Der weinende Leser (eBook)
199 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-560031-3 (ISBN)
Otto F. Best, Dr. phil., Jahrgang 1929, studierte Germanistik, Romanistik und Philosophie. Langjährige Arbeit als Verlagslektor, von 1968 bis 1996 Professor für Deutsche und Vergleichende Literaturwissenschaft an der University of Maryland, USA.
Otto F. Best, Dr. phil., Jahrgang 1929, studierte Germanistik, Romanistik und Philosophie. Langjährige Arbeit als Verlagslektor, von 1968 bis 1996 Professor für Deutsche und Vergleichende Literaturwissenschaft an der University of Maryland, USA.
I Eine »verderbliche Art von Buchhandel«
Seit 1881 ist das Wort »Kitsch« belegt; allgemein gebräuchlich wurde es erst zwischen 1910 und 1920. Noch immer ist jedoch ein seltsames Mißverhältnis zu konstatieren zwischen dem kulturhistorischen Wirkungsradius der Erscheinung Kitsch, der Rolle, die sie in der modernen Massengesellschaft spielt, und den offensichtlich höchst bescheidenen Informationen zur semantischen Grundlage des Begriffs. Es sollte indessen nicht vergessen werden, daß das Wort »Kitsch« keineswegs nur zur Klassifizierung ästhetischer Werte dient. Bücher – gerade von ihnen wird im folgenden die Rede sein – sind und waren zugleich materielle Werte, Objekte von Kauf- und Verkaufsinteresse. Sie werden nicht nur gelesen, kritisiert und »verbraucht« von Menschen, sie müssen von ihnen auch hergestellt und vertrieben, d.h. an den lesekundigen Konsumenten gebracht werden. Ein höchst profaner Vorgang, auf den die Veränderung der literarischen Marktverhältnisse von nicht geringem Einfluß gewesen sein dürfte.
Erste Berichte darüber, daß das »Volk« lese, sollen im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts aufgetaucht sein. So heißt es in einem Kommentar zum »deutschen Meßkatalogus« (1780), noch vor 60 Jahren hätten bloß Gelehrte Bücher gekauft, jetzt fände sich der »lesende Teil« unter allen Ständen: »in Städten und auf dem Lande«, sogar die Musketiere in großen Städten ließen sich »aus der Leihbibliothek Bücher auf die Hauptwache holen.«
Was ist daran so ungewöhnlich, mag manch einer fragen, dem Lesen zur lieben Gewohnheit wurde. Tatsache ist, daß bei dem Volk, der »großen Masse« der Bevölkerung im Unterschied zu den mittleren und oberen Schichten, das Lesevermögen bis dahin nur minimal entwickelt war.
Ist die Zunahme der Zahl der Lesenden ein Erfolg, den die Popularaufklärung für sich verbuchen konnte? Ja und nein. Denn das Volk liest zwar, aber nicht das, was ihm seine Erzieher verordnen. Zu deren Kummer wendet es sich der »Massenliteratur« zu, jener Art von Literatur also, die das vielbeklagte Ergebnis von Entindividualisierung und Entsubjektivierung im Bereich der Literatur ist. Hatte man sich früher entrüstet über die »Trägheit« der Masse, das Ausmaß von Analphabetentum, so wurde man jetzt nicht müde, die »Lesesucht« zu geißeln. Der Angriff richtete sich vor allem gegen jene, die das Volk zum »falschen Lesen« verführten. Es sind dies die mächtigen Lesestofflieferanten des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts: die Kolporteure. Die »Mehrzahl der Kolporteure«, heißt es, seien »habgierige und gewissenlose Menschen«; sie trieben »mit der im Volke vorhandenen Lesesucht den ärgsten Mißbrauch«; sie drängten ihm schlechte und immer schlechtere Schriften auf; »sie wendeten sich, um einen desto größeren Gewinn zu erzielen, an alle niedrigen Neigungen des Menschen und verstärkten dieselben dadurch in für das Volkswohl wahrhaft bedrohlichem Maße.« Der Kolporteur als Störenfried und Quertreiber im Erziehungsprogramm, das den Menschen aus der, wie Kant es so lapidar wie simplifizierend nennt, »selbstverschuldeten Unmündigkeit« herausführen soll.
