Vom Schmetterling zur Doppelaxt (eBook)

Die Umwertung von Weiblichkeit in unserer Kultur
eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
112 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-560352-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Vom Schmetterling zur Doppelaxt -  Gisela Bleibtreu-Ehrenberg
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Die Ethnologin und Soziologin Gisela Bleibtreu-Ehrenberg analysiert in dieser Untersuchung allgemeinverständlich die Ausformung der sexuellen, sozialen, wirtschaftlichen und kultischen Rolle der Frau im europäischen Kulturkreis. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Fernschreiberin, Telefonistin, Abitur über den 2. Bildungsweg, Studium der Ethnologie und Soziologie, Religionswissenschaft und Psychologie in Bonn (Dr. phil., M. A.), nach längerer Tätigkeit in politischen Organisationen, Pressearbeit und in der Begabtenförderung Publikationen zu völkerkundlichen und sexualwissenschaftlichen Themen. Mitarbeit an ethnologischen, sexualwissenschaftlichen und feministischen Lexika und zahlreichen Readern.

Fernschreiberin, Telefonistin, Abitur über den 2. Bildungsweg, Studium der Ethnologie und Soziologie, Religionswissenschaft und Psychologie in Bonn (Dr. phil., M. A.), nach längerer Tätigkeit in politischen Organisationen, Pressearbeit und in der Begabtenförderung Publikationen zu völkerkundlichen und sexualwissenschaftlichen Themen. Mitarbeit an ethnologischen, sexualwissenschaftlichen und feministischen Lexika und zahlreichen Readern.

II. Die Puppe in der Puppe


In Ethnologie und Volkskunde kennt man den Begriff des ›abgesunkenen Kulturgutes‹. Damit sind Gegenstände, Bruchstücke von gebundener Rede oder Beschäftigungen gemeint, die heutzutage oder in der jüngeren Vergangenheit bloß noch entweder als schierer Aberglaube oder aber – und häufiger – im Kinderspiel erhalten geblieben sind. Als Beispiele seien genannt: Das ehedem oft kultische Ballspiel, das mit Hilfe von komplizierten Wurfarten als Orakel diente, das ›Himmel-Hölle‹-Hüpfspiel oder viele der fast sinnlos klingenden Abzählreime, die vor zweitausend Jahren etwa Zaubersprüche oder Ritualtexte gewesen sind. Und im uns hier interessierenden Fall tritt nun die russische ›Puppe in der Puppe‹ ins Bild, auch Matka oder Babuschka genannt. Sie gilt als um so echter und schöner, je mehr Püppchen im ›Bauch‹ der äußeren Holzpuppe verborgen sind, und sofern es sich um eine originale Matka handelt, besitzt die innerste und kleinste Puppe die Gestalt eines Wickelkindes, eines Babys. Unsere geschnitzte Matka repräsentiert nämlich, zum Kinderspielzeug abgesunken und in ihrer ursprünglichen Bedeutung nur noch von Fachleuten verstanden, jene steinzeitliche ›Allmutter‹, von der vorhin die Rede gewesen ist, und darum wurde sie für diesen Abschnitt als Titelfigur gewählt.

Die Allmutter ist, modern ausgedrückt, das Prinzip des Prokreativen. Für die Menschen der Frühzeit war sie aber nicht nur ›Prinzip‹ überhaupt, was ja soviel wie ›Anfang‹ heißt, sondern galt als leibhaftig vorhanden und allüberall anwesend: Sie war ja die Erde selbst im ganz gegenständlichen Sinne. Höhlen waren ihre Geburtsöffnungen und überhängende Felsspitzen ihre Klitoris, Flüsse ihre Adern, Berge – auf denen im Idealfall eine Quelle entsprang – ihre Brüste. All dies hat sich in unserer noch heute bekannten, wunderbar schlichten Wortwendung von ›Mutter Erde‹ erhalten.

Mutter Erde hat die Menschen hervorgebracht; erscheint sie ihnen in Menschengestalt, dann tut sie das natürlich als Frau. Und jede einzelne Menschenfrau ist als Abbild des göttlich Prokreativen nicht bloß Symbol der Göttin, sondern ein Teil von Mutter Erde selbst. Dasselbe gilt für Tiere, deren Mütter darum artspezifisch tiergestaltig vorgestellt werden. Es gibt die Rentiermutter, die Mutter der Wildziegen, der Seetiere usw. Natürlich gibt es auch Vogelmütter. Noch im rezenten Schamanismus ist die ›Schamanenmutter‹ vogelgestaltig und brütet die Schmanenanwärter in Nestern aus, die auf den Zweigen des Weltbaumes sitzen.

