romane, Theaterstücke, Essays, das philosophische Hauptwerk ?Das Sein und das Nichts?, die großen Monographien über Baudelaire, Mallarmé, Genet; daneben betrieb er die ideologische Auseinandersetzung mit den Kommunisten, die Gründung einer Zeitschrift und einer Partei; schließlich, 1953, zog er autobiographische Bilanz: ?Die Wörter?. Mit Einfühlungskraft und analytischer Genauigkeit zeichnet Walter van Rossum nach, wie Sartre in wenig mehr als einem Jahrzehnt sämtliche Möglichkeiten einer intellektuellen Praxis auffächert und durchspielt. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Walter van Rossum (geb. 1954), freier Publizist, veröffentlichte zahlreiche Aufsätze zur französischen Philosophie und Literatur.

Walter van Rossum (geb. 1954), freier Publizist, veröffentlichte zahlreiche Aufsätze zur französischen Philosophie und Literatur.

I.Kapitel »Man muß aus Lehm sein, und ich bin aus Wind«


1. »Noch nie in meinem Leben habe ich so viel geschrieben«
Jean-Paul Sartre und der ›seltsame Krieg‹


Am 31. August 1939 beruhigt Sartre seine Freundin Louise Védrine: »Hab Vertrauen. Hitler kann unmöglich einen Krieg anzetteln bei der Einstellung der deutschen Bevölkerung. Das ist Bluff. Man geht vielleicht bis zur allgemeinen Mobilmachung, aber jetzt ist der richtige Moment, Dich an den Satz zu erinnern – der zu seiner Zeit übrigens unglücklich war: Mobilisierung heißt nicht Krieg.«[42] Zwei Tage später findet er sich im Zug nach Nancy wieder, unterwegs zu seiner Einheit, inmitten vollkommen unbekannter Kameraden, die das gleiche Schicksal mit ihm teilen: mobilisiert. Und am 3. September erklärt Frankreich dem Deutschen Reich den Krieg. Am 31. August an Louise: »Das ist keineswegs ein neues Leben, das für uns drei [Simone de Beauvoir, Louise und Sartre] beginnt, sondern zwei Monate Ärger. Du wirst sehen, wir werden dieses Jahr in Paris unser Leben haben, und wir werden Ski fahren gehen in das schöne Chalet am Mont d’Arbois.« (S. 283) Am 4. September an Simone de Beauvoir: »Tatsache ist aber, daß ich mich, seit ich weg bin, allem versperre, was mein früheres Leben ausmachte – ach, selbst dem Schreiben –, außer Ihnen.« (S. 291) So wird er es noch viele Male wiederholen, aber der Schreck vor dem nackten Riß weicht zunehmend der Zuversicht: »Hören Sie, ich bin ein bißchen losgelöst von meinem ganzen vergangenen Leben, ich ziehe jetzt auch in Betracht, daß der Krieg lange sein kann (was nicht heißen soll, daß es so sein wird) und daß ich eine veränderte Welt vorfinden werde, vielleicht mit anderen Werten und anderen Leuten […]. Ich verschließe mich also jeden Tag ein bißchen mehr, leider sogar vor meinen armen kleinen Büchern. Diejenigen, die ich geschrieben habe, habe ich vergessen, und die anderen will ich immer noch mit der selben Hartnäckigkeit schreiben – in diesem Punkt bin ich beruhigt, das ist meine Natur –, aber wer weiß, wann sie veröffentlicht werden.« (An S. de Beauvoir. Briefe I, S. 342, 2. Oktober 39)

