Europa und die griechische Tragödie (eBook)

Vom kultischen Spiel zum Theater der Gegenwart
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2015 | 1. Auflage
220 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-560120-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Europa und die griechische Tragödie -  Bernhard Zimmermann
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Die Geschichten einer Antigone, eines Oidipus oder einer Elektra sind auf den Theaterbühnen unserer Tage von ungebrochener Präsenz. Seit der Blütezeit der griechischen Tragödie im 5. Jahrhundert vor Christus, als die drei großen Tragiker - Aischylos, Sophokles und Euripides - die Feste der attischen Demokratie beherrschten, hat sich die europäische Kultur die mythischen Bilder dieser Dramengattung immer wieder ins Gedächtnis zurückgerufen. Bernhard Zimmermanns Darstellung eröffnet Wege zu einem vertieften Verständnis der Tragödie: Er porträtiert Leben und Werk der drei großen Dichter, erläutert politisch-institutionelle Hintergründe, erklärt die Funktion des Mythos, der inhaltlichen Grundlage der Tragödiendichtung, und geht auf Fragen antiker Aufführungspraxis ein. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Bernhard Zimmermann, geboren 1955, Studium an den Universitäten Konstanz und London, Promotion 1983, Habilitation für Klassische Philologie 1988.

Bernhard Zimmermann, geboren 1955, Studium an den Universitäten Konstanz und London, Promotion 1983, Habilitation für Klassische Philologie 1988.

Die attische Demokratie und die dionysischen Gattungen


Die Verbindung von Politik und Religion wird noch deutlicher in der jungen, durch Kleisthenes nach der Ermordung des Sohnes von Peisistratos, Hipparchos (514), und der Vertreibung von dessen Bruder Hippias (511/510) begründeten Demokratie (508). Zum zentralen Fest der attischen Demokratie wurden von Anfang an die Großen (oder Städtischen) Dionysien. Es paßt durchaus zur antiaristokratischen Stoßrichtung, die der Gründung der Dionysien durch Peisistratos innewohnte, daß die junge Demokratie das Fest, das Athen in besonderem Glanze erstrahlen ließ, übernahm und beträchtlich erweiterte.

Der Festplan


Erster Tag: Die Dithyramben. Die Großen Dionysien wurden am Abend vor dem ersten Festtag durch eine feierliche Prozession in das Dionysostheater am Südhang der Akropolis eröffnet. Das alte hölzerne Kultbild (brétas) des Dionysos wurde feierlich – gleichsam in einer Art Wiederholung des Gründungsaktes des Festes – aus Eleutherai nach Athen überführt; der Gott war also persönlich bei seinem Fest zugegen. Der erste Festtag wurde durch eine Reihe von politischen Ritualen eingeleitet, die die Emotionen des Publikums ansprechen sollten. So wurden die Söhne der im Vorjahr gefallenen Athener symbolisch mit einer Rüstung ausgestattet, verdiente Bürger ausgezeichnet und die Überschüsse des athenischen Staatshaushaltes säckeweise im Tanzplatz des Chores, der Orchestra, ausgestellt. Die Handlungen dienten einerseits in hohem Maße der Ausbildung eines demokratischen, athenischen Selbstbewußtseins im Innern der Stadt, andererseits der Demonstration athenischer Macht und Größe den anwesenden Fremden, vor allem den Verbündeten gegenüber. Eine vergleichbare doppelte Wirkung fiel in der attischen Demokratie den Epitaphien zu, den alljährlich zu Ehren der Gefallenen gehaltenen Leichenreden, in denen im Rückblick auf die mythische Geschichte und auf die Großtaten der Gegenwart das bürgerliche Selbstbewußtsein gestärkt und die Macht Athens gepriesen wurde. Platon läßt in seinem Dialog Menexenos Sokrates diese doppelte Wirkung – Selbstvergewisserung im Innern und Demonstration von Macht und Größe nach außen – analysieren spöttisch-ironisch (235 a–b):

