Die Gesellschaft der Aufklärer (eBook)
208 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-560344-4 (ISBN)
Richard van Dülmen (1937-2004) war Professor für die Geschichte der frühen Neuzeit an der Universität Saarbrücken. Besonders hervorgetreten ist er durch seine Arbeiten zur Alltags- und Kulturgeschichte.
Richard van Dülmen (1937–2004) war Professor für die Geschichte der frühen Neuzeit an der Universität Saarbrücken. Besonders hervorgetreten ist er durch seine Arbeiten zur Alltags- und Kulturgeschichte.
I. Aufklärung und traditionale Gesellschaft im 18. Jahrhundert
Die Aufklärung entfaltete sich in Deutschland unter den Bedingungen einer noch weitgehend ständisch strukturierten Gesellschaft.[9] Bei allen egalisierenden Tendenzen, die der Absolutismus freisetzte, zeigten die staatlichen Systeme des 18. Jahrhunderts insgesamt noch kein Interesse an einer grundlegenden Änderung der Gesellschaftsordnung, auch hatten sozioökonomische Prozesse diese noch nicht wesentlich gefährdet.
Der höchst privilegierte Stand war nach wie vor der Adel, dem Macht und Herrschaft vorbehalten waren, das ständische Bürgertum betätigte sich monopolhaft in Handwerk und Handel, während der Bauernstand ohne politische Rechte blieb und die notwendige Nahrung für die Bevölkerung produzieren mußte. Daß es dennoch in diesem Rahmen zu einer gesellschaftlichen Erosion kam, eine neue soziale Klasse sich herausbildete, die die ständischen Schranken durchbrach, gründete weniger in der Expansion einer Handelsbourgeoisie als vielmehr in dem steigenden Bedarf des absolutistischen Staates an ausgebildeten Verwaltungskräften, die die ›ökonomische‹ Effektivität und das Bildungskapital des Staates steigern sollten und dabei zu den treibenden Kräften einer Reform von Staat und Gesellschaft wurden. Die neuen Funktionseliten anderer Sozialbereiche (Kirche, Handel, Militär) schlossen sich erst später an. Im Dienste am Staat, im Versuch, ihm eine neue rationale Grundlage zu geben, etablierte sich eine neue soziale Klasse, die sich später zu einem ›neuen Bürgertum‹ formierte, nämlich dem gebildeten Mittelstand, der, sosehr seine Mitglieder jeweils noch lange in die traditionale ständische Gesellschaft lebensweltlich eingebunden blieben, doch mit seinem Reformwillen ein neues Bewußtsein schuf, das sich nicht mehr an der ständischen Ehre und Tradition orientierte, sondern auf Nutzen, Moral und Vernunft baute. Im Maße, wie diese Eliten eine akademische Ausbildung zunehmend nachweisen mußten, verstärkte sich dieser Trend.
In diesen Kreisen entwickelte sich eine gelehrt-aufklärerische Kultur mit einem hohen Moralanspruch, die zwar noch lange den Charakter einer privaten Angelegenheit an sich hatte, aber dann doch rasch an die Öffentlichkeit trat und ein soziales Handeln erzwang, das politisch und sozial die Basis der traditionellen Gesellschaftsordnung erstmals in Frage stellte.
Obwohl der Prozeß der Aufklärung seit dem frühen 18. Jahrhundert – zwar mit Brüchen und Sprüngen – unaufhaltsam fortschritt, getragen zunächst von einer kleinen Gelehrtenschicht, dann von Kreisen von Männern des öffentlichen Lebens, bis gegen Ende tendenziell alle Gebildeten der Gesellschaft erfaßt waren, so prägte ihn doch, behält man die Gesamtgesellschaft des 18. Jahrhunderts, also die bäuerliche, städtische und adelige Welt im Blick, letztlich nur eine Minderheit der Bevölkerung. Nur eine Minderheit suchte jenseits traditioneller Welten eine neue Identität, und dies zunächst auch, ohne für sich und andere soziale Konsequenzen zu ziehen. ›Revolutionäre‹ Gruppen blieben letztlich von marginaler Bedeutung.