Das Rot des Blutes gilt als heilige Farbe. Man gewinnt seine ›Substanz‹ aus einer Erdart, dem roten Ocker, womit Wände bemalt, Gebrauchs- und Kultgegenstände verziert und Kranke zur Heilung eingerieben werden. Auch für die Toten ist es hochwichtig, denn als Geburts- und Menstruationsblut verstanden, wird es den Verstorbenen dazu verhelfen, im Erdinneren zu neuer Geburt durch eine Menschenfrau zu reifen. Oft wurden Leichen ausgesetzt, damit Wetter und Tierfraß den Zersetzungsprozeß beschleunigten; anschließend bestattete man die mit Ocker bestreuten Gebeine, um die Wiederkunft des Betreffenden zu erleichtern. ›Skelettmagie‹ heißt dieser Brauch in der Völkerkunde, aber in Wahrheit handelte es sich um ein vorwissenschaftliches Erklärungsmuster für den Glauben an stetes Werden und Vergehen, d.h. um Religion. Bräuche um Knochen von Wildtieren oder Fischen haben sich in jägerischen Ethnien bis zur Gegenwart erhalten, sie sollen nach übereinstimmenden Erklärungen der betreffenden Stämme dazu dienen, »daß die Tiere immer viel bleiben«.

Schon früh muß sich in Eurasien die Vorstellung gebildet haben, daß alle Lebewesen eine Seele haben, d.h. eine Wesensessenz, bei deren Verlust Lebensgefahr droht. Sie ist mit dem sichtbaren, sterblichen Körper verbunden, aber nicht identisch. Übrigens kennen keineswegs alle Völker der Welt eine nachtodliche Zwei- oder Mehrteilung von Leib und Seele; bei vielen glaubt man statt dessen an eine gespenstische Weiterexistenz des verwesenden Körpers als ›lebender Leichnam‹. Die Frühmenschen in den Breiten unserer Heimat glaubten daran, daß durch Konsekration des Skeletts im Leib von Mutter Erde Menschenfrauen zum leiblichen Wiedergebären neuer Menschen befähigt seien. Mit anderen Worten: Der Leib ist sterblich, die Seele stirbt niemals. Die Seelen der Neugeborenen oder genauer: Wiedergeborenen steigen aus Gewässern empor, die deshalb in die Obhut weiblicher Mächte gestellt sind. Die Allmutter besitzt selbstredend viele weibliche Emanationen, die alle sie selbst, aber jeweils für verschiedene Aufgaben verantwortlich sind. Weibliche Genien mit Vogelköpfen bringen die Seelen der Kinder zu ihren späteren Müttern, in deren Leib sie eingehen und von denen sie mit ihrem neuerstehenden materiellen Leib umkleidet werden. Denn auch unser Storch aus Kindertagen, der die Babys mit seinem langen Schnabel aus einem Teich fischt und zu der ausersehenen Mutter bringt, gehört zum Bereich des erwähnten abgesunkenen Kulturguts. Weibliche Gottheiten erscheinen den Gläubigen – übrigens bis heute! – vorzugsweise in Grotten, Höhlen und an Quellen, und ihr Kult oblag selbstverständlich Frauen. Manchmal traten weiblichen Kulten angeblich ›geschlechtsgewandelte‹ Männer bei, um am religiösen Leben teilzuhaben. Daß der Totenkult weibliche Domäne war, versteht sich im Licht einer solchen Jenseitsvorstellung von selbst.

Welch hohe Bedeutung die Frau in Religion und sozialem Leben der Steinzeit gehabt hat, erweist sich an den inzwischen massenhaft gefundenen Frauenfiguren und -figürchen jener Epoche, denen bloß eine Handvoll eindeutig männlicher gegenübersteht. Die Forschung hat sich um das Faktum dieser zahlenmäßigen Relation bisher zumeist mit ausgesprochen als Verlegenheitserklärungen anzusehenden Deutungen herumgedrückt. Frau braucht nicht lange, um sich auszumalen, welche Schlüsse die Gelehrtenwelt wohl gezogen haben würde, sofern es sich bei den steinzeitlichen Menschenbildnissen mehrheitlich um solche von Männern gehandelt haben würde … Bei moderneren Autoren beginnt diese Fehlsicht jedoch langsam einer objektiveren Interpretation im oben dargelegten Sinne zu weichen.