»Auch die Stadt verherrlichen sie [die Redner, d. Verf.] auf jede Weise und preisen nicht nur die im Krieg Gefallenen, sondern auch alle unsere Vorfahren von früher und sogar uns, die wir heute leben, so daß ich mich durch ihr Lob hoch erhoben fühle […] Und wie es meist der Fall ist, folgen mir auch da einige Fremdlinge, die mit zuhören; in ihren Augen gewinne ich dann auf der Stelle an Ansehen. Denn ich glaube, daß es ihnen mit mir gleich geht wie mit der übrigen Stadt: auch diese kommt ihnen unter dem Eindruck der Rede bewundernswerter vor als vorher.«

(Übersetzung Rudolf Rufener)

Das politische Gepräge des ersten Festtages wird auch in der sich anschließenden Aufführung von Dithyramben unterstrichen, die, wie es scheint, zum ersten Mal 508, also im Jahr der Einführung der Demokratie, stattfand. Nach der auf der Insel Paros gefundenen Chronik, dem Marmor Parium, soll ein sonst unbekannter Hypodikos von Chalkis den Text für den siegreichen Chor geschrieben haben. Jede der zehn Phylen, der neuen, demokratischen Verwaltungseinheiten Attikas, trat mit je zwei Chören, bestehend aus 50 Männern und 50 Knaben, gegeneinander an. Dieser Wettstreit (agón) der Phylen spiegelt in besonderem Maße den demokratischen Charakter der Dionysien wider: Als Sieger wurde nicht der Dichter, sondern die Phyle (das heißt: die politische Einheit, das Kollektiv) ausgerufen. Der Name des Dithyrambendichters wurde nicht einmal auf den Inschriften erwähnt. Die Aufführung von Dithyramben belegt eindrucksvoll die enormen politischen Möglichkeiten, die die Großen Dionysien und die mit ihnen verbundenen Chordarbietungen boten. Das Kernstück der von Kleisthenes durchgeführten demokratischen Verfassungsänderung war die Phylenreform, in der die durch Jahrhunderte gewachsenen und durch familiäre und kultische Bindungen verfestigten vier alten Geschlechterverbände durch zehn neue, gleichsam am Reißbrett entstandene Verwaltungseinheiten mit dem Ziel ersetzt wurden, die alten Bindungen zu zerschlagen. Für die in einem traditionslosen Raum stehende neue demokratische Gesellschaft mußte als oberstes Ziel gelten, sich ihrer neuen Identität als Bürgerverband zu vergewissern und ein neues, demokratisches Zusammengehörigkeitsgefühl zu schaffen, zumal die ersten Jahrzehnte durch innenpolitische Widerstände und vor allem außenpolitischen Druck – zunächst von den Spartanern und seit den neunziger Jahren des 5. Jahrhunderts von der persischen Großmacht – bestimmt waren.

Die neue demokratische Identität sollte einerseits dadurch gefördert werden, daß jede der zehn Phylen einen Phylenheroen und damit einen kultisch-religiösen Bezugspunkt zugesprochen bekam, vor allem aber durch den Wettstreit der Phylen im Dithyrambenagon. Da die Proben der 50 Mann starken Chöre sicherlich einige Zeit vor dem Fest in Anspruch nahmen und vor allem die Gruppe, nicht ein Individuum, im Falle eines Sieges geehrt wurde, war die chorlyrische Gattung Dithyrambos das geeignete Mittel zur Ausbildung und Festigung des neuen demokratischen Bewußtseins. Dies gilt natürlich in besonderem Maße für die Knabenchöre, die auf ihr Leben als Verantwortung tragende attische Bürger vorbereitet werden sollten. Diese politische, identitätsstiftende Funktion wird durch zweierlei unterstrichen: Im Verlauf des 5. Jahrhunderts nehmen Dithyrambenaufführungen geradezu inflationär zu und finden nicht nur an Dionysosfesten statt, wo sie ihren eigentlichen Platz haben, sondern auch zu Ehren anderer Gottheiten wie Athena, Hephaistos oder gar des dem Dionysos eigentlich konträr entgegengesetzten Apollon. Vor allem ist auffallend, daß sich in der Zeit der Auflösung des demokratischen Grundkonsenses, die im oligarchischen Putsch des Jahres 411 ihren Höhepunkt fand, die strukturellen Veränderungen in der Gesellschaft in strukturellen Veränderungen des Dithyrambos niederschlugen. Wie in der Politik einzelne starke Männer wie der brillante und skrupellose Alkibiades ohne Rücksicht auf demokratische Spielregeln und demokratische Gleichheit die Macht zu ergreifen suchten, verlor auch im Dithyrambos das Kollektiv, der 50 Mann umfassende Chor, immer mehr an Bedeutung, während Solisten, der Flötenspieler (Aulet), der Chorführer oder gar Gesangsvirtuosen, in den Mittelpunkt rückten.

