Zwischen Körper und Schrift (eBook)

Texte vor dem Zeitalter der Literatur
eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
415 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-560075-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Zwischen Körper und Schrift -  Christian Kiening
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Eine Einführung in die Eigenart älterer Texte und das Methodenspektrum einer Wisenschaft, die geschichtlich fremd gewordenen Sinngefügen ihre Faszinationskraft zurückgibt. Systematisch orientierte Fallstudien vermessen das Spannungsfeld von Körper und Schrift, das eine semi-orale Kultur wie die mittelalterliche prägt. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Christian Kiening, geboren 1962, ist Ordinarius für Deutsche Literaturwissenschaft (von den Anfängen bis 1700) an der Universität Zürich. Er war Fellow an der Maison des Sciences de l'Homme, Paris, sowie Gastprofessor an der University of California, Berkeley, und der Universidade de São Paulo. 1998 erhielt er den Preis der Philosophisch-historischen Klasse der Göttinger Akademie der Wissenschaften. Er ist Mitherausgeber der »Altdeutschen Textbibliothek« und der Buchreihe »Historische Semantik«.

Christian Kiening, geboren 1962, ist Ordinarius für Deutsche Literaturwissenschaft (von den Anfängen bis 1700) an der Universität Zürich. Er war Fellow an der Maison des Sciences de l'Homme, Paris, sowie Gastprofessor an der University of California, Berkeley, und der Universidade de São Paulo. 1998 erhielt er den Preis der Philosophisch-historischen Klasse der Göttinger Akademie der Wissenschaften. Er ist Mitherausgeber der »Altdeutschen Textbibliothek« und der Buchreihe »Historische Semantik«.

Vorspiel: Zwischen Körper und Schrift


I


Die »schätzbaren Reste des [deutschen] Altertums hätten viel früher auf mancherlei Weise einen günstigen Einfluß auf mich ausgeübt, hätten sie mich nicht durch ihre rauhe Schale abgeschreckt, welche zu durchbrechen weder mein Naturell noch meine Lebensweise geeignet war […], das Rohe und Ungeschlachte, was sich an ihnen findet, [ist] zwar dem Charakter jener Zeit angemessen, auch bei der historischen Würdigung wohl notwendig zu beachten, keineswegs aber zur wahren Schätzung nötig und dem Genuß durchaus hinderlich.«

So schreibt Johann Wolfgang von Goethe 1811 an Friedrich Heinrich von der Hagen, den Erneuerer des Nibelungenlieds und begeisterten Förderer der ›altdeutschen Poesie‹.[1] Zwiespältig ist Goethes Urteil und zwiespältig generell seine Haltung gegenüber den alten Texten. Er findet das, was die ›Mittelältler‹, also die Romantiker, zutage fördern, meist ungenießbar oder mittelmäßig. Auch das Nibelungenlied, das er den Damen der Mittwochsgesellschaft vorliest, bleibt in manchem fremd: »die Nibelungen so furchtbar, weil es eine Dichtung ohne Reflex ist; und die Helden wie eherne Wesen nur durch und für sich existieren.«[2] Und doch arbeitet er sich sukzessive in den Text ein. Er legt Verzeichnisse der Figuren an und skizziert »flüchtige Aufsätze über Lokalität und Geschichtliches, Sitten und Leidenschaften, Harmonie und Inkongruitäten«. Nach dem Vorbild der Voßischen Karten zu altgriechischen Dichtern entwirft er eine Karte zur Geographie des Textes, »die auf sehr hübsche Reflexionen führt«.[3] Das Nibelungenlied fasziniert Goethe, weil es ihm der antiken Dichtung näher zu stehen scheint als der mittelalterlichen, weil es die Einbildungskraft anregt – was noch besser zu Wirkung käme, wenn der Text, in Prosa übertragen, von unnötigem Reimgeklingel und »vielen Flick- und Füllversen« befreit wäre.[4] Anders als August Wilhelm Schlegel, der im Nibelungenlied ein Stück deutschen ›Nationalcharakters‹ wiederfindet, wird Goethe das alte Epos zu einem archäologischen Objekt, dessen Fremdheit unverkennbar, dessen Imaginationspotential aber wiedergewinnbar ist. Die Zeit, aus der es kommt, sieht er, anders als die Romantiker, nicht als die glorreiche Ära des starken Kaisertums und der ungeteilten Christenheit. Das Mittelalter ist für ihn eine Epoche des Unreifen und Unvollendeten, die alte Dichtung ›Bildungsstufe einer Nation‹, Durchgangsstadium zu ästhetisch wertvolleren, harmonischeren und komplexeren Formen. Der Blick auf die deutsche Vergangenheit führt nicht zu einer Aufhebung historischer Distanz. Er sucht nicht nach einem politischen oder religiösen Vorbild für die eigene Zeit. Er sucht nach dem, was die Bedingtheiten der Zeit übersteigt.[5]