Die eigentlichen gesellschaftlichen Mittelpunkte und entscheidenden Machtfaktoren blieben bis weit ins 18. Jahrhundert hinein noch immer der fürstliche Hof, die Kirche, die Stände und das Haus. Sie bildeten die Lebensräume, in denen die meisten Menschen noch aufwuchsen und von denen sie fast ausschließlich geprägt waren. Auch die meisten Aufklärer kamen aus diesen Welten.
Der Hof blieb bis zum Ende des 18. Jahrhunderts die zentrale Machtstelle, zu der letztlich nur der Adel Zugang hatte, wenn auch durch die im 18. Jahrhundert beginnende Trennung von Hof und Verwaltung die Bürokratie sich nicht nur institutionell, sondern auch sozial zusehends außerhalb des engeren Hofes etablierte und eine Domäne bürgerlicher Beamter wurde. Der Hof bildete eine abgeschlossene und abgehobene Welt mit eigener Kultur – zumeist verborgen in den zahlreichen Schlössern, deren Glanz allen Menschen, auch den Beamten, ihre Ausgeschlossenheit von der hohen Welt dokumentierte. Hier pflegte der Adel eine höfische Geselligkeit mit verfeinerten Sitten und Moden und von relativ freizügigem und weltlichem Lebensduktus. Der Adel definierte sich über herrschaftliche Repräsentation. Er wahrte Distanz zum Bürgertum und orientierte sich auf den Fürsten. Der höfische Adel war hoch privilegiert, lebte entweder von eigenen Gütern oder hatte einträgliche Staatsämter inne. Das Hofleben hatte zu Ende des Jahrhunderts zwar nicht mehr die gesellschaftliche Dominanz wie zu Anfang des Jahrhunderts, stellte aber immer noch den zentralen Bezugspunkt der Gesellschaft dar. Deswegen strebten viele aufklärerische Literaten nicht nur eine höfisch-staatliche Stellung an, sondern auch den Adelstitel, nicht nur um ein gesichertes Leben führen zu können, sondern um die angestrebte soziale Anerkennung zu finden und um – dies eine dritte wichtige Motivation – im Sinne ihrer Reformanliegen stärker wirksam werden zu können. Der aufgeklärte Absolutismus hatte viele bürgerliche Akademiker und Intellektuelle angezogen. Das führte einerseits zu einer Auflockerung der Adelswelt, andererseits zu sozialen Spannungen zwischen Adel und Bürgerlichen, die auch dadurch nicht aufgehoben wurden, daß der Adel sich der neuen Literatur und Philosophie zuwandte, seine traditionelle Verachtung des Staatsdienstes aufgab und sogar vereint mit Bürgerlichen den Staat reformieren wollte. Die höfisch-staatliche Welt bildete jedenfalls den entscheidenden Hintergrund vieler Aufklärer. Die Probleme, die sich aus der Vereinigung von Hofleben und aufklärerisch-bürgerlicher Existenz ergaben, wurden deutlich sichtbar etwa im Lebenswerk Adolph von Knigges, eines führenden Propagators des Sozietätswesens.