Sehr viel später wird er diesen Riß in seiner Existenz auf eine präzise Formel bringen: »Feststeht, daß ich mir ab 1939 nicht mehr gehörte.«[43] Und in einem anderen Interview, das ebenfalls Mitte der 70er Jahre entstanden ist, bestätigt er: »Der Krieg hat mein Leben regelrecht in zwei Teile geteilt. Er brach aus, als ich vierunddreißig Jahre alt war, und endete, als ich vierzig war – das war für mich die Zeit des Übergangs von der Jugend zur Reife. Zugleich zeigte mir der Krieg gewisse Aspekte meiner selbst und der Welt. […] Dort bin ich also, wenn Sie so wollen, vom Individualismus und vom reinen Individuum der Vorkriegszeit zum Sozialen, zum Sozialismus gelangt. Das war der eigentliche Wendepunkt in meinem Leben: vor dem Krieg, nach dem Krieg.«[44] Die Briefe und die Tagebücher Sartres aus dieser Zeit, die erst nach seinem Tod veröffentlicht wurden, übersetzen diese Erinnerung in konkrete Erfahrung und geben ihr ihren prozessualen Reichtum zurück. Sartre neigte später dazu, den plötzlichen Einbruch der Geschichte und der undurchdringlichen Kollektivität des Sozialen für jene Wende in seinem Leben verantwortlich zu machen. Aber niemand – und wer hätte das besser beschrieben als gerade Sartre – wird von einer Erfahrung ergriffen, an die Wand geschleudert und sodann als Gewandelter in den Fluß des Lebens zurückgeworfen. Schließlich läßt Sartre zu, daß die Geschichte über ihn hereinbricht. Es hat soundso viele andere gegeben, für die ganze Angelegenheit tatsächlich nur eine Art verfluchter Belästigung war, ein Abenteuer oder eine Demütigung. Gerade diesen Prozeß des Zulassens dokumentieren die Tagebücher, und darüber reflektiert ihr Autor in ihnen: Wo hört die kalte und stupide Allgemeinheit der Geschichte auf? Wo fängt meine Geschichte an?

In dem postum veröffentlichten Romanfragment ›Mathieus Tagebuch‹ benutzt Sartre einen merkwürdigen Ausdruck, um seine Situation zu kennzeichnen: »Ich weiß, um ein Tagebuch führen zu können, darf man nichts tun, also nichts zu sagen haben; und ich bin in die Jahre gekommen, ohne je von mir zu schreiben. Aber dieser Fall ist ein bißchen anders: wir tun zwar nichts, aber wir sind die passiven Subjekte einer Metamorphose.«[45] Die passiven Subjekte einer Metamorphose, das heißt die Hingabe an ein offenes Feld unklarer und unbekannter Bedeutungen. Aber wenn Sartre sich dem Strudel seines von außen ergriffenen Lebens, seinem unüberschaubaren Sinn öffnet, dann hat er, ohne es ausdrücklich zu wissen, eine beunruhigende Zukunft gesucht. Nur so können wir verstehen, wieso er in relativer Gelassenheit innerhalb weniger Tage vom Skifahren in der alten Welt auf die gefährliche Schiffahrt in einer neuen Welt umschalten kann. »Mir scheint, ich bin auf dem Weg, wie die Biographen um die Seite 150 ihres Buches sagen, ›mich zu finden‹. Ich möchte damit nur sagen, daß ich nicht mehr unter Berücksichtigung gewisser Vorschriften denke (die Linke, Husserl) usw., sondern mit totaler Freiheit und Ungebundenheit, aus Neugier und reiner Uneigennützigkeit, indem ich von vorneherein bereit bin, mich als Faschist wiederzufinden, wenn das am Ende von richtigen Überlegungen steht (aber haben Sie keine Angst, ich glaube nicht, daß damit zu rechnen ist).« (An S. de Beauvoir. Briefe II, S. 22, 6. Jan. 40)

