Als Pimpf in Polen (eBook)

Erweiterte Kinderlandverschickung 1940-1945

(Autor)

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2015 | 1. Auflage
151 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-560096-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Als Pimpf in Polen -  Jost Hermand
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Über 3 Millionen deutsche Kinder zwischen 7 und 16 Jahren sind in der Zeit von 1940 bis 1945 im Zuge der »Erweiterten Kinderlandverschickung« aus den bombenbedrohten Großstädten aufs Land verschickt worden. Ziel war es, die Jugendlichen schon frühzeitig dem NS-Staat gefügig zu machen. Jost Hermand berichtet aus eigener Erfahrung über die brutale Realität des Lagerlebens, das bei vielen Betroffenen bis heute traumatische Folgen zeitigt. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Jost Hermand, geboren 1930 in Kassel, studierte Germanistik, Philosophie, Geschichte und Kunstgeschichte in Marburg. Er promovierte 1955 zum Dr. phil. mit einer Arbeit über die literarische Formenwelt des Biedermeier und übernahm 1958 eine Professur an der University of Wisconsin in Madison/USA. Er hatte u. a. Lehraufträge an der Harvard-Universität, in Austin/Texas, Berlin, Bremen, Gießen und Marburg und erhielt für seine umfangreichen wissenschaftlichen Arbeiten und Publikationen zahlreiche Auszeichnungen.

Jost Hermand, geboren 1930 in Kassel, studierte Germanistik, Philosophie, Geschichte und Kunstgeschichte in Marburg. Er promovierte 1955 zum Dr. phil. mit einer Arbeit über die literarische Formenwelt des Biedermeier und übernahm 1958 eine Professur an der University of Wisconsin in Madison/USA. Er hatte u. a. Lehraufträge an der Harvard-Universität, in Austin/Texas, Berlin, Bremen, Gießen und Marburg und erhielt für seine umfangreichen wissenschaftlichen Arbeiten und Publikationen zahlreiche Auszeichnungen.

Nach den ersten Bombenangriffen


KLV-Lager Kirchenpopowo im Warthegau
(Oktober 1940 – August 1941)

Erinnerungen lassen sich nicht herbeizwingen. Sie stellen sich entweder spontan ein – oder sie verweigern sich. Im Hinblick auf Kindheitserlebnisse, die sich der nachträglichen Bewußtwerdung entziehen, läßt sich hierbei nie genau sagen, ob bei dieser Verdrängung der gleiche psychische Prozeß am Werke ist, der sich auch im Vergessen von Träumen manifestiert, oder ob diese Erlebnisse lediglich im Laufe der Jahre bis zur Unkenntlichkeit verblaßt sind. So weiß ich zwar noch genau, wie wichtig das Jahr 1940 in meinem Leben war; aber dieses Wissen hilft mir herzlich wenig, den damaligen Erlebnissen eine realistische Prägnanz zu geben oder sie in einen narrativen Vorgang einzubinden. An sich kann ich sie nur zu halb erinnerten, halb interpretierten Denkbildern verdichten. Und zwar gilt das selbst im Blick auf die drei für mich entscheidenden Ereignisse dieses Jahres, in dem ich zu Ostern als Zehnjähriger in die Oberschule überwechselte, kurz darauf als Pimpf ins Jungvolk und schließlich im Oktober – aus dem »luftgefährdeten« Berlin, wie es damals hieß – in ein KLV-Lager abtransportiert wurde.

An den Schulwechsel kann ich mich noch am besten erinnern, da er sich offenbar nicht so traumatisch abspielte wie die beiden anderen Ereignisse. Nachdem ich erst in Johannisthal bei Niederschöneweide und dann in Schmargendorf in die Volksschule gegangen war, erklärte die Schulverwaltung im Frühjahr 1940 meinen verdutzten Eltern, daß ich jetzt »oberschulreif« sei. Da mein Vater ein schlechtbezahlter Angestellter bei einer Textilfirma war, nicht in die NSDAP eintreten wollte und zudem für zwei Kinder, seine Frau und deren Mutter zu sorgen hatte, erschien ihm ein solcher Schulübertritt zu kostspielig. Doch die NS-Schulverwaltung beredete ihn, wies ihn auf meine guten Zeugnisse hin, ja versprach ihm sogar finanzielle Erleichterungen – und so gab er schließlich nach.

