Im Bann der Gewalt
Siedler, W J (Verlag)
978-3-88680-885-4 (ISBN)
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Eine radikal neue Perspektive auf das Zeitalter der Weltkriege und totalitären Regime in Europa. Enzo Traverso entfaltet ein Panorama der Jahre zwischen 1914 und 1945, die für ihn zur Epoche eines großen europäischen Bürgerkriegs verschmelzen.
Enzo Traverso gelingt mit dieser Geschichte der europäischen Gewalt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein großer Wurf. Der italienische Historiker bietet einen neuen Ansatz, um zu verstehen, wie die Zivilgesellschaften des europäischen Kontinents innerhalb weniger Jahrzehnte an den Abgrund geraten konnten. Überzeugend deckt er Verbindungslinien zwischen politischen Prozessen und Entwicklungen in Literatur, Philosophie, Kunst und Film auf, die sich über alle ideologischen Lager erstreckten. Die Spirale der Brutalität in Worten, Bildern und Taten drehte sich immer schneller, bis an ihrem Ende schließlich der Holocaust stand.
Das Buch macht eindrucksvoll bewusst, dass die politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts allein aus einem nationalen Kontext heraus nicht zu verstehen sind. Die beiden Weltkriege und die verschiedenen totalitären Regime erscheinen als Teil einer gemeinsamen europäischen Geschichte, die in den Sog eines gewalttätigen Denkens geraten war.
• Ein neuer Blick auf die europäische Geschichte
• Ein packendes Buch über die abgründige Verbindung von Kunst und Politik.
Enzo Traverso, Professor für Politik, wurde 1957 in Gavi, Italien, geboren und lebt seit den 1980er Jahren in Paris. Er unterrichtet an der Universität Amiens und ist Autor zahlreicher Publikationen zu den Themen Nationalsozialismus, Moderne und Gewalt.
Einige Bilder des 20. Jahrhunderts haben sich als visuelle Orientierungsmarken in unser Gedächtnis eingeschrieben. Sie wurden zu Ikonen einer Vergangenheit, deren Sinn und Geschmack sie verkörpern. Jeder kennt Andy Warhols Coca-Cola-Flaschen, die verschwommenen Umrisse Neil Armstrongs, als dieser den Mond betrat, oder das vorgetäuschte Glück von Marilyn Monroes Lächeln. Denken wir allerdings an die Jahrzehnte zwischen dem Anfang des Ersten und dem Ende des Zweiten Weltkriegs, so verdunkelt sich dieses Bild. Man sieht endlose Schützengräben, die Rampe vor dem Lager von Auschwitz-Birkenau im Schnee des polnischen Winters oder den Atompilz von Hiroschima. Das Zeitalter der Extreme hat einen Bildervorrat des Schreckens geschaffen, hinter dem sich eine Welt des Leids, aber auch gemeinsamer gesellschaftlicher Erfahrungen, Kulturen, Ideen und Kämpfe verbirgt, die dieses Buch unter dem Oberbegriff des »europäischen Bürgerkriegs« untersuchen möchte. Dieser Ausdruck wurde bereits in der Zwischenkriegszeit von zahlreichen Kommentatoren und politischen Denkern benutzt, obgleich ihn erst Ernst Nolte auf systematische - wenn auch durchaus zweifelhafte - Weise behandelte. Ich nehme ihn hier meinerseits wieder auf, um mit seiner Hilfe den Sinn einer Epoche der Kriege und Revolutionen zu erfassen, in der die Symbiose zwischen Kultur, Politik und Gewalt die Mentalitäten, Ideen, Darstellungsweisen und Handlungen ihrer Akteure zutiefst prägte. Diese Arbeit möchte also einige historiographische Kontroversen der letzten Jahrzehnte über die Interpretation des Faschismus, Kommunismus und des Widerstands aufgreifen und neu bewerten, um sie durch eine breitere Perspektive zu ersetzen, in der die untersuchten Kontexte zusammengeführt werden. Sie möchte außerdem dem heute weit verbreiteten Anachronismus, der die Kategorien unserer liberalen Demokratie auf das Europa der Zwischenkriegszeit projiziert, als ob es sich dabei um zeitlose Normen und Werte handeln würde, erneut eine historische Perspektive entgegensetzen. Es besteht gegenwärtig die Tendenz, ein Zeitalter der Kriege, Revolutionen und Gegenrevolutionen auf die Schrecken des Totalitarismus zu reduzieren. Diese Versuchung ist umso gewagter, als ja gerade der Bürgerkrieg eine Zeit ist, in der diese angeblich überzeitlichen Normen hinfällig werden. Er hat vielmehr seine eigene Logik und »Gesetze«, die für alle »Kombattanten« gelten, auch und gerade für diejenigen, die zu den Waffen greifen, um gegen den Faschismus und für die Verteidigung oder Wiederherstellung der Demokratie zu kämpfen. Anders ausgedrückt, verfällt man also einem perspektivischen Irrtum, wenn man durch die Brillen von Jürgen Habermas und John Rawls eine Zeit analysieren will, die einen Ernst Jünger und einen Antonio Gramsci, einen Carl Schmitt und einen Leo Trotzki hervorgebracht hat. Erst wenn wir die Demokratie nicht nur als eine Ansammlung von Normen, sondern auch als etwas historisch Gewachsenes betrachten, können wir die entwicklungsgeschichtlichen Bande begreifen, die sie mit dem Zeitalter der Bürgerkriege verbindet. Die Historikerin Annette Wieviorka definierte 1998 unsere Epoche als »Ära des Zeugen«, womit