Kulte, Mythen und Gelehrte (eBook)

Anthropologie der Antike seit 1800
eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
361 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-560123-5 (ISBN)

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Kulte, Mythen und Gelehrte -  Renate Schlesier
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Wer die Geschichte einer Wissenschaft verstehen will, tut gut daran, die bahnbrechenden Fragestellungen und ihren - offenen oder latenten - Wettbewerb ernst zu nehmen - in ihnen verkörpern sich die Bewegung des Wissens und der Kampf der Begriffe. Renate Schlesier spürt dieser Bewegung und diesem Kampf nach - in und an den Werken großer Gelehrter, die die Religion, die Mythen, Rituale und Kulte der Antike erforscht und ihre Bedeutung interpretiert haben: Karl Otfried Müller, Otto Jahn, Jane Ellen Harrison, Eduard Meyer, Claude Lévi-Strauss, Jean-Pierre Vernant u. a. m. Es entsteht so ein imponierendes Panorama anthropologischer Denkstile und Verfahrensweisen: Wissenschaftlergeschichte als Wissenschaftsgeschichte. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Renate Schlesier: Professorin für Religionswissenschaft

Renate Schlesier: Professorin für Religionswissenschaft

Vorwort


In den vergangenen zweihundert Jahren verlor die Antike ihre normative Funktion im Okzident. Das Vorbild der Griechen, das mehr noch als das der Römer seit der Renaissance Maßstab für Künste und Wissenschaften gewesen war, büßte seine öffentliche Verbindlichkeit ein. Seit dem frühen 19. Jahrhundert ist unübersehbar, daß auch Klassik und Klassizismus stilistisch und methodisch nicht mehr imstande sind, griechische und römische Normen unangefochten zu bewahren. Trotz zahlreicher, bis ins 20. Jahrhundert wiederholter Bemühungen, den antiken Humanismus zu reaktivieren, wurde die Bestimmung des Menschen vielfältiger und subjektiver.

Andererseits ist die Antike in den letzten zwei Jahrhunderten keineswegs aus dem Fundus der Wissenschaften und Künste verschwunden. Was die Künste betrifft, so vertrug sich die kritische Abkehr von einengenden Regeln der Vergangenheit durchaus mit den mannigfaltigsten Anregungen durch antike Formprinzipien, Stoffe und Figuren. Auch in den Humanwissenschaften kann keine Rede davon sein, daß Denkmodelle und Begriffe aus der antiken Überlieferung inzwischen durch fundamental andere ersetzt worden sind. Neu ist indessen, daß der okzidentale, auf die Antike rekurrierende Traditionsbestand zunehmend zum Gegenstand der Reflexion geworden ist, daß er fragwürdiger erscheint und oft auch unscheinbarer wirksam wird, daß er der unvermeidlichen Konfrontation mit anderen Traditionen ausgesetzt ist.

Dieser neue Zugang zur okzidentalen Tradition definiert sich heute als Anthropologie der Antike. Ihre einflußreichsten gegenwärtigen Spielarten und manche Paradigmen ihrer Vorgeschichte seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts sollen in den folgenden Kapiteln dargestellt und analysiert werden. Aus verschiedenen Blickwinkeln wird mit der Möglichkeit experimentiert, Wissenschaftsgeschichte als Wissenschaftlergeschichte zu schreiben. Fragen der Theorie-, Problem- und Begriffsgeschichte, der Biographik, Fachgeschichte und Wissenschaftspolitik im innereuropäischen Vergleich kommen dabei zur Sprache. Im Mittelpunkt steht eine Auswahl spezifischer Pionierleistungen und Begrenzungen einiger der tonangebenden Gelehrten auf dem Gebiet der antiken Religionsgeschichte und Mythosforschung, aus deutschsprachigen Ländern, aus England und Frankreich, von Georg Friedrich Creuzer (17711858) über Jane Ellen Harrison (18501928) bis zu Jean-Pierre Vernant (geboren 1914) und Walter Burkert (geboren 1931). Zu den hier ausführlich behandelten Autoren gehören auch Karl Otfried Müller (17971840), Otto Jahn (18131869), Eduard Meyer (18551930) und Claude Lévi-Strauss (geboren 1908). Der Ausstrahlungskraft von Hermann Usener (18341905) und seiner Schule ist ein eigenes Kapitel gewidmet.