Schulfoto als Sextaner der Paul-von Hindenburg-Oberschule (April 1940)

Demzufolge lief ich seit April 1940 jeden Morgen von unserer Wohnung in der Bingerstraße 4 in die Hindenburg-Oberschule in Wilmersdorf, wo ich in einer Klasse saß, in der nicht, wie in der Klassengesellschaft der Weimarer Republik, die »Bürgersöhnchen«, sondern die von den Nazis aus sozialdarwinistischen Gründen geförderten Jungen aus Arbeiter- und Angestelltenfamilien den Ton angaben. Daß dieser etwas »rauh« war, verängstigte mich. Aber in der Volksschule, vor allem in Niederschöneweide, waren die Umgangsformen noch rauher gewesen. Daher fühlte ich mich in der Sexta meiner neuen Schule bald recht wohl, was auch die wenigen Schulfotos aus dieser Zeit belegen, auf denen ich, meist lächelnd, in die Kamera blicke. Außerdem wurde ich hier wegen meines Stotterns, das auf eine traumatische Erfahrung in meinem fünften Lebensjahr zurückging, von den anderen Jungen nicht so unbarmherzig gehänselt wie von den Rangen in der Volksschule. Und auch die Lehrer waren zum Teil verständnisvoller, das heißt prügelten nicht sofort auf uns ein, wenn sie überarbeitet oder schlechter Laune waren.

Wie schon in der Volksschule suchte ich als scheuer, sprachgestörter Zehnjähriger auch hier vor allem Kontakte zu den etwas »feineren« Jungen in meiner Klasse und ging den lauten, mich anrempelnden Arbeiterkindern lieber aus dem Wege. Bestärkt wurde ich darin besonders von meiner Mutter, welche eine deklassierte »höhere Tochter« war und, wie ihre völlig verarmte Mutter, die einstmals Hofdame in Weimar gewesen war, mit aller Macht an ihren früheren Umgangsformen festzuhalten versuchte, für die mein Vater, der aus ärmsten Verhältnissen stammte, tagsüber Textilien verkaufte und zur Aufbesserung seines kümmerlichen Gehalts abends in Kneipen als Alleinunterhalter Klavier spielte, nicht viel übrig hatte.

Und so saß ich in der Hindenburg-Oberschule, wie zu Hause, von vornherein zwischen den Fronten. Aus Niederschöneweide stammend, sprach ich denselben Argot wie die Ostberliner Arbeiterkinder, wurde aber von meiner Mutter, die froh war, daß ich jetzt zu den Oberschülern gehörte, unablässig ins Hochdeutsche, Bürgerliche gedrängt. Die Nazis fand meine Mutter viel zu plebejisch und riet meinem Vater energisch davon ab, der NSDAP beizutreten, ja drohte ihm sogar, sich von ihm scheiden zu lassen, falls er einen solchen Entschluß überhaupt in Erwägung ziehen würde. Sie wußte zwar genau, daß der Parteieintritt meinem Vater die Chance des sozialen Aufstiegs geboten hätte, besaß aber zuviel »innere Würde«, wie sie es nannte, um sich die sehnlichst herbeigewünschte Bürgerlichkeit durch die Hintertür zu verschaffen. Also blieb sie lieber arm und versuchte, die herrschenden Zustände so gefaßt wie nur möglich zu ertragen. Eine gewisse Entlastung bot ihr lediglich die Tatsache, daß sie – aufgrund ihrer gesellschaftlichen Gewandtheit – durch meinen Schuleintritt zwei Studienräte kennenlernte, die ebenso dachten wie sie und sie in ihrer instinkthaften, unreflektierten Abneigung gegen die Nationalsozialisten bestärkten.

Am schärfsten lehnte meine Mutter die Hitler-Jugend ab. Mein um drei Jahre älterer und wesentlich kräftigerer Bruder, der bei meiner Großmutter väterlicherseits groß geworden war, da meine Eltern in den ersten zehn Jahren ihrer Ehe nicht genug Geld für zwei Kinder hatten, fand sich mit der HJ relativ schnell ab, das heißt tat schweigend seine Pflicht und war auch sonst kaum aus der Ruhe zu bringen. Ihn ließ darum meine Mutter weitgehend tun, was er wollte. Als ich dagegen am 20. April, dem Tag von Hitlers Geburtstag, zum Jungvolk eingezogen wurde und ihr sofort mit Klagen über die Roheit der anderen Pimpfe[84] in den Ohren lag, zeigte sie viel Verständnis für meine Leiden und versuchte, mich in jeder Form gegen diese Organisation aufzuhetzen. Daß ich jeden Samstagnachmittag und manchmal sogar Mittwochnachmittag zum »Dienst« mußte, konnte sie allerdings nicht verhindern. Schließlich war zu diesem Zeitpunkt die Mitgliedschaft in der Hitler-Jugend bereits obligatorisch. Also konnte sie nur dafür sorgen, daß ich in meiner Uniform, die sie wegen des dazugehörigen Tornisters, Fahrtenmessers, Schulterriemens, Koppels sowie der verschiedenen Dienstabzeichen teuer zu stehen kam, einigermaßen »adrett« aussah und mich nicht von dem im Jungvolk kursierenden Jargon beeindrucken ließ. Außerdem wartete sie ständig darauf, ob sich nicht eines Tages ein Anlaß ergeben würde, gegen die dort herrschende Roheit, ob nun das Ausmaß der Prügeleien oder die Härte der wehrsportlichen Übungen, Einspruch zu erheben. Ein solcher Grund ergab sich jedoch nicht. Obendrein hätte sie jede Beschwerde, wie sie genau wußte, der Gefahr der Verhaftung ausgesetzt. Daher blieben sie und ich lediglich stille Konspiratoren gegen das »gräßliche« Jungvolk.