Zwei Haltungen gegenüber den älteren Texten treffen im frühen 19. Jahrhundert, zur Zeit der Entstehung einer akademischen Germanistik, aufeinander. Einerseits das Bewußtsein historischer und ästhetischer Differenz, begleitet nicht selten von einer teleologischen Vorstellung vom Gang der Geschichte und der Entwicklung der Künste. Andererseits die Nivellierung des Zeitenabstands im Brückenschlag zwischen Einst und Jetzt, begleitet vom Ideal einer vergangenen goldenen Zeit und einer ursprünglichen, naturhaften Poesie. Die Haltungen sind nicht immer streng zu trennen. Die Sehnsucht nach Wieder-Holung des Vergangenen kann in dem Maße, in dem sich das Vergangene als nicht wiederholbar erweist, in ein Bewußtsein von Distanz umschlagen: Diese Tendenz ist schon der romantischen Mittelalterbegeisterung inhärent.[6] Umgekehrt kann die Betonung der Differenz zwischen Vergangenheit und Gegenwart in den Dienst einer Geschichtskonzeption treten, der ihrerseits daran gelegen ist, Vergangenheit und Gegenwart zu synthetisieren: Goethe setzt das Mittelalter ab von der allein vorbildhaften klassischen Antike. Einem Werk wie dem Nibelungenlied, das ihn durch seinen Reichtum in Bann zieht, nähert er sich mit den Methoden der Klassischen Philologie – wie Generationen von Germanisten nach ihm.[7]

Die Eigenheit des Vergangenen wird auf diese Weise gemildert oder instrumentalisiert. Das Vergangene wird entweder dem Gegenwärtigen anverwandelt oder bietet eine Negativfolie für die Erneuerung klassischer Bildungs- und überzeitlicher Literaturideale. Dieses Verfahren ist durchaus charakteristisch – nicht nur für die Gründungszeit des Faches. Zugespitzt ließe sich behaupten, die Geschichte der Altgermanistik sei über weite Strecken eine Geschichte der Aufhebung der Eigenheit ihres Gegenstandes. Aufhebung zum Beispiel durch Patriotismus, der in der Vergangenheit eine Identifikations- und Projektionsfläche für die Gegenwart suchte, oder durch Positivismus, der sich auf Fragen von Textkritik und Sprachanalyse, Quellenforschung und Motivgeschichte beschränkte. Ausnahmen bestätigen die Regel. Als Clemens Lugowski 1932 seine Abhandlung über Die Form der Individualität im Roman vorlegte, stand er fast allein. Kaum zufällig hielt er sich, um die Eigenheit mittelalterlichen Erzählens zu charakterisieren, an einen Philosophen, den Neukantianer Ernst Cassirer. Dessen Mythoskonzept sollte es ermöglichen, epische Welten nicht im Blick auf aktuelle Lebensverhältnisse zu beschreiben, sondern in ihrer Künstlichkeit, das heißt in der historischen Eigentümlichkeit nichtkausaler Motivationen, nicht-psychologischer Begründungen und nicht-individueller Verhaltensweisen.[8]