Die Arbeit aller dieser Gelehrten war oder ist interdisziplinär angelegt und dabei grundsätzlich geprägt durch eine innovative Auseinandersetzung mit der Antike. Fast alle sind ausgebildete Altertumswissenschaftler, wobei die älteren noch von der sachlichen Möglichkeit und institutionellen Notwendigkeit profitieren konnten, diese Wissenschaft in ihrer ganzen Breite zu überschauen und nicht darauf beschränkt blieben, entweder Philologen oder Historiker oder Archäologen zu sein. Zwei Gelehrte, die Nestoren der gegenwärtigen französischen Anthropologie, haben eine philosophische Ausbildung genossen, bevor sie sich der Ethnologie (Lévi-Strauss) oder der antiken Religionsgeschichte (Vernant) zuwandten. Alle hier behandelten Autoren haben Forschungsgebiete inspiriert oder auf Disziplinen eingewirkt, die weit über ihre jeweilige Fachrichtung hinausgehen. Dazu gehören die Kunstgeschichte, die Theologie, die Renaissanceforschung, die Psychologie, die Soziologie, die moderne Geschichts- und Literaturwissenschaft, die Religionswissenschaft sowie weitere Kulturwissenschaften.

Nur am Rande werden in diesem Buch andere Gelehrte erwähnt, ohne welche der Aufschwung der modernen Anthropologie der Antike nicht vorstellbar gewesen wäre. Die entscheidenden neuen Perspektiven wurden in erster Linie entworfen von Friedrich Nietzsche (18441900), James George Frazer (18541941), Sigmund Freud (18561939) und Emile Durkheim (18581917), aber auch von Erwin Rohde (18451898), William Robertson Smith (18461894), Aby Warburg (18661929), Marcel Mauss (18721950), Karl Meuli (18911968) und Eric Robertson Dodds (18931979). Der Beitrag dieser Autoren zur Anthropologie der Antike ist immer noch unzureichend erforscht, wenngleich zu den meisten von ihnen bereits eine umfangreiche und ständig anwachsende Fachliteratur existiert. Eine ausführliche Würdigung ihrer Forschungen hätte den Rahmen der hier versammelten, seit 1980 entstandenen interpretationsgeschichtlichen Studien gesprengt. Zudem mußte ganz darauf verzichtet werden, die anthropologische Neubestimmung der Antike bis in die Renaissance zurückzuverfolgen. Der vorliegende Band tritt ohnehin nicht mit dem Anspruch auf, eine Einführung in die moderne Anthropologie der Antike oder gar einen umfassenden Überblick darüber zu geben. Allenfalls kann es sich hier um Prolegomena und Exkurse dazu handeln. Das Panorama anthropologischer Denkstile und Verfahrensweisen ist zugegebenermaßen unvollständig. Über die Einzeldarstellungen hinaus sollen die Auswahlbibliographien sowie der chronologische und institutionsgeschichtliche Anhang zur Weiterarbeit anregen.

