Demokratie und Differenz (eBook)

Vom klassischen zum modernen Begriff des Politischen
eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
272 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-560021-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Demokratie und Differenz -  Hauke Brunkhorst
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Ist der Mensch ein politisches Lebewesen? In einer modernen Gesellschaft, die von Privatinteressen und Individualismus geprägt ist, ist dies mehr als fraglich geworden. Was ansteht, ist eine neue, normativ starke Version von Demokratie, die den gleichen Rechten freier Bürger ebenso Rechnung trägt, wie sie einen Rahmen bildet für die gemeinsame Ausübung politischer Souveränität. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Prof. Dr. Hauke Brunkhorst ist seit 1997 Professor und Leiter des Instituts für Soziologie in Flensburg, zuvor hatte er unter anderem bereits die Lehrstühle für Erziehungswissenschaften (Mainz), Philosophie (Frankfurt/M.) und Politische Theorie (Berlin und Duisburg) inne. Der vielseitige Gesellschaftsphilosoph und Kulturwissenschaftler hat sich im Rahmen seiner unzähligen Publikationen auch intensiv mit Habermas und dessen philosophischen Denken auseinandergesetzt.

Prof. Dr. Hauke Brunkhorst ist seit 1997 Professor und Leiter des Instituts für Soziologie in Flensburg, zuvor hatte er unter anderem bereits die Lehrstühle für Erziehungswissenschaften (Mainz), Philosophie (Frankfurt/M.) und Politische Theorie (Berlin und Duisburg) inne. Der vielseitige Gesellschaftsphilosoph und Kulturwissenschaftler hat sich im Rahmen seiner unzähligen Publikationen auch intensiv mit Habermas und dessen philosophischen Denken auseinandergesetzt.

Einleitung


Ist der Mensch ein politisches Lebewesen? – In der von Platon und Aristoteles ausgehenden klassischen Lehre von der Politik ist diese Frage immer bejaht worden. Das moderne politische Denken beginnt hier mit einer Negation. Der Mensch wird von Hobbes in den Naturzustand zurückversetzt und zum unpolitischen Wesen erklärt. Die menschlichen Geselligkeiten gelten fortan für ungesellig, weil die Vergesellschaftung Wesen zusammenführt, die ihrer Natur nach unabhängige Einzelgänger sind. Der moderne Mensch erfährt das Zusammenleben in einer politischen Gemeinschaft, das für Aristoteles noch die natürlichste Sache der Welt war, als tiefe Entfremdung von seiner eigentlichen, gemeinschaftsfernen Natur, als Verlust einer ursprünglichen Freiheit.

Von beiden Positionen sind wir heute ungefähr gleich weit entfernt. Denn die alte These, der Mensch sei ein politisches Lebewesen, hat Voraussetzungen, die wir kaum noch teilen. Sie setzt voraus, das Leben in einer möglichst vollkommenen politischen Gemeinschaft sei das höchste, dem Menschen objektiv vorgegebene Ziel seines Lebens und seines Strebens. Der einzelne Mensch ist nichts, aber Rom, die Stadtrepublik, ist ewig. Neben dieser ontologischen Voraussetzung hat die klassische Lehre eine soziale, die uns ziemlich fremd geworden ist. Das gemeinschaftliche gute Leben kann sich immer nur als partikulare Gemeinschaft der wenigen Menschen verwirklichen, die das Ziel ihres Lebens erreichen und reich und tugendhaft genug sind, um für wahre Bürger der Stadt gelten zu können.

Das moderne politische Denken seit Hobbes und Locke, Kant und Rousseau hat dagegen, vor dem Hintergrund einer mittlerweile protestantisch radikalisierten, monotheistischen Tradition, den Gedanken der Gleichheit aller Menschen nun auch politisch stark gemacht und den antiken Gedanken verworfen, die Welt sei ein im ganzen wohlgeordneter, an sich vernünftig eingerichteter, hierarchisch gegliederter Zusammenhang. Die Natur wurde zusehends kontingenter und der menschliche Kopf, die verständige Rede oder die kooperative Praxis zum Ort, an dem sich die Vernunft selbst erzeugt. Das ist bis heute das tragende Selbstverständnis der Moderne. Aber sie hatte es anfänglich unter Voraussetzungen gestellt, die nicht zu halten waren. Die Anklage, die Hegel besonders wirkungsmächtig formuliert hat, lautet auf einen doppelten Atomismus. In Frage gestellt wurde die Annahme eines Naturzustands, der von isoliert lebenden, wesentlich voneinander unabhängigen Atommenschen bevölkert wird. Und ins Zwielicht geriet im Fortgang der Erfahrungen, die die Menschen mit dem modernen Leben gemacht haben, auch der mit dem ontologischen Atomismus eng verwandte Besitzindividualismus.