sie die Aufmerksamkeit unterstrich, die man heute den Erzählungen der Akteure der Vergangenheit und hier vor allem der besonderen Kategorie des Opfers entgegenbringt, das im heutigen Wortgebrauch zu einem Synonym für den Zeugen schlechthin geworden sei. Dieser Perspektivwechsel von den »Helden« zu den »Opfern« ging mit dem neuen historischen Bewusstsein einher, wonach das 20. Jahrhundert eine »Zeit der Gewalt« gewesen sei. Auf der Ebene der Geschichtsschreibung führte dieser Wandel dazu, dass die alten positivistischen Forschungsparadigmen, die sich fast nur, wenn nicht sogar ausschließlich auf schriftliche Quellen stützten, auf heilsame Weise in Frage gestellt wurden. Mit dem Aufkommen einer neuartigen »Oral History« wurden auch das Leben und die subjektiven Erfahrungen und Einstellungen der »kleinen Leute« untersucht. Das Interesse der Forscher gilt heute zunehmend den einst vollkommen ignorierten »Zeitzeugen«. Diese Neuausrichtung war fruchtbar, da sie den Forschungshorizont erweitern konnte. Aber die Interaktion zwischen Geschichte und Gedächtnis stellte den Zeithistoriker vor große Fragen, die nicht nur mit dem Status und der Subjektivität der Zeugen zu tun haben. Raul Hilberg hat gezeigt, dass die Massengewalt das Ergebnis eines Dreiecks aus Tätern, Opfern und »Zuschauern« (bystanders) ist. Letztere stellen die »Grauzone« dar, deren Einstellung sich oft für den Ausgang eines Konflikts als entscheidend erweist. Die alleinige Konzentration auf die Erinnerungen der Opfer birgt jedoch die Gefahr, die Rekonstruktion und Überprüfung eines ganz bestimmten Ereignisses zu verfälschen. Dabei gilt es, zwei Klippen zu umschiffen: Einerseits kann die »Empathie« mit den Tätern, die zwar schwerfällt, aber absolut notwendig ist, um deren Motivation und geistige Welt zu verstehen, auch zu deren unangemessener Verteidigung führen (es sei hier nur an den deutschen so genannten »Historikerstreit« der 1980er Jahren erinnert). Andererseits kann aber auch eine einseitige Empathie mit den Opfern die für den Historiker unverzichtbare kritische Distanz aufheben und diesen in einen Anwalt der Erinnerung verwandeln, der einfach nur »mitfühlt«, anstatt zu analysieren und zu verstehen. Dieses Buch vergisst die Opfer nicht. Ein Kapitel ist den Leiden der Zivilisten in den beiden Weltkriegen gewidmet. Es befasst sich aber hauptsächlich mit den Gewalttätern, die, wenn sie denn auch einmal selbst Gewalt erleiden müssen, diese als voraussehbare Konsequenz ihrer eigenen Entscheidungen verstehen. Es handelt sich also, mit anderen Worten, darum, die historische Perspektive wieder auszugleichen, indem man die Akteure der Kriege und Revolutionen auf der Sieger- wie der Verliererseite wieder ins Blickfeld rückt. Diese waren im vorherrschenden öffentlichen Gedächtnis, das das 20. Jahrhundert als eine Zeit des Totalitarismus und des Völkermords erinnerte, völlig in den Hintergrund geraten. Ein Gedächtnis, dessen Paradigma in vielerlei Hinsicht die »Zivilreligion« des Holocaust darstellt. Dadurch drohten einige wichtige Schlüssel zum Verständnis des vergangenen Jahrhunderts verloren zu gehen. Dieser Befund deckt sich auch mit einer bedeutenden methodologischen Bemerkung Reinhart Kosellecks: »Mag die Geschichte - kurzfristig - von Siegern gemacht werden, die historischen Erkenntnisgewinne stammen - langfristig - von den Besiegten.«5 Diese Besiegten des europäischen Bürgerkriegs gehören den unterschiedlichsten Lagern an: Sie heißen Rosa Luxemburg, Antonio Gramsci, Manuel Azana, Leo Trotzki, Walter Benjamin, aber auch Ernst Jünger oder Carl Schmitt. Aus diesem Grund nehmen deren Ideen auch einen großen Raum in dieser Arbeit ein. Sie sind Gegenstand von Überlegungen und analytischer Kritik, wobei die Sympathien und Antipathien, die ich ihnen persönlich entgegenbringe, keine besondere Rolle spielen. Im Jahre 1948 beendete Cesare Pavese seinen Roman über den italienischen Widerstand Das Haus auf der Höhe mit den folgenden Worten: »Ich glaube nicht daran, dass es zu Ende gehen kann. Jetzt, da ich gesehen habe, was der Krieg, was der Bürgerkrieg ist, weiß ich, dass, wenn er eines Tages vorbei wäre, alle sich fragen müssten:>Und was ist nun mit den Gefallenen? Wofür sind sie gestorben?
Erscheint lt. Verlag | 1.9.2008 |
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Übersetzer | Michael Bayer |
Zusatzinfo | mit Abbildungen |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | A Feu et à sang |
Maße | 135 x 215 mm |
Gewicht | 656 g |
Einbandart | gebunden |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► 20. Jahrhundert bis 1945 |
Schlagworte | 1. Weltkrieg • 1. Weltkrieg / Erster Weltkrieg • 2. Weltkrieg • 2. Weltkrieg / Zweiter Weltkrieg • Bürgerkrieg • Europa, Geschichte • Totalitarismus |
ISBN-10 | 3-88680-885-8 / 3886808858 |
ISBN-13 | 978-3-88680-885-4 / 9783886808854 |
Zustand | Neuware |
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