Masse Mensch (eBook)
112 Seiten
Reclam Verlag
978-3-15-960847-1 (ISBN)
Ernst Toller (1.12.1893 Samotschin bei Bromberg [Posen] - 22.5.1939 New York) genoss als Protagonist des literarischen Expressionismus große Bekanntheit in der Weimarer Republik. Erste Erfolge feierte er mit dem Stationendrama Die Wandlung, das im Kern die Entwicklung zum ?ºNeuen Menschen?¹ nachvollzieht. Als Politiker engagierte er sich in einer pazifistischen Bewegung und wirkte an der gescheiterten Bayerischen Räterepublik im Jahre 1919 mit, nach deren Sturz er fünf Jahre Gefängnishaft verbüßte. Diese Zeit sollte seine literarisch produktivste werden. Sein Anliegen, dass Revolution ohne Blutvergießen stattfinden muss, wird in seinem bekanntesten Werk Masse Mensch zum Ausdruck gebracht. Daneben entstehen mit Die Maschinenstürmer, Der Deutsche Hinkemann und Der entfesselte Wotan drei weitere Dramen in Gefangenschaft. Von den Nationalsozialisten ins Exil getrieben, nahm er sich 1939 in New York das Leben.
Ernst Toller (1.12.1893 Samotschin bei Bromberg [Posen] – 22.5.1939 New York) genoss als Protagonist des literarischen Expressionismus große Bekanntheit in der Weimarer Republik. Erste Erfolge feierte er mit dem Stationendrama Die Wandlung, das im Kern die Entwicklung zum €ºNeuen Menschen€¹ nachvollzieht. Als Politiker engagierte er sich in einer pazifistischen Bewegung und wirkte an der gescheiterten Bayerischen Räterepublik im Jahre 1919 mit, nach deren Sturz er fünf Jahre Gefängnishaft verbüßte. Diese Zeit sollte seine literarisch produktivste werden. Sein Anliegen, dass Revolution ohne Blutvergießen stattfinden muss, wird in seinem bekanntesten Werk Masse Mensch zum Ausdruck gebracht. Daneben entstehen mit Die Maschinenstürmer, Der Deutsche Hinkemann und Der entfesselte Wotan drei weitere Dramen in Gefangenschaft. Von den Nationalsozialisten ins Exil getrieben, nahm er sich 1939 in New York das Leben.
Masse-Mensch
Anhang
1. Zur Textgestalt
2. Anmerkungen
3. Leben und Werk
4. Zeithorizont
5. Literarischer Kontext und Selbstaussagen Tollers
5.1 Expressionismus
5.2 Zum expressionistischen Stationen- und Verkündigungsdrama
5.3 Zum expressionistischen Sprachstil
6. Deutungsansätze
7. Literaturhinweise
[11]Erstes Bild
Angedeutet:
Hinterzimmer einer Arbeiterschenke.
In der Mitte ein klotziger Tisch, um den eine Frau und die Arbeiter sitzen.
ERSTER ARBEITER Flugblätter sind verteilt,
Im großen Saal Zusammenkunft. –
Frühzeitig schließen morgen die Fabriken.
Die Massen gären.
Morgen wird Entscheidung.
Bist du bereit, Genossin?
DIE FRAU Ich bins.
Mit jedem Atem wächst mir Kraft –
Wie sehnt ich diese Stunde,
Da Herzblut Wort und Wort zur Tat wird.
Lähmung befiel mich oft – zusammen krallt ich
Meine Hände vor Zorn und Scham und Qual.
Gröhlen die verruchten Blätter Sieg –
Packen Millionen Fäuste mich ....
Und gellen: Du bist schuldig, daß wir sterben!
Ja, jedes Pferd, deß Flanken zitternd schäumen,
Klagt stumm mich an – klagt an. –
Daß morgen ich Fanfare jüngsten Tages gellte,
Da mein Gewissen brandet in den Saal –
Bin ich es noch, die Streik verkünden wird?
Mensch ruft Streik, Natur ruft Streik!
Mir ists, als bellts der Hund, der an mir aufspringt,
Betrete ich mein Haus …
Als gischtet Streik der Strom!
Mein Wissen ist so stark. Die Massen
Auferstanden frei vom Paragraphenband
Der feisten Herrn am grünen Tisch,
[12]Armeen der Menschheit werden sie mit wuchtender Gebärde
Das Friedenswerk zum unsichtbaren Dome türmen.