Das Buch dokumentiert Brüche und Kontinuitäten, denen die Anthropologie der Antike in den vergangenen beiden Jahrhunderten ausgesetzt war. Nirgends wird dies deutlicher als an dem jeweiligen Umgang mit den Mythen und Kulten und an der Art und Weise, wie beides aufeinander bezogen wird. Den Altertumswissenschaftlern der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts ist der Terminus ›Anthropologie‹ zwar noch nicht geläufig, doch wird schon zu dieser Zeit das methodische und begriffliche Arsenal zusammengestellt, mit dem die Anthropologen der Antike in der Folge operieren werden. Richtungweisend war hier vor allem Karl Otfried Müller, der in seinen Prolegomena zu einer wissenschaftlichen Mythologie von 1825 (dort S. 207) den alten Griechen bescheinigt, eine »fremde Menschheit« zu repräsentieren, die bis in die Gegenwart humanisierend wirkt. Seitdem ist die Universalität antiker griechischer Modelle nichts Selbstverständliches und Vertrautes mehr, sondern wird in immer größere Distanz gerückt. Die Anthropologen der Antike versuchen, die Mythen und Kulte der Griechen sowohl auf geschichtliche Eigenheiten wie auf anthropologische Gemeinsamkeiten zurückzuführen. Vergleiche mit Riten und Mythen anderer Völker und Kulturen sollen darüber Auskunft geben, worin die Abhängigkeit und worin die Unabhängigkeit der antiken Tradition von Orts- und Zeitverhältnissen besteht. Auf der Suche nach übergeordneten Entwicklungslinien, Gesellschaftsinformationen und logischen Denkstrukturen, nach Konstanten und Invarianten wird das Vorbild der Griechen destruiert und bleibt dennoch in eben dieser Suche virulent.

Tatsächlich geht das theoretische Handwerkszeug der Anthropologen der Antike oft kaum über einseitige, bis in die griechische Philosophie zurückreichende Vorgaben hinaus. Die methodischen Prämissen richten sich weitgehend nach dem Prinzip der eindeutigen Klassifizierbarkeit. Die ethischen Intentionen zielen auf Balance und Harmonisierung. Vorherrschende Wahrheitskriterien sind (nicht anders als in anderen Wissenschaften bis heute) Konsistenz, Stimmigkeit und Einheitlichkeit. Die reduktionistische Grundtendenz zeigt sich ebenso in der Ambivalenz einiger Autoren gegenüber ihren Stoffen, die häufig in bewährter Manier ausagiert wird: Die Abwehr geriert sich als Nüchternheit, das Anziehende wird zum Abstoßenden erklärt. Das Denken in Dualismen und Polaritäten dient als Schild, der den beunruhigenden Komplexitäten der Stoffe und der von ihnen ausgehenden Faszination entgegengehalten wird.

Die Geschichte der Anthropologie der Antike ist darüber hinaus durch dreierlei Affinitäten bestimmt: zur christlichen Theologie, zum Vernunftglauben der Aufklärung sowie zur subversiven und mystifizierenden Tendenz der Romantik. Moderne Anthropologen lassen die alten Griechen wieder so unheimlich werden, wie sie den Verfechtern der siegreichen christlichen Religion einmal erschienen waren. Bei einer Reihe von Pionieren der Anthropologie der Antike dominiert ein weltanschaulicher Puritanismus, der seine christliche Herkunft nicht verleugnen kann oder will. Wenn Judentum und Orient zu Gegenbildern stilisiert werden, gibt sich die Anthropologie der Antike überdeutlich als Fortsetzung der christlichen Theologie mit anderen Mitteln zu erkennen. Aufklärerischer Impuls kommt hingegen in der Vorrangstellung von Begriffskonstellationen wie Geist und Mythos, Vegetation und Kult zum Vorschein, hinter welchen die konkreten Geschichten von Göttern und Heroen und ihre zitathafte, pragmatische Verbindlichkeit verschwinden – ein Ergebnis, das indessen auch mit theologischen Intentionen oder Prägungen konform gehen kann.

Die Chancen und Gefährdungen der Anthropologie der Antike zeigen sich vielleicht am deutlichsten in ihrer Affinität zur Romantik. Dem Rationalismus der Aufklärung und den von ihm bewirkten Verzerrungen und Verkürzungen...

Erscheint lt. Verlag 15.4.2015
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Schulbuch / Wörterbuch Lexikon / Chroniken
Technik
Schlagworte Aby Warburg • Altertumswissenschaft • Anthropologie • Antike • Claude Lévi-Strauss • Eduard Meyer • Gilbert Murray • Gorgoneion • Jane Harrison • Jean-Pierre Vernant • Mythologie • Otto Jahn • Religionsgeschichte • Sachbuch • Wissenschaftsgeschichte
ISBN-10 3-10-560123-6 / 3105601236
ISBN-13 978-3-10-560123-5 / 9783105601235
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