Was die Kolporteure – der Begriff ist vom frz. col: »Hals« und porter: »tragen« abgeleitet –, die »zigeunernden«, »vagabundierenden« Buchhändler feilboten, galt den etablierten, »seßhaften«, den »echten« Buchhändlern als »Teufelszeug«. Daß es nichts taugen konnte, lag für sie auf der Hand. Denn schon die Tatsache, daß es von »Wandernden«, »Fahrenden« aus Bauchladen oder Kiepe und nicht vom Regal mit seinem »geordneten« Warenbestand angeboten wird, ist nach traditioneller Vorstellung wertmindernd. Ja, mehr noch, die Handelsform verweist auf den Teufel, den unsteten, sich wandelnden. Dennoch waren die Kolporteure die einzigen, die ein Interesse daran hatten, die (neuen) Lesermassen abseits von den großstädtischen Zentren mit Stoff zu versorgen. Johann Gottfried von Pahl, württembergischer Prälat und Superintendent, äußert sich in seinen Lebenserinnerungen wie folgt über die neue, in seinen Augen »verderbliche Art von Buchhandel« und die von ihren Vertretern auf Jahrmärkten feilgebotene oder in Dörfern umhergetragene Ware:
»Diese Ware bestand in kleinen Büchlein oder einzelnen Blättern, die zwar auf Löschpapier und mit stumpfen Lettern gedruckt, aber mit Holzschnitten und rothen Titeln geschmückt waren, und um den sehr geringen Preis von ein paar Kreuzern verkauft wurden. Aber diese Producte, statt dem Unterrichte und der Bildung des Volkes förderlich zu sein, waren im Gegentheile die Niederlagen und die Werkzeuge des rohen Aberglaubens, der Dummheit und des Betrugs, in dem sie ihren Lesern schauerliche Mord- und Hinrichtungsgeschichten, Erzählungen von Gespenstererscheinungen, gräßlichen Naturbegebenheiten, Wundern und Himmelszeichen, sichtbaren göttlichen Strafgerichten, von Hexen- und Unholdwerk, Prophezeiungen von großen Landplagen und Unglücksfällen, oder gar von dem nahe bevorstehenden Ende der Welt, Anpreisungen von unfehlbaren Arzneimitteln und von mannigfaltigen Kunststücken, um auf mühelose Weise viel Geld zu erwerben, Formeln, um Geister zu beschwören und die in der Erde liegenden Schätze zu eröffnen, Gebete und Lieder voll gotteslästerlichen Unsinns, – und dieß alles in einer rohen, gemeinen Sprache, selbst mit Vernachlässigung der ersten Regeln der Orthographie zum Besten gaben.«
In einem Gutachten für das Königliche Württembergische Polizeipräsidium, das gleichfalls aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stammt, wird der Sorge Ausdruck gegeben, daß von diesem »Bücher-Trödel mancher Schade über dem Volke … zu besorgen sei«. Denn unter »Trödel« ist eine geringwertige Sache zu verstehen, »Tand« d.h. »geringe Ware«, wie sie auch der »Höker« als »Hucke« auf dem Rücken trägt, um sie zu »verhökern«.
