Religion und Gesellschaft (eBook)

Beiträge zu einer Religionsgeschichte der Neuzeit
eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
240 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-560218-8 (ISBN)

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Religion und Gesellschaft -  Richard van Dülmen
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Richard van Dülmen untersucht die gesamte Spannbreite der sozialen, politischen und kulturellen Dimension von Religiosität. Sein Interesse gilt der Volksreligion, die jenseits kirchlicher Institutionen und religiöser Dogmen und Lehren die gesellschaftliche Wirklichkeit der Menschen prägte, der reichen religiösen Kultur, ihren Riten und Symbolen. In exemplarischen Untersuchungen, die von der sozialreligiösen Täuferbewegung über die Volksfrömmigkeit des 17. Jahrhunderts bis zum Katholizismus im ersten Weltkrieg reichen, entwirft van Dülmen ein ebenso spannendes wie lehrreiches Panorama der religiösen Lebensformen vergangener Gesellschaften. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Richard van Dülmen (1937-2004) war Professor für die Geschichte der frühen Neuzeit an der Universität Saarbrücken. Besonders hervorgetreten ist er durch seine Arbeiten zur Alltags- und Kulturgeschichte.

Richard van Dülmen (1937–2004) war Professor für die Geschichte der frühen Neuzeit an der Universität Saarbrücken. Besonders hervorgetreten ist er durch seine Arbeiten zur Alltags- und Kulturgeschichte.

II.


Die Reformation vollzog sich in einer Zeit politisch-sozialen Umbruchs, dessen Ausdruck sie zum Teil war und auf dessen Folgen und Ausgang sie ihrerseits stark einwirkte. Die spezifische Ausformung des Staates, die Entwickung des Bildungswesens, die Formierung der Familienstruktur und die Aufwertung der Arbeitswelt in der frühen Neuzeit sind ohne die Reformation und den frühen Protestantismus nicht zu verstehen.

1. Der frühmoderne Staat ist kein Produkt der Reformation, weder in seiner obrigkeitlich-absolutistischen noch ständisch-libertären Form, aber sie gab seiner Ausformung ein besonderes Gepräge. Das gilt nicht nur für Holland oder England. Drei Komplexe sind dabei anzusprechen: Zwar hat es immer wieder in den evangelischen Kirchen – wie im Katholizismus – theoretische Bestrebungen gegeben, die staatlich-obrigkeitliche Macht für ihre Interessen zu instrumentalisieren, ja sie als Mittel zur Ausweitung kirchlicher Ansprüche zu benutzen, doch die meisten reformatorischen Kräfte haben aus der Erfahrung weltlicher Eingriffe in die kirchliche Praxis heraus die Trennung von religiöser und weltlicher Ordnung unterstützt. Um von weltlichen Eingriffen frei zu sein, sollten sich die Kirchen aus allen weltlichen Bereichen zurückziehen – dies reichte von der eigentlich politischen Sphäre bis zur Armenfürsorge –, wie umgekehrt die Staaten, um auch unabhängig von kirchlichen Einsprüchen zu sein, sich aus allen eigentlich religiösen Dingen wie der Gottesdienstpraxis und der Lehrverkündigung heraushalten sollten. Einer Entpolitisierung, ja Spiritualisierung der protestantischen Kirche war damit ebenso Vorschub geleistet wie der Entsakralisierung und Säkularisierung des Staates.[30] Die Reformation stärkte auf jeden Fall die Machtkompetenz des Staates. Deutsche Territorien, aber auch Schweden und England bieten klassische Beispiele. Obwohl die protestantischen Kirchen von staatlicher Bevormundung frei sein wollten, waren sie zum anderen doch alle aufgrund der fehlenden hierarchischen Struktur – das gilt gleicherweise von der lutherischen wie der calvinistischen Kirche – auf den Schutz der weltlichen Obrigkeit angewiesen. Da dies mit dem Bestreben des Staates korrespondierte, einerseits neben sich keine zweite autonome Ordnung mehr zu tolerieren, andererseits auf die Kirchen als auf die nationale bzw. territoriale Einheit stabilisierenden Kräfte nicht zu verzichten, mußten sich die Kirchen den obrigkeitlich-staatlichen Interessen so unterordnen, daß die Kirchen quasi zu einer staatlichen Institution bzw. zu einer Institution unter anderen in einem staatlichen Verbund wurden.[31]

