Die blaue Blume im englischen Garten (eBook)

Romantik - ein Mißverständnis?

(Autor)

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2015 | 1. Auflage
262 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-560025-2 (ISBN)

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Die blaue Blume im englischen Garten -  Otto F. Best
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Die Romantik, von Hegel als »Grundmodell der Moderne« bezeichnet, hat in der Folgezeit zu Mißverständnissen geführt, da vorwiegend Autoren der Hoch- und Spätromantik ihr Erscheinungsbild bestimmt haben. Heine wirft den Romantikern vor, den »Boden der Wirklichkeit« verlassen zu haben, und bei Goethe heißt es: »Das Classische nenne ich das Gesunde, und das Romantische das Kranke.« Otto F. Best macht in seiner Darstellung deutlich, daß solche einseitigen oder gar polemischen Äußerungen den Blick auf die frühe revolutionäre Phase der Romantik - die Jenaer Schule - über lange Zeit verstellt haben. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Otto F. Best, Dr. phil., Jahrgang 1929, studierte Germanistik, Romanistik und Philosophie. Langjährige Arbeit als Verlagslektor, von 1968 bis 1996 Professor für Deutsche und Vergleichende Literaturwissenschaft an der University of Maryland, USA.

Otto F. Best, Dr. phil., Jahrgang 1929, studierte Germanistik, Romanistik und Philosophie. Langjährige Arbeit als Verlagslektor, von 1968 bis 1996 Professor für Deutsche und Vergleichende Literaturwissenschaft an der University of Maryland, USA.

Ist die deutsche Romantik »romantisch«?


Wie ein Bergmassiv lagert die Epoche der Romantik in der weiten Landschaft unserer Literaturgeschichte. Nah und, wie es scheint, doch fern. Immer wieder haben die Nebel der Ideologie das Panorama verhüllt. Was gegensätzlich, vielgestaltig ist, ja kaum den gleichen Begriffen zuzuordnen, bot dem Auge sich dar in Einheitlichkeit. Näheres geriet in den Schatten des Ferneren, Früheres wurde verdeckt von Späterem. Romantik ist ein Plural, wie wir uns heute, klareren Blickes und Kopfes, mehr denn je eingestehn. Was sich in die griffige, so alte wie vage Epochenbezeichnung teilt, ist Ungleichartiges, ja Gegensätzliches.

Ist die späte Romantik wirklich die »Vollendung« der frühen Phase, die um 1804 / 05 ihr Ende findet? Wenn es heißt, in den ersten Jahren der Romantik sei bereits deren »gesamter Befund« an Ideen und Formen begründet worden, so ist das zwar nicht falsch, aber eben doch nur zum Teil richtig. Die Akzentverschiebung von der frühen Romantik, die unter dem Eindruck der Französischen Revolution stand, zur späten, stärker von den Napoleonischen Kriegen und der Metternichschen Restauration geprägten, bedeutet mehr als Hinwendung zu Konservativismus. Auch Verlust und Abbruch. Ihr prominentestes Opfer: der Witz, »Prinzip und Organ der Universalpoesie« (Fr. Schlegel). Es ist, als erinnerte man sich daran, daß diese Großmacht im Reich des Geistes, universaler Mittler und Beziehungsstifter, der bald Gott, bald dem gestaltreichen Teufel gleichgesetzt wird, ja eigentlich aus Frankreich stammt und als »Esprit« Inbegriff französischen Wesens ist.

Nicht zuletzt die dominierende Rolle des Witzes bei Friedrich Schlegel und Novalis straft alle jene Lügen, die in der Romantik eine »Anti-Aufklärung« sehen wollen. Gerade sie beweist, daß Ansätze der Aufklärung von der Romantik nicht nur fortgeführt, sondern sogar noch überboten wurden. Witz als »Bindestrich« zwischen Verstand und Phantasie. Schon für den Aufklärer Gottsched, Wegbereiter Lessings, ist Witz nicht allein die intellektuelle Kombinationsgabe, sondern auch Phantasie und somit das produktive Vermögen des Dichters. Obwohl das Witz-Prinzip von den Gottsched-Gegnern Bodmer und Breitinger als oberflächlich und kaltsinnig abgelehnt wurde, avancierte Witz im 18. Jahrhundert zu einem der wichtigsten ästhetischen Begriffe der Zeit.