Der Krieg reißt Sartre aus einer kurzen, aber brillanten Karriere. Der Vierunddreißigjährige, der sein Brot als Gymnasiallehrer verdient, hat bereits ein beachtetes und vielfältiges Werk vorgelegt. Es dürfte schwerfallen, es einfach hinter sich zu lassen. Der Roman Der Ekel (La Nausée, 1938) machte seinen Namen mit einem Schlag bekannt. Die Erzählungen des Bandes Die Wand (Le Mur, 1939), die zum Teil vorher in der seinerzeit bedeutendsten literarischen Zeitschrift Frankreichs, in der Nouvelle Revue Française, zu lesen waren, vertieften beim literarischen Publikum den Eindruck, es hier mit einem der kommenden Schriftsteller zu tun zu haben. Auch als Philosoph hatte Sartre schon seine Gesellenstücke abgeliefert. Sein Aufsatz ›Die Transzendenz des Ego‹ (›La Transcendance de l’Ego‹) wurde in den von Jean Wahl herausgegebenen Recherches philosophiques (No. 6, 1936/37) gedruckt. 1936 erschien das Buch Die Imagination (L’Imagination), dessen zweiter und umfangreicherer Teil 1940 unter dem Titel Das Imaginäre (L’Imaginaire) folgt. Noch im Dezember 1939 erschien die ›Skizze einer Theorie der Emotionen‹ (Esquisse d’une théorie des émotions) als eigenständige Buchpublikation. In mehreren literaturkritischen Aufsätzen, die zumeist in der Nouvelle Revue Française erschienen, postulierte und analysierte Sartre den Zusammenhang von Literatur und Philosophie. In Auseinandersetzung etwa mit der neuesten amerikanischen Literatur, besonders: Faulkner, Dos Passos, Nabokow, untersuchte er die impliziten Beziehungen von Romantechnik und Metaphysik. In seiner aufsehenerregenden und scharfen Kritik an François Mauriac (1939), dem er die Haltung des allwissenden Erzählers vorwarf, formulierte Sartre seine eigenen Forderungen an den Roman.

Übrigens wird sich Sartre nie von diesen Texten lossagen; auch wenn sie ihm im Moment der drôle de guerre manchmal wie eine Last vorkommen mögen, die ihn an seine Vergangenheit fesselt. Im fahlen und schattenlosen Licht einer umbrechenden Geschichte verlieren sie in seinen Augen vorübergehend ihre Konturen. Ihnen fehlt, die konkrete Geschichte bewältigen zu können.

Die konkrete Geschichte? »Ich habe es [in den Krieg ziehen zu müssen] nicht gewählt, aber ich mußte in irgendeiner Weise reagieren. Jeder hat gewählt – von dem Moment an, in dem er den Fuß in den Zug gesetzt hat –, wie er diesen Krieg erleben würde.«[46] Sartre nutzt den auferlegten Bruch zu einem scharfen, schönen Schnitt. Der Krieg, der ihn überrascht, erlaubt ihm, das träge Arrangement, das er – und mit ihm die französische Gesellschaft – lebt, zu kündigen. Nicht verwunderlich deshalb die Einsicht, »daß es sich im Krieg viel leichter anständig und authentisch leben läßt als im Frieden«. (Tagebücher S. 287, 16. Febr. 40.) Die alten, ungeliebten Kommoditäten der Skepsis liegen hinter ihm, aber die neue Entschlossenheit stößt bald auf Watte. Der Krieg dümpelt in Wartehaltung vor sich hin. Erst am 14. Mai werden deutsche Truppen die französische Grenze überschreiten. Mehr als acht Monate lang schweigen die Waffen. Übrig bleibt die Gespanntheit: Jeden Moment kann es losgehen. Aber nichts geschieht. Der Sog der Tat verrauscht schon fast im gleichen Moment, da die Tat sich zum ersten Male im Leben dieses Schriftstellers schier unabweisbar aufdrängt. Umgeben vom Aufschub jener Katastrophe, die die Welt in Brand setzt, fragt sich Sartre nach der menschlichen...

Erscheint lt. Verlag 16.11.2015
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Schulbuch / Wörterbuch Lexikon / Chroniken
Technik
Schlagworte Biographie • Brice Parain • Charles Baudelaire • Françis Ponge • Frankreich • Georges Bataille • intellektuell • Jean-Paul Sartre • Kalter Krieg • kpf • Les Temps modernes • Maurice Blanchot • Paris • Philosophie • Strukturalismus • UdSSR • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-10-560557-6 / 3105605576
ISBN-13 978-3-10-560557-8 / 9783105605578
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