Das ganze Denkmuster, das hier nur extrem knapp umrissen wird, gibt im Grunde keinen Hinweis darauf, daß die betreffenden Menschen die Zusammenhänge zwischen Zeugung und Geburt gekannt hätten. Das ist auch gar nicht so eigenartig, wie es heutzutage für viele klingen mag: Es erfolgt ja beileibe nicht auf jede Kopulation eine Konzeption. Manche Frauen, die häufig Sex haben und deshalb oft schwanger werden müßten, kriegen überhaupt keine Kinder, obwohl sie sich sehnsüchtig welche wünschen. Andere treffen bloß alle Jahre mal mit einem Mann zusammen und sind dennoch sozusagen dauernd schwanger. Hier von einem doch eigentlich augenfälligen Ursache-Wirkungs-Feld zu sprechen, würde von dem an sich großen Beobachtungsvermögen der frühen Menschheit einfach etwas damals nicht zu Leistendes verlangen: Nämlich ein präzises Wissen um Naturvorgänge, das uns selbst erst vor knapp zweihundert Jahren zuzuwachsen begann. Denn erst von da ab konnten wir mit Hilfe des Mikroskops das bisher dem natürlichen Sehvermögen des menschlichen Auges verborgene Naturgeschehen als nunmehr empirisch wahrzunehmenden Befund sichtbar machen und analysieren. Dies Faktum pflegt, wenn man davon berichtet, auf ungläubiges Staunen zu stoßen; die meisten denken, die Zusammenhänge zwischen Zeugung und Geburt seien seit eh und je bekannt gewesen.

Wenn aber Mutter Erde als Frau (und als solche in jeder Menschenfrau präsent, ebenso wie jede Menschenfrau Teil von Mutter Erde ist samt all deren übermännlichen Kräften) die Aufgabe der Prokreation neuen Lebens aus sich selbst heraus und ohne männliche Mitwirkung vollbringt, dann liegt es an diesem Punkt natürlich nahe, zu fragen, wie in einer so weiblich ausgerichteten Kultur denn die Stellung der Männer war.

Um es vorwegzunehmen: Jene dargelegte ›kultische Dominanz‹ der Frau ist kein Matriarchat oder Feminat gewesen; zu der Sozialstruktur, die wir heute ›Patriarchat‹ nennen, hat es niemals ein weibliches Pendant gegeben. In dieser Studie wird darauf verzichtet, die vielen wissenschaftlich-ideologischen Irrtümer und gewaltsamen Fehldeutungen ethnologischer und archäologischer Befunde abzuhandeln, die zur ›Entdeckung‹ (besser wäre: Erfindung) eines ›Matriarchats‹ geführt haben. Gegeben hat es aber anderes, das die männliche Forschung bislang leider zumeist sträflich vernachlässigt hat, und dies zu analysieren scheint fruchtbarer. Denn die Diskussionen um ein fiktives vorzeitliches ›Matriarchat‹ sind ja nicht Resultate wissenschaftlicher Überlegungen gewesen, sondern Begriffsmanifestationen des Geschlechterkampfes, wie er sich der feinen Gesellschaft des vorigen Jahrhunderts und der Jahrhundertwende vom rein männlichen Standpunkt aus darstellte: Überall ist man befangen, weil man überall Partei ist. Nichtsdestoweniger sind einige der Befunde, worauf die alten Ethnologen und Soziologen (und Sozialisten) ihre falschen weltumspannenden Theoreme aufbauten, tatsächlich wahr und in der Realität bei einigen Naturvölkern heute noch vorfindbar, nur müssen sie besser gedeutet werden als vordem, nämlich objektiver. Und insofern sollte eher von maternalen denn von matriarchalen Kulturelementen gesprochen werden, wenn man solch kulturell-soziale Zusammenhänge unter globalem Aspekt anspricht. ›Matrifokal‹, wie jüngst vorgeschlagen, ist im Grunde auch bloß ein Behelf, weil eben bei all den in Rede stehenden Kulturen keineswegs allein das Mütterliche im Vordergrund steht, sondern in generalisierender Weise das...

Erscheint lt. Verlag 15.6.2015
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Schulbuch / Wörterbuch Lexikon / Chroniken
Technik
Schlagworte Antifeminismus • Balkan • Christentum • Doppelaxt • Hexeninquisition • Hirtenkrieger • Indien • Megalithkultur • Rom • Sachbuch • Säkularisation • Sekte • Thomas von Aquin • Überlagerung • Welterklärungsmuster • Weltmutter • Weltmutterglaube • Zoroaster
ISBN-10 3-10-560352-2 / 3105603522
ISBN-13 978-3-10-560352-9 / 9783105603529
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