Die lapidare Unterscheidung zwischen »Romantischem« und »Klassischem«, die nach einem Wort Goethes bald um den ganzen Erdball ging, mag dazu beigetragen haben, daß romantische Mehrgesichtigkeit dem neuen Antagonismus zum Opfer gefallen ist. Ein Schwarzweißschema entstand, das noch bis in unsere Tage das Denken beeinflußt. Die Angriffe gegen die »christkatholischen Romantiker«, die in Parodien und Pamphleten ihren Niederschlag fanden, galten den Heidelberger Romantikern wie Mitgliedern der »Schlegelschen Clique«. Gegnerschaft band die Vertreter des neuen literarischen Geschmacks polemisch zur Einheit. So daß der Literaturhistoriker E Bouterwek 1819 im 11. Band seiner Geschichte der neueren Poesie und Beredsamkeit von der »neueren Schule« sprechen kann, »die nun einmal in Ermangelung eines anderen Namens die romantische heißen mag«.

Er »trage im Herzen das Zauberwort«, das die »in allen Dingen schlafende Melodie« erweckt und die Welt zum Klingen bringe. Die Rede ist vom Beruf des Dichters. Der Dichter als Verzauberer, Verwandler. Seine Phantasie wendet »alles Wirkliche in Ahnung, Traum und Geheimnis« (G. Fricke). Worte, schön klingende Wörter, denen sich beliebig weitere hinzufügen ließen. Nur: es bedeutet zu große Vereinfachung, »romantisch« schlicht als Synonym für »phantastisch«, »utopisch« oder »märchenhaft« zu gebrauchen, Romantiker mit Enthusiast oder Schwärmer gleichzusetzen. Denn wie geht solche Reduktion, handliche Einkreisung zusammen mit der Tatsache, daß das Denken und Dichten eines Friedrich Schlegel oder Novalis gerade das Verstandesmäßige betont? Nicht allein, daß es sich am Reflexionsbegriff orientiert, in der Regel geht es auch aus vom geschärften Bewußtsein, in dem Selbstbezogenheit (Reflexivität) und Weltbezogenheit (Intentionalität) einander ergänzen. Unser Bild der Romantik, sprich: der Frühromantik, bedarf der Revision.

»Romantisch« bedeutete ursprünglich »wie im Roman«. Das Wort hatte damit einen abwertenden Klang. Denn noch im 17. Jahrhundert gab es erhebliche Vorbehalte dem Roman gegenüber. Romane galten als »übertrieben« und »phantastisch«. Ein Meilenstein auf dem Weg der Anerkennung des Romantischen als Stilform stellt die Übertragung des Begriffs auf die Landschaftsgärtnerei dar. Englisch-chinesische Gartengestaltung trat in Konkurrenz zur französischen. So konnte sich das Wort »romantisch« schließlich genauso auf bestimmte Stilmerkmale wie auf eine Literaturtradition beziehen, die im Mittelalter begonnen hat. Friedrich Schlegel wird dann bündig feststellen: »Nach meiner Ansicht und meinem Sprachgebrauch ist eben das romantisch, was uns einen sentimentalen Stoff in einer phantastischen Form darstellt.« Als »ein Element der Poesie« dürfe es, wie es im »Gespräch über die Poesie« heißt, zwar »zurücktreten, aber nie ganz fehlen«.

Ist romantische Dichtung »Poesie der Nacht und Dämmerung«? Synthesefreudigkeit und Vieldeutigkeit haben zu verzerrender Darstellung, zu Wertung durch Auswahl geführt. So bekennt der verhinderte Universitätsprofessor Heinrich Heine, E.T.A. Hoffmann sei ihm lieber als Novalis. Letzterer, »mit seinen idealistischen Gebilden«, schreibe »immer in der blauen Luft«. Solche Kritik ist ebenso fragwürdig wie ungerecht. Novalis war alles andere als ein »Luftbaumeister«. In einem Brief an Caroline Schlegel hebt er gerade seine Liebe zum »Nüchternen«, »echt Fortschreitenden«, »Weiterbringenden« hervor. Zudem spricht sein Werk für sich selbst. Novalis wie Friedrich Schlegel suchten, wie Arnold Hauser in seiner bewährten Sozialgeschichte der Kunst und Literatur (1953) darlegt, gerade »alle Empfindsamkeit« in sich zu überwinden und »bei all ihrer Subjektivität und Sensibilität ihre Weltanschauung auf etwas Solides und Allgemeingültiges zu begründen«. Die neueste Forschung beweist, daß diese Behauptung keineswegs übertrieben ist.