Im Sommer 1940 mußte ich, nachdem ich die Schwertworte »Jungvolkjungen sind hart, / schweigsam und treu, / Jungvolkjungen sind Kameraden. / Des Jungvolkjungen Höchstes ist die Ehre« sowie den Fahnenspruch »Wer auf die Fahne des Führers schwört, / hat nichts mehr, was ihm selber gehört« auswendig gelernt hatte, meinen Dienst im Fähnlein »Stoßtrupp« ableisten.[85] Die Jungzüge und Jungenschaften dieses Fähnleins trafen sich meist am Schmargendorfer Roseneck oder an der Hundekehle im Grunewald. Dort gab es damals noch viele unbebaute Gegenden und verwilderte Waldstücke, wo wir sogenannte Geländespiele »durchführten«. Bei diesen Spielen trugen wir entweder rote oder blaue Wollfäden um den linken Oberarm. Jedes Fähnlein erhielt den Befehl, in einem vorher festgelegten Terrain auf möglichst »geländegängige«, das heißt militärisch-rekognoszierende Weise ein anderes Fähnlein auszumachen und seinen Pimpfen – meist nach langen Schlägereien – die Wollfäden vom Arm zu reißen. Hierbei sollten wir erleben, daß sich »Kameradschaft«, wie uns gesagt wurde, vor allem im Kampf erweist. Außerdem mußten wir im Fähnlein »Stoßtrupp« viel marschieren und die vorgeschriebenen HJ-Lieder singen. Eine theoretische Indoktrinierung fand auf dieser Ebene, obwohl wir uns auch zu »Heimabenden« trafen, noch kaum statt. Jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern. Das spezifisch faschistische Element dieser HJ-Einsätze, zu denen auch Zeltlagerfahrten gehörten, bestand vor allem in dem Versuch, uns abzuhärten, das heißt »Waschlappen« in »Kerls« umzuformen, wie es in den nationalsozialistischen Schulungsbriefen hieß, die ich allerdings erst Jahrzehnte später las. »Bei Sport und auf Fahrt sollten die Pimpfe beweisen«, erklärte Jutta Rüdiger noch 1983, »daß sie keine ›Muttersöhnchen‹ waren, die verweichlicht sind und denen alles nachgetragen wird, sondern die selber anpacken können.«[86] Dem gleichen Ziel dienten genau kalkulierte Rituale wie Flaggenhissen, Aufmärsche und Appelle, die uns gefühlsmäßig gegen alles Unjungenhafte, »Schwächliche« aufzuputschen und uns ein Gefühl für die Größe unserer zukünftigen Aufgabe einzuhauchen suchten.

»Abschied von der Großstadt« (Propagandafoto der NS-Organisation Kinderlandverschickung, 1937)

»Verschickt« wurde ich mit meiner Klasse erstmals am 6. Oktober des Jahres 1940.[87] Offenbar erfolgte diese Aktion Hals über Kopf....

Erscheint lt. Verlag 15.4.2015
Reihe/Serie Die Zeit des Nationalsozialismus – »Schwarze Reihe«
Die Zeit des Nationalsozialismus – »Schwarze Reihe«
Die Zeit des Nationalsozialismus. "Schwarze Reihe".
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Schulbuch / Wörterbuch Lexikon / Chroniken
Technik
Schlagworte Autobiographie • Berlin • Bombenkrieg • Deutschland • Epidemie • Evakuierung • Groß-Ottingen • Hitlerjugend • Kinderlandverschickung • Lagerleben • Nationalsozialismus • NS • NSDAP • Sachbuch • San Remo • Trauma • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-10-560096-5 / 3105600965
ISBN-13 978-3-10-560096-2 / 9783105600962
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