Das entstehende Staatskirchentum war damit nicht nur ein Produkt der Machtinteressen des weltlichen Staates, sondern gleicherweise gingen auch viele Impulse der Reformation in diesen ein; sie unterstützten in beachtlichem Maße die staatlichen Integrationsbemühungen. Vor allem das Luthertum, aber auch der Calvinismus und nicht zuletzt der Anglikanismus mußten diese Unterordnung zur Stärkung ihrer eigenen Interessen hinnehmen. Nur die freikirchlichen Glaubensgemeinschaften entzogen sich – selbst unter Gefahr ihrer Unterdrückung oder Vertreibung – jeder Integrationspolitik. Schließlich beeinflußten reformatorische Kräfte den Formierungsprozeß des frühmodernen Staates derart, daß sie mit darüber entschieden, ob der spätmittelalterliche Territorialstaat sich zu einem absolutistischen oder libertär-ständestaatlichen Staat entwickelte.[32] In den für die künftige staatliche Struktur Europas maßgeblichen Konflikten des 16. und 17. Jahrhunderts zwischen Ständen und Fürsten blieben die Kirchen und Konfessionen keineswegs neutral. Zwar waren alle evangelischen Kirchen für klare obrigkeitliche Machtverhältnisse, denn ohne sie war ihr Bestand leicht gefährdet. Aber aufschlußreich ist doch, daß die reformatorische Bewegung insgesamt letztlich stärker libertäre, sogar republikanische, antiabsolutistische Kräfte bereitstellte als der römische Katholizismus, der selten den Ständen mehr Unterstützung gewährte als den Fürsten. Deutliche Beispiele kennen wir aus Österreich und Frankreich. Antiabsolutistisch-ständische Kräfte arbeiteten hier aufs engste mit den reformatorischen Kirchen, speziell dem Calvinismus zusammen. Und weder der niederländische Befreiungskampf noch die englische Revolution sind ohne religiös-konfessionelle Auseinandersetzungen zu verstehen. Es ist deswegen auch nicht von ungefähr, wenn die ersten libertärdemokratischen Staaten auf protestantischem Boden auf der Basis einer Trennung von Staat und Kirche und einer naturrechtlich begründeten staatlichen Macht entstanden.

2. Zweifellos hatten das frühneuzeitliche Stadtbürgertum wie auch der frühmoderne Staat eigene Interessen am Ausbau eines mittleren und höheren Schulwesens; in sie mündeten die humanistischen Bestrebungen; aber das Schulwesen hätte im 16. Jahrhundert nicht die uns bekannte Blüte erlebt, wäre es nicht von der gesamten reformatorischen Bewegung unterstützt worden.[33] Dies zwang selbst den Katholizismus, ein eigenes Bildungssystem zu forcieren und bald in Konkurrenz zum protestantischen Schulwesen treten zu lassen.[34] Die volkspädagogische Bewegung des frühen 17. Jahrhunderts verbreitete sich allerdings nur in Deutschland und England.[35] Die katholische Kirche konzentrierte sich vor allem auf das höhere Schulsystem. Die meisten Schulen im protestantischen Bereich wurden zwar seit der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts bald von obrigkeitlich-staatlichen Institutionen oder zumindest von staatlichen Kräften kontrolliert, was den entstehenden Verweltlichungstendenzen im Protestantismus entsprach; jedoch war der Ausbau des unteren Schulwesens insofern ein nicht unwesentliches Anliegen der reformatorischen Kräfte, als zunächst einmal mit der allgemeinen Konzentration auf die Hl. Schrift die Alphabetisierung auch der unteren Schichten vordringlich wurde. Sollte der neue Glaube Wirklichkeit werden, reichte nicht die biblische Predigt, der einzelne Christ sollte die Bibel selbst lesen können. Die Lesebefähigung wurde geradezu ein Kennzeichen der Protestanten, und gerade England zeigte hier die deutlichsten Erfolge. Aber den Protestanten ging es bald nicht mehr allein darum, daß das Volk lesen und schreiben konnte, die Kinder sollten auch zu christlichem Leben erzogen werden.