Lugowskis Buch brachte keinen Durchbruch. Es wurde zurückhaltend aufgenommen und geriet in Vergessenheit. Ein Paradigmawechsel war nötig, damit die in ihm enthaltene Frage dem Fach zum Anliegen werden konnte. Er ereignete sich in den sechziger und siebziger Jahren. Nicht nur traten neue Gebiete (vor allem das Spätmittelalter) ins Licht der Forschung. Im Gefolge von Rezeptionsästhetik, Strukturalismus und Textlinguistik machten auch neue Theoriekonstellationen und Methodenreflexionen die prekäre Beziehung sichtbar zwischen den Modellbildungen der Forschung und der Eigenart ihrer historischen Objekte.[9] Man begann darüber nachzudenken, welche Grenzen dem Verstehen mittelalterlicher Dichtung gesetzt sind.[10] Äußere Grenzen durch fragmentarische Überlieferung, isolierte Position, singuläre Sprachlichkeit eines Textes. Innere Grenzen aufgrund von Eigenarten der Komposition, der Logik und des Stils, die dem modernen Leser oder Interpreten unvertraut sind. Eine Möglichkeit, mit diesen Grenzen umzugehen, konnte heißen, sie zurückzudrängen: durch umfassende Rekonstruktion von Kontexten und Einfühlung in die mittelalterlichen Denkkategorien. Eine andere konnte darin bestehen, diese Grenzen als Herausforderung zu sehen für einen unabschließbaren, immer von Gegenwärtigkeit und Intuition gezeichneten Deutungsprozeß.[11]

Den prägnantesten Nenner für die methodologische Situation fand der Romanist Hans Robert Jauß. Unter dem programmatischen Titel Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur formulierte er 1977 das Anliegen einer Generation, die nicht mehr auf die Selbstverständlichkeit setzte, mit der die Nationalphilologien lange ihren Gegenstand behandelt hatten: als Zeichen einer Kontinuität nämlich, deren sich die Philologie in der identitätsstiftenden Beschäftigung mit der Vergangenheit je neu versichert. Wo solche Identitätsstiftungen brüchig wurden, wo neue Gegenwartserfahrungen Diskontinuitäten und Inhomogenitäten hervortreten ließen, schärfte sich auch der Sinn für Differenzen zwischen älteren und neueren Texten wie für notwendige Differenzierungen des Beschreibungsinventars. Jauß skizziert ein je neues Wechselspiel von ästhetischem Vergnügen und befremdender Andersheit.[12] Ästhetisches Vergnügen im naiven Sinne kann sich an mittelalterlichen Texten entwickeln, die der modernen Imagination verwandt sind: Texte also, die abenteuerliche, wunderbare und geheimnisvolle Welten entwerfen, wie sie uns im Bereich der fantasy noch allenthalben begegnen. Ästhetisches Vergnügen im reflektierten Sinne kann sich an Texten entwickeln, die durch den Kontrast zu modernen ästhetischen Erfahrungen reizen: Texte also, die weniger durch Innovation als durch Variation glänzen, die mit allegorischen Sinnebenen arbeiten, die Innerlichkeit nur im Spiel äußerer Mächte zu erkennen geben. Eben solche Texte sind aber auch bereits Ausdruck dessen, was die Alterität der mittelalterlichen Literatur ausmacht.[13] Auf der Ebene der Handlung: Brüchigkeit der Logik, Typenhaftigkeit der Figuren, Schematik von Handlungsmustern; auf der Ebene des Textes: Unfestigkeit der Überlieferung, Fehlen eines klaren Werkbegriffs, Mangel an auktorialer Kontrolle.

Alterität und Modernität greifen ineinander. Das Befremdende kann zum Vertrauten, das Spannungslose zum Reizvollen, das Alte zum Modernen werden – wenn es zu einem Prozeß ästhetischer Erfahrungsbildung kommt. Aufbauend auf der Hermeneutik Hans-Georg Gadamers sieht Jauß den Bezug zwischen den Texten verschiedener Epochen und generell zwischen Vergangenheit und Gegenwart im Modell von Frage und Antwort. Es gilt, die Frage zu rekonstruieren, auf die ein Text antwortet, und mit ihr die ästhetische Erfahrung, die er ermöglicht. Den Sinn eines Textes zu erschließen heißt die Erwartungshorizonte des Textes, der Gattung und späterer Rezeptionssituationen zu erschließen, um...

Erscheint lt. Verlag 15.4.2015
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Schulbuch / Wörterbuch Lexikon / Chroniken
Technik
Schlagworte Anthropologie • Apollonius-Roman • Autorinszenierung • Frauendienst • Konstantinopel • Minne • Minnediener • Minnedienst • Minnelied • Minnesang • munleun • Pavia • Personifikation • Pour Maria • Sachbuch • Schionatulander • Tagelied • Ulrich von Liechtenstein • Willehalm • Wolfram von Eschenbach
ISBN-10 3-10-560075-2 / 3105600752
ISBN-13 978-3-10-560075-7 / 9783105600757
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