Mit der schrankähnlichen Kolportagekiste, der an eine Weinbütte erinnernden Kiepe oder dem Bauchladen zogen die Kolporteure durch das Land. Ca. 3500 von diesen Buchhausierern soll es Mitte des 19. Jahrhunderts in Frankreich gegeben haben. Eine bedeutende Rolle als Produktions- und Umschlagsort von Kolportage spielten das Elsaß und die angrenzenden Länder. Wie Rudolf Schenda (Volk ohne Buch) mitteilt, durchliefen im Jahre 1858 nicht weniger als 83 Kolporteure allein das Unterelsaß mit der Hauptstadt Straßburg. Im Laufe des Jahres 1865 hätten in diesem Department 70 Kolporteure einen Kolportagepaß erhalten, bzw. wenn sie bereits einen hatten, diesen verlängert bekommen. Viele Kolporteure aus dem bayerischen Pirmasens hätten im Elsaß gearbeitet, wo angesichts der besseren Produktionsbedingungen massenhaft literarische Schmuggelware hergestellt und nach Baden, Württemberg und Bayern, vor allem, auf den Weg gebracht wurde.
Müßte nach dem bislang Gesagten nicht hier mit seinen Überlegungen beginnen, wer die Ursprünge des Wortes »Kitsch« zu ergründen sucht?
Zunächst: der Sprachforscher Friedrich Kluge setzt »Kitsch« und »Schund« gleich und gibt an, die Bezeichnung »namentlich von Bildern« sei um 1870 von Münchner Kunstkreisen ausgegangen; Ferdinand Avenarius, der Herausgeber des Kunstwarts, leite das Wort ab von engl. sketch: »Skizze«. Einer der ersten Belege für seine Verwendung besage: »Die kleinen Genrebilder werden mit fabrikmäßiger Oberflächlichkeit hergestellt, werden gekitscht.« Die farbige Konklusion des berühmten Germanisten: »So ist wohl … von kitschen ›den Straßenschlamm mit der Kotkrücke zusammenscharren‹ auszugehen. Der geglättete Schlamm, das Gekitschte oder der Kitsch, lieh die Schelte des schlechten Bildes im soßigbraunen Farbton der Ateliertunke.«
Mit Recht bezweifelt Trübners Wörterbuch die Glaubwürdigkeit von Avenarius' Bericht: Der Umweg über engl. sketch sei nicht nötig. Trübner verweist auf das mundartliche Wort »kitschen«, das im Mecklenburgischen sich schnell fortbewegen bedeute und schon im Begriff des »Entlangstreichens« hervortrete, den besonders das Rheinische kenne. Auch die Zusammensetzung »verkitschen« bezieht Trübner auf die von ihm angeführte Bedeutung. Mithin wäre der Begriff aus dem Bereich des »schmutzigen« Alltags auf jenen der bildenden Kunst und schließlich der Literatur übertragen worden. Vertreter des Naturalismus hätten als »gekitscht« ein Drama bezeichnet, das mit einem verlogenen Happy-End aufwartete. In der Malerei bezeichne das Substantiv »Kitsch« »Eine süßliche Richtung … entgegengesetzt dem gesunden (!) Realismus.«
»Verlogenes Happy-End«, »kranke Romantik« – Spuren, die man hätte verfolgen können. Offenbar hielt man dies nicht der Mühe wert, wie die beharrliche Wiederholung des längst fragwürdig Gewordenen noch in Werken wie Historisches Wörterbuch der Philosophie oder Kulturpolitisches Wörterbuch – Bundesrepublik Deutschland/DDR im Vergleich beispielsweise beweist.
Ehe wir im einzelnen auf die erwähnten Spuren eingehen, ist noch eine weitere Ableitung zu erwähnen: Elsa Mahlers Vorschlag, von russisch kischiza »sich für mehr ausgeben« auszugehen. Sie überzeugt so wenig wie die anderen aufgeführten Ableitungen. Allesamt wirken sie gezwungen, erscheinen eher als Notbehelf; es fehlt ihnen an innerer Schlüssigkeit. Daß ein Wort mit dem Sinngehalt...
Erscheint lt. Verlag | 15.4.2015 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Schulbuch / Wörterbuch ► Lexikon / Chroniken |
Technik | |
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ISBN-10 | 3-10-560031-0 / 3105600310 |
ISBN-13 | 978-3-10-560031-3 / 9783105600313 |
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