Eine eigene Welt für sich bildete die Kirche. Obwohl sie in der Auseinandersetzung mit dem Staat an Macht und Selbständigkeit eingebüßt hatte, war ihre Stellung sozial wie kulturell bis weit ins 18. Jahrhundert hinein unangefochten, das gilt für alle Konfessionen. In ihr hatten allein theologisch ausgebildete Kleriker das Wort, Laieneinflüsse waren gering. Das auch staatlich sanktionierte Glaubensmonopol grenzte immer noch alle alternativen Auslegungen aus. Sich kritisch gegen die Kirche zu stellen, hatte nicht zuletzt im Hinblick auf die Karriere noch lange harte Folgen, so wenig obrigkeitliche Kräfte von sich aus ein Interesse zeigten, weltliche Gewalt gegen Häretiker einzusetzen. Aber nicht nur durch das Glaubensmonopol reglementierten die Kirchen die Weltanschauungen und Glaubensvorstellungen der Menschen, weitgehend geprägt von der Kirche waren auch die öffentliche Moral und das Ausbildungswesen. Sowohl im Volksschul- wie Gymnasial- und Universitätswesen besaßen die Kirchen unbeschränkte Einflußmöglichkeiten, nicht weil sie hier autonome Verfügungsrechte besaßen, sondern in erster Linie, weil sie ›staatliche‹ Aufgaben erfüllten. Erst im letzten Drittel des Jahrhunderts wurden diese Monopole angegriffen, was nicht heißt, daß sie von allen Aufklärern prinzipiell in Frage gestellt wurden. Gegen eine aufgeklärte Kirche hatte keiner etwas einzuwenden. Denn obwohl die Führungspositionen in den Kirchen zumeist adeligen oder ehrbar-bürgerlichen Ständen vorbehalten blieben, war die Kirche nach unten sozial offen, was heißt, daß im 18. Jahrhundert über untere Ämter erstmals stärker kleinbürgerliche Schichten aufrücken konnten. Für viele Aufklärer bot ja nach wie vor die Kirche, ähnlich wie die staatliche Verwaltung, nicht nur materielle Versorgung, sondern eröffnete auch Wirkungschancen. Die Zahl der Geistlichen unter den Gelehrten und Aufklärern war nicht gering; weil sich hier außerhalb des Staatsdienstes intellektuelle Bedürfnisse am stärksten verwirklichen ließen, waren kirchliche Stellen trotz starker Reglementierung recht begehrt. Ähnlich wie der Hof konnte die Kirche manche aufklärerischen Ideen rezipieren. Eine Grenze wurde allerdings auch hier später offenkundig. Das aufklärerische Engagement von Karl Friedrich Bahrdt spiegelt exemplarisch diesen Tatbestand.
Eine weitere in sich geschlossene Welt, in die die Menschen des 18. Jahrhunderts noch weitgehend eingebunden waren, von der jedenfalls auch viele Aufklärer geprägt waren, bildeten die Stände. Auch sie hatten an politischer Macht zwar eingebüßt, aber sozial waren sie noch voll präsent. Der einzelne konnte seinen Stand nicht wählen, er wurde in ihn hineingeboren: sein Leben war dadurch sowohl in privater wie beruflicher Hinsicht kontrolliert und reglementiert. Individuelle Bedürfnisse wurden kollektiven Normen unterworfen. Die Stände waren keine Berufsverbände, sondern Lebensgemeinschaften, die das Leben sowohl in religiöser wie familiärer und wirtschaftlicher Hinsicht umfassend regelten. Ökonomische Expansion schloß dies ebenso aus wie gruppenübergreifende Kommunikation. Die ständische Welt war eine geschlossene Welt mit einer starken sozialen Differenzierung, wobei den ›ehrbaren‹ Schichten in der Regel bestimmender Einfluß zukam. Dies gilt vor allem für das ständische Handwerk, aber auch für die Kaufmannschaft. Dabei war das System der Stände keineswegs starr; ihre Zahl vermehrte sich mit der Zunahme neuer Tätigkeitsbereiche. Selbst die Gelehrten einer Universität verstanden sich als Stand mit eigener Tradition und eigenem Ehrenkodex und ließen nur bedingt ›Extravaganzen‹ zu. Die Standesstruktur war zwar im 18. Jahrhundert nicht mehr geschlossen; die neue Beamtenschaft...
Erscheint lt. Verlag | 15.6.2015 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Schulbuch / Wörterbuch ► Lexikon / Chroniken |
Technik | |
Schlagworte | Adam Weishaupt • Adolf Freiherr von Knigge • Aufklärung • Berlin • Bürgertum • Christoph Gottsched • Deutschland • Frankfurt • Freimaurerei • Gottfried Wilhelm Leibniz • Hamburg • Illuminaten • Leipzig • Lesegesellschaft • München • Sachbuch • Sozietät • Viktor Martin Otto |
ISBN-10 | 3-10-560344-1 / 3105603441 |
ISBN-13 | 978-3-10-560344-4 / 9783105603444 |
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