Die These, die ich in diesem Buch verteidigen möchte, ist die, daß es eine moderne, normativ gehaltvolle Idee der Demokratie gibt, die sich selbst trägt, die die seit Hobbes artikulierte Kritik am aristotelischen Begriff des Politischen teilt, aber ohne ontologischen oder auch nur methodischen Individualismus auskommt und dem possessiven Liberalismus entgegengesetzt ist.

Ich werde einen egalitären Individualismus verteidigen, der weder ontologisch noch methodisch, sondern politisch ist. Gleichheit schließt Differenz ein, denn es handelt sich hier immer um die Gleichheit inkommensurabler, einander nicht identischer Wesen. Daß alle gleich sind, heißt, daß jeder etwas Besonderes ist.

Ich werde zeigen, daß der Bruch, den das moderne politische Denken seinem antiken Ursprung gegenüber vollzogen hat, wohl begründet und rational motiviert war. Insofern läßt sich hier durchaus von einem »Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit« (Hegel) reden. Daß sich eine solche Rede von »Errungenschaften« und »Fortschritt« auch ohne allzu starke evolutionstheoretische oder gar geschichtsphilosophische Unterstellungen empirisch wenigstens plausibel machen läßt, wird im folgenden deutlich. Was vom klassischen Republikanismus bleibt, ist zwar der Gedanke einer politischen Selbstorganisation der Freien und Gleichen, wie ihn – wohl zum ersten Mal – die Aristotelische Politik zum Ausdruck bringt. Partizipative Demokratie zielt auf eine Aufhebung politischer Entfremdung. Aber dieser Gedanke verkehrt sich unter den beiden unverzichtbaren Voraussetzungen moderner demokratischer Politik, der Freiheit von Politik und Gemeinschaft und der fundamentalen Gleichheit aller Rechtsgenossen, fast in sein Gegenteil. Das relativiert die republikanisch beflügelte Kultur- und Zeitkritik, die der Moderne die Diagnose einer tiefsitzenden Politikvergessenheit stellt. Sie ist nicht falsch, aber einseitig. Sie muß deshalb um die Diagnose des Rationalitätsdefizits negativer Freiheit zumindest ergänzt werden.

Im Anschluß daran werden zwei republikanische Rettungsversuche dargestellt, denen es darum zu tun ist, etwas von der Substanz der klassischen Lehre in einen dezidiert modernen Kontext hinüberzuretten. Aber Hannah Arendt gelingt das nur um den Preis einer Reduktion der modernen Elemente auf Innovation und Herkunftsdistanz. Die Blindheit für die neue Idee der Freiheit, die am Beginn der modernen Revolutionen steht, führt schließlich zum Scheitern ihres Versuchs, ein aristotelisches Verständnis von Öffentlichkeit mit der Idee der Gleichheit zu vermitteln. Das ändert nichts daran, daß ihre Analyse der revolutionären Dynamik moderner Politik deshalb so überzeugend ist, weil sie gegen ein technizistisch verkürztes politisches Denken an der klassischen Unterscheidung von Praxis und Technik festhält. Während Hannah Arendt Existentialismus und Republikanismus zu verbinden sucht (und sich dadurch von der jungkonservativen Synthese von Existentialismus und Technik abhebt), sucht Michael Walzer nach einem Ausweg aus der Sackgasse, in die die kommunitaristische Kulturkritik allmählich hineingerät, indem er Liberalismus als kollektive Wertbindung empfiehlt. Die Schwäche seines Versuchs, Gerechtigkeit und Gemeinschaft zu einem Begriff komplexer Gerechtigkeit zu integrieren, besteht aber in einer Preisgabe des Standpunkts der Unparteilichkeit in dem Augenblick, in dem unsere westlich-liberale Wertbindung mit anderen Formen der kollektiven Wertbindung zusammenstößt. Sie wird damit der eigentümlichen Dialektik unserer eigenen nordatlantischen »Werbindung« an den europäischen Rationalismus nicht gerecht. Denn dieser besteht seit langem in der dialektischen Verschlingung der eigenen Kultur mit den anderen, gleichzeitig ein- und ausgegrenzten. Es ist gewissermaßen zur »kollektiven Wertbindung der westlichen Kultur« geworden, »nicht mit sich identisch« zu sein.[1] Das zwingt uns aber gerade im Konfliktfall, nicht auf je unseren letzten Wertstandpunkt zurückzufallen und dann die Waffen entscheiden zu lassen, sondern das Potential an Gründen zu mobilisieren, die für alle am jeweiligen Konflikt Beteiligten, sie mögen unsere Wertbindung teilen oder nicht, letztlich überzeugend sind oder doch sein sollten. Rechtlich und berechtigt kann immer nur der Zwang sein, der auch aus der Perspektive der Zwangsunterworfenen als ein berechtigter erscheint oder zumindest erscheinen könnte.