Wenn man den »Sitz im Leben« des Dithyrambos berücksichtigt, ergeben sich einige Schlußfolgerungen, die bei einer Würdigung der Gattung Berücksichtigung finden müssen: Zunächst ist der Dithyrambos weit mehr als Tragödie und Komödie die eigentliche Gattung des attischen Volkes. Man muß sich vor Augen halten, daß allein bei den Großen Dionysien 1000 Athener als Sänger im Dithyrambenchor mitwirkten, wobei die zahlreichen anderen Anlässe in Athen und Attika noch gar nicht berücksichtigt sind. Dementsprechend groß ist die Beachtung, die der Dithyrambos als »Bildungsinstitution« des Volkes in der Komödie und vor allem Philosophie, bei Aristophanes und Platon, findet (s.u.S. 54f.). Aufgrund des dichtgedrängten Programms des ersten Tages der Dionysien müssen Dithyrambentexte kurz gewesen sein. Ihr Umfang dürfte zwischen 100 und 250 Versen geschwankt haben, eine Aufführung kann kaum mehr als 20 bis 30 Minuten gedauert haben. Dithyramben waren reine Auftragsdichtungen, bei denen es zwar auf die Qualität des Dichters ankam, da die Phyle den Sieg im Wettstreit erringen wollte. Die einzelnen Stücke wurden jedoch nicht mit dem Namen eines Dichters in Beziehung gebracht, sondern mit dem aufführenden Chor. Dem entspricht die Tatsache, daß von dieser Massenproduktion kein einziges Stück auf dem Weg der handschriftlichen Überlieferung erhalten geblieben ist. Das heißt: Die Philologen der Antike erachteten die Texte nicht für wert, kommentiert und in Ausgaben zusammengefaßt zu werden (s.u.S. 57ff.).

Erst die sensationellen Papyrusfunde am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts brachten aus dem Sand Ägyptens einige Bruchstücke der Dithyramben Pindars (ca. 520 bis nach 446) und fünf ganz erhaltene Gedichte von Pindars Zeitgenossen und Rivalen Bakchylides (ca. 520 bis nach 450) zum Vorschein. Obwohl von Pindars Dithyramben kaum 100 Verse lesbar sind, lassen sich einige wiederkehrende Merkmale feststellen: Der Dichter geht auf den Anlaß der Aufführung, das Dionysosfest, ein und entwirft eine dionysische Theologie. Er preist die Gemeinde, die das Gedicht in Auftrag gegeben hat, und rückt seine eigene Leistung und Bedeutung als Dichter ins rechte Licht: Er allein sei in der Lage, als Vermittler zwischen der Welt der Erinnerung und der Gegenwart zu fungieren, und nimmt für sich in Anspruch, Musenherold, Seher und Prophet zu sein. In die Gedichte ist eine mythologische Erzählung integriert, wobei die zentrale Gestalt, der Heros oder Gott, in irgendeiner Weise eine Beziehung zu dem Anlaß oder der auftraggebenden Gemeinschaft hat. Anders sehen die Dithyramben des Bakchylides aus, die nach ihrer Wiederentdeckung in...

Erscheint lt. Verlag 15.4.2015
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Schulbuch / Wörterbuch Lexikon / Chroniken
Technik
Schlagworte Aischylos • Aristoteles • Athen • Chorlied • Dionysien • Dionysos • Euripides • Europa • Friedrich Nietzsche • Gattung • Geistesgeschichte • Mythos • Orest • Peisistratos • Sachbuch • Sophokles • Theben • Tragödie
ISBN-10 3-10-560120-1 / 3105601201
ISBN-13 978-3-10-560120-4 / 9783105601204
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