Die Jenaer oder Frühromantik stellt die Avantgarde der literarischen Romantik Europas. Als »Vereinigung von Talenten«, wie Friedrich Schlegel sie rückblickend nennen wird, hob sie Begriffe wie »Universalität«, »Bildung«, »Synthese«, »Liebe« auf den Schild und propagierte sie mit bis dahin kaum gekannter Radikalität. In einem Zeitalter, da der Mensch sich zunehmend aus den großen, übergreifenden Bindungen von Kirchenreligion und Ständegesellschaft zu lösen begann und als einzelner seinen Weg suchte, gingen sie daran, das Absolute neu und auf ihre Weise zu begründen. Was schöpferische Gott-Natur für Goethe, Idee für Schiller oder Mythos für Hölderlin, waren für diese erste Romantikergruppe Reflexion, Einheit (Ganzes) und Wechsel. In ihrer Reflexionspoetik gewinnt der Witz, neben Genie, noch einmal einen überraschenden Stellenwert. Mond und blaue Blume bewähren sich als zentrale Chiffren, in denen Wechsel und Synthese Bild werden. Daß gerade dem Mond eine zentrale Rolle in der Romantik zukommt, ist bekannt. Doch dieses Gestirn ist mehr als bloßes Symbol für Periodizität, Wandlung und Erneuerung. Nur in Verbindung mit der Sonne gibt sich sein Symbolgehalt zu erkennen. Sonne bedeutet intuitive, unmittelbare Erkenntnis, Mond reflexive, begriffliche, spekulative – theoretische. Feuer neben Wasser, Hitze, Süden und Sommer neben Norden und Kälte. Für unsere Überlegungen von besonderer Wichtigkeit ist die Zuordnung des Mondes zu Zeit und Wechsel, zu theoretischer Erkenntnis und Stoff. Wie Yin und Yang, Anima und Animus sind beide Prinzipien einander entgegengesetzt und aufeinander bezogen. Beide zusammen bilden das »Ganze«, darstellbar durch »Wechselrepräsentation«: das Unendliche wird gefaßt im Endlichen, die umfassende, menschheitliche Dimension in der Lebensreise des Heinrich von Ofterdingen.

Wir können davon ausgehen, daß Friedrich Schlegel wie Novalis mit der Vorstellungswelt der Völker Asiens und der Rolle, die die beiden kosmischen Urkräfte darin spielten, vertraut gewesen sind. Gleiches gilt für Symbolgehalt und Überlieferungsgeschichte der »blauen Blume«. Gewiß ist es nicht falsch, sie zum Kyffhäuser in Beziehung zu setzen, zumal dieser in der geplanten Fortsetzung noch eine gewichtige Rolle spielen sollte. Aber als zu vielschichtig gibt sich das Gebilde, um schlicht einer altdeutschen Sage entnommen zu sein. Auch hier heißt es, globale, d.h. weltmythologische und weltliterarische Voraussetzungen zu bedenken.

Vereinigung, Synthese lautet das Schlüsselwort. Synthese nicht nur schlicht des »Getrennten«, auch von Aspekten europäischer Geistesgeschichte und von Weltkultur. Die Kombination von Gefühl und Reflexion, Genie und Witz bedeutet zugleich Versöhnung, Ausgleich zweier großer europäischer Traditionen. Als deren Verkörperung gelten Deutschland und Frankreich. Für unsere Nachbarn ist das »Romantische« Kennzeichen des deutschen »Nationalcharakters« – ganz im Sinne der Verallgemeinerung, wonach die Franzosen Rationalisten, die Engländer Realisten seien. Da die Grundlagen des Deutschlandbildes der Engländer und Franzosen sich primär literarischen Quellen verdanken, konnte man lange kein Verständnis dafür aufbringen, daß die Deutschen bei näherem Hinsehen nicht so sind, wie sie nach Buch und Vorstellung zu sein hätten: Bewohner eines romantischen Märchenlands, einer Welt der Musik...

Erscheint lt. Verlag 15.4.2015
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Schulbuch / Wörterbuch Lexikon / Chroniken
Technik
Schlagworte China • Deutschland • England • Frankreich • Friedrich Schlegel • Frühromantik • Genie • Heinrich Heine • Heinrich von Ofterdingen • Jean Paul • Jena • Literaturgeschichte • Ludwig Tieck • Novalis • Revolution • Romantik • Sachbuch • Wilhelm Meister • Witz
ISBN-10 3-10-560025-6 / 3105600256
ISBN-13 978-3-10-560025-2 / 9783105600252
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