Die rote Fahne, … Fahne des Anbruchs,
Wer trägt sie voran?
ZWEITER ARBEITER Du! Dir folgen sie.
Stille flackert.
DIE FRAU Daß nur die Mittler schweigen!
Du glaubst, die Polizei ist ohne Kunde?
Wenn Militär den Saal mit Ketten fesselt?
ERSTER ARBEITER Die Polizei ist ohne Kunde. Und wenn sies weiß,
So weiß sie nicht den wahren Zweck. –
Umfängt die Massen erst der Saal,
Sind sie gewaltige Flut, die keine Polizei
Zu Parkfontänen ruhig plätschernd formt.
Und dann: die Polizei wagt nicht mehr vollen Einsatz,
Zersetzung fraß den Rausch des Machtgefühls
Die Regimenter aber stehn zu uns –
Soldatenräte überall!
Morgen wird Entscheidung, Genossin.
Es klopft.
ERSTER ARBEITER Verraten!
ZWEITER ARBEITER Sie dürfen dich nicht fangen.
ERSTER ARBEITER Nur eine Tür.
ZWEITER ARBEITER Durchs Fenster!
ERSTER ARBEITER Das Fenster stürzt in einen Lichtschacht.
DIE FRAU So nah dem Kampf …
Es klopft stärker. Die Tür öffnet sich. Der Mann, Mantelkragen hoch aufgeschlagen, kommt hinein, blickt sich schnell um, hebt den Hut aus steifem Filz.
DIE FRAU Ein … Freund und nichts zu fürchten …
Du kommst zu mir,
Du findest mich.
DER MANN Ich wünsche guten Abend.
[13]Leise.
Ich bitte mich nicht vorzustellen.
Kann ich dich sprechen?
DIE FRAU Genossen …
DIE ARBEITER Gute Nacht.
Auf Morgen.
DIE FRAU Gute Nacht, auf Morgen.
DER MANN Klar wird dir sein,
Ich komm nicht her als Helfer.
DIE FRAU Verzeih den Traum der blühenden Sekunden.
DER MANN Bedrohte Ehre zwang den Schritt hierher.
DIE FRAU Bin ich der Anlaß? Seltsam.
Ists Ehre bürgerlichen Standes?
Ward abgestimmt? Droht Mehrheit
Dich aus ihren Reihen auszuschließen?
DER MANN Ich bitte, laß das Scherzen.
Die Rücksichtnahme, die dir fremd, ist mir Gebot.
Für mich besteht die sachlich strenge Ehrensatzung …
DIE FRAU Die euch zu Formeln prägt.
DER MANN Die Unterordnung, Selbstzucht heischt …
Du nimmst nicht teil an meinen Worten …
DIE FRAU Ich sehe deine Augen.
DER MANN Verwirr mich nicht.
DIE FRAU Du … du …
DER MANN Um kurz zu sein,
Ich setze Riegel vor dein Wirken.
DIE FRAU Du …
DER MANN Drang nach sozialer Tätigkeit
Kann auch Befriedigung in unserm Kreise finden.
Ich nenne: Heim unehelich geborner Kinder.
Gedanke liegt dem Arbeitsfeld zugrunde,
Der Zeuge ist für die Kultur, von dir verspottet.
Selbst deine sogenannten Arbeitergenossen
Verachten Mütter ohne Ehe.
DIE FRAU Nur weiter … weiter …
DER MANN Du bist nicht frei in deinem Handeln.
[14]DIE FRAU Ich bin frei …
DER MANN Annehmen darf ich ein gewisses Maß von Rücksicht,
Wenn nicht von deiner Einsicht, so von deinem Takt.
DIE FRAU Ich kenne Rücksicht nur aufs Werk,
Dem diene ich, dem, hörst du, muß ich dienen.
DER MANN Zergliedern will ich:
Wunsch nach äußerer Tätigkeit bestimmt dein Tun –
Wunsch, geboren aus verschiedenen Motiven.
Es liegt mir der Gedanke fern,
Daß diese Wünsche unedler Natur.
DIE FRAU Wie du mir wehe tust mit jedem Wort …
Kennst du die Bilder der Madonnen
Durchbohrt von Schwertern blutet Herz in dunklen Tränen.