Was beide, Arendt und Walzer, verfehlen, ist die innere Verwiesenheit des modernen Demokratieprinzips auf eine streng universalistische Idee der Gerechtigkeit. Um diese innere Verwandtschaft von Demokratie und Gerechtigkeit, von Freiheit und Vernunft geht es im zweiten Kapitel. Es beginnt mit der These, daß die modernitätstypische Idee gleicher Rechte eine schrittweise Ablösung der Rechts- und Verfassungsform von der je geschichtlichen Rechtsordnung und Verfassungssubstanz ebenso voraussetzt wie einen Wandel im Freiheitsverständnis, der vom Freiheitsparadigma des Privateigentums zu dem des öffentlichen Vernunftgebrauchs führt. Das läßt sich am Beispiel des Kampfes um den Sozialstaat ebenso demonstrieren wie an den Auseinandersetzungen um die Redefreiheit in der McCarthy-Ära und im Gefolge der Bürgerrechtsbewegungen in den sechziger Jahren, aber es trifft auch auf die Kämpfe der Feministinnen und die jüngsten Auseinandersetzungen um die Rechte immer wieder neuer Minoritäten zu. Es geht in den sozialen Kämpfen der modernen Zeiten den Akteuren und Akteurinnen zwar oft zuerst um Motive des guten Lebens und der Selbstachtung, aber entschieden wird der Kampf zumeist an der Frage der Rechte des Individuums. So ist es kein Zufall, wenn sich im Gefolge solcher Kämpfe um Autonomie Zug um Zug ein offensives, entsubstantialisiertes, ordnungs- und kontextdistanziertes Verständnis unserer fundamentalen Rechte durchsetzt. Individuelle Autonomie ist eine »Instanz gegen die Mächte von Staat und Gesellschaft«[2].

Die Kritik am possessiven Individualismus führt in ihrer Konsequenz jedoch zu einem mit dem Prinzip der Volkssouveränität verbundenen Begriff des öffentlichen Vernunftgebrauchs. Um unsere Rechte ernst nehmen zu können, müssen wir mit der Demokratie ernst machen. Dies führt mich zu Kant und Rousseau zurück. Insbesondere Rousseaus Begriffe der »Volkssouveränität« und der »volonté générale« möchte ich von – bei Rousseau in der Tat naheliegenden – kommunitaristischen Mißverständnissen reinigen und mit den Grundideen des politischen Liberalismus, wie vor allem Rawls sie entwickelt hat, verträglich machen. Erst mit dem Gedanken der Volkssouveränität verabschiedet sich das moderne politische Denken definitiv von der Tradition des Naturrechts und der Bindung von Freiheit an eine bestimmte politische Anthropologie. Mit Rousseau beginnt die moderne Anthropologie des nicht festgestellten Menschenwesens, es ist eine Anthropologie ohne Telos, eine politische...

Erscheint lt. Verlag 15.4.2015
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Schulbuch / Wörterbuch Lexikon / Chroniken
Technik
Schlagworte Abraham Lincoln • Aristoteles • Athen • Bürgertugend • Gleichheit • Hannah Arendt • John Rawls • Martin Heidegger • Michael Walzer • Naturzustand • Pluralität • Politikvergeßenheit • Rechtsordnung • Rechtszustand • Sachbuch • Thomas Hobbes • Ungleichheit • Verfassung • Vernunft • Volkssouveränität
ISBN-10 3-10-560021-3 / 3105600213
ISBN-13 978-3-10-560021-4 / 9783105600214
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