Der Prozeß der Verchristlichung der Welt, zu dem sich der ganze Protestantismus trotz seiner Enthaltsamkeit in der weltlichen Ordnung bekannte, war für ihn wesentlich eine Aufgabe der Erziehung. Erziehung spielte auch in der katholischen Kirche bald eine verstärkte Rolle, war dort aber niemals Teil oder Mittel der Glaubensverkündigung speziell für untere Volksschichten. So konnte jedenfalls ein überzeugter Protestant nur der sein, der die Bibel lesen, vor allem die Lehre der Kirche auch verstandesmäßig begreifen konnte, was freilich eines langen Aneignungsprozesses bedurfte. So unergründlich Gott für den Protestantismus war und so stark alle neuen Verkündigungsformen zwischen Glauben und Wissen unterschieden, den Glauben abhoben von jeder Form des Wissens – die alte Skepsis gegenüber den metaphysischen Spekulationen blieb stets erhalten –, wurde der Glaube in der Praxis doch wesentlich eine Sache des Kopfes, der Reflexion. Das fand trotz der Rezeption auch mancher mystischer Ideen seinen Rückhalt in einer letztlich nüchternen Gottesdienstordnung, in der das Wort nie mehr aus dem Mittelpunkt verdrängt wurde.[36] Das Wort Gottes sollte die geistig-religiöse Flexibilität des Gläubigen fördern, und dieser Anspruch kam der Intensivierung des Schulwesens zugute. Einer deutlichen Verweltlichung des Schul- und Bildungswesens in Lehrinhalt wie in der Institutionalisierung war damit noch kein Vorschub geleistet, so wichtige Voraussetzung der Protestantismus dazu schuf – so wichtig sie nun auch für den Laien wurde –, Wissen und Bildung blieben in protestantischen Kreisen, hier zeigte sich der Calvinismus nicht weniger rigide als das Luthertum, wesentlich Dienerinnen des Glaubens und der christlichen Tugend.

3. Das Ehe- und Familienleben war dem Protestantismus weitgehend zu einem ›weltlichen‹ Wesen geworden.[37] Der sakramentale Charakter wurde der Ehe abgesprochen; damit aber überließ man die Gestaltung des Familienlebens noch keineswegs den Haushalten selbst oder der obrigkeitlichen Gewalt. Zur Keimzelle der christlichen Gemeinde stilisiert, in der christliches Leben verwirklicht werden und der Hausvater als Stellvertreter Christi agieren sollte, rückte die Familie sogar in den Mittelpunkt der sozialen Interessen aller protestantischen Kirchen, vor allem im Puritanismus. Setzten die Kirchen auf die Verchristlichung der Welt durch Erziehung zu christlichem Glauben und Leben, mußten sie bei den Familien beginnen. Vorbild sollte der protestantische Haushalt sein.

Die Entstehung der bürgerlichen Familie geht zwar nicht auf die Reformation zurück, aber bestimmte moderne Entwicklungstrends wurden vom Protestantismus, vor allem in seiner puritanischen Form erheblich unterstützt.[38] Durch die Predigt in der Kirche, durch Unterricht und soziale Kontrolle im Zusammenhang der Kirchenzucht versuchte man auf die familiären Beziehungen moralisch Einfluß zu nehmen. Drei Bereiche standen dabei im Zentrum der Bemühungen. Alle protestantischen Richtungen stärkten die traditionelle, patriarchalische Hausherrengewalt, wonach der Hausvater...

Erscheint lt. Verlag 15.4.2015
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Schulbuch / Wörterbuch Lexikon / Chroniken
Technik
Schlagworte Antijesuitismus • Bayern • Deutschland • Fraternitatis • Jesuitenorden • Katholizismus • Reformation • Reformationsutopie • Religionsgeschichte • Sachbuch • Spathumanismus • Täufertum • Volksfrömmigkeit • Volksreligion • Volksreligiosität
ISBN-10 3-10-560218-6 / 3105602186
ISBN-13 978-3-10-560218-8 / 9783105602188
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