Ihr häßlichen, ihr rührend frommen Drucke …
So einfältig und groß …
Du … Du …
Sprachst du von Wünschen?
Ich weiß … Schlucht gräbt sich zwischen uns …
Nicht Wunsch hat mein Geschick gewendet,
Not wars … Not aus Menschsein,
Not aus meiner tiefsten Fülle.
Not wendet, höre, Not wendet!
Nicht Laune, Spiel der Langeweile,
Not aus Menschsein wendet.
DER MANN Not? Hast du ein Recht
Von Not zu sprechen?
DIE FRAU Mann … du … laß mich …
Nun halt ich deinen Kopf …
Nun küß ich deine Augen …
Du …
Sprich nicht weiter …
DER MANN Fern liegt mir dich zu quälen …
Der Ort … Man kann uns nicht belauschen?
[15]DIE FRAU Und hört uns ein Genosse,
Sie haben Taktgefühl auch ohne Ehrensatzung.
Oh, wenn du sie verstündest, Hauch nur spürtest ihrer Not.
Not … die unsre ist … sein muß!
Erniedrigt habt ihr sie …
Erniedrigend euch selbst geschändet,
Zu eignen Henkern wurdet ihr …
Sperr das Mitleid deiner Augen!
Ich bin nicht nervenkrank,
Bin nicht sentimental.
Weil ichs nicht bin, gehöre ich zu ihnen.
O eure jämmerlichen Stunden für soziales Tun bestimmt,
Beschwichtigung aus Eitelkeit und Schwäche.
Kameraden sind, die schämen sich für euch,
Wenn sie nicht … hell auflachen …
Siehst du, wie ich jetzt lache.
DER MANN So magst du alle Wahrheit wissen.
Man weiß … Behörde weiß von dir.
Ich leistete den Staatseid … Frau.
Der Referent für Personalia ist unterrichtet,
Fortkommen im Beruf wär ausgeschlossen.
DIE FRAU Und …?
DER MANN Ich sag dir rücksichtslos,
Ich zieh die Konsequenzen,
Die … sei versichert,
Auch mein Gefühl berühren würden …
Zumal du neben dem Beruf des Gatten
Das Staatswohl schädigst …
Du unterstützt den innren Feind.
Damit ist Scheidungs-Tatbestand gegeben.
DIE FRAU Dann freilich … wenn ich dich schädige,
Dir im Wege hemmend stehe …
DER MANN Noch wäre Zeit.
DIE FRAU Dann freilich …
[16]Dann … bin ich bereit …
Ich trag die Schuld …
Hab keine Angst, Prozeß wird dich nicht schädigen
Du …
Du … meine Arme weiten sich dir
In großer Not.
Du, mein Blut blüht dir …
Sieh, ich werde welkes Blatt ohne dich.
Du bist der Tau, der mich entfaltet.
Du bist der Sturm, deß märzne Kraft
Brandfackeln wirft in dürstendes Geäder …
Nächte waren, Rufe schwellender Knaben,
Die sich bäumen in ihres Blutes Reife …
Trag mich fort, in Wiesen, Park, Alleen,
Demütig will ich deine Augen küssen …
Ich glaube, ich werde schwach sein
Ohne dich … grenzenlos …
Verzeih, ich wars nur eben.
Ich sehe klar die Lage, gerechtfertigt dein Tun.
Denn siehe, morgen steh ich vor den Massen –
Morgen spreche ich zu...
Erscheint lt. Verlag | 11.11.2015 |
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Reihe/Serie | Reclam XL – Text und Kontext |
Verlagsort | Ditzingen |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur |
Schulbuch / Wörterbuch ► Lektüren / Interpretationen ► Deutsch | |
Geisteswissenschaften ► Sprach- / Literaturwissenschaft ► Literaturwissenschaft | |
Schlagworte | 20. Jahrhundert • Deutschunterricht • Drama • Klassiker • Klassikerlektüre • Literaturunterricht • Reclam XL • Schule • Schullektüre • Sekundarstufe • Text und Kommentar • Text und Kontext • Unterricht • Weimarer Republik |
ISBN-10 | 3-15-960847-6 / 3159608476 |
ISBN-13 | 978-3-15-960847-1 / 9783159608471 |
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
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