Verschwiegene Not (eBook)

Tabu Inkontinenz - praktische Tipps und Hilfen aus der Psychologie

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
160 Seiten
Hogrefe AG (Verlag)
978-3-456-76233-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Verschwiegene Not -  Karl Müller
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Inkontinenz - wieder mobil und ohne Angst! Rund 12 Millionen Menschen in Deutschland leiden unter einer Blasen- und Darmschwäche oder einem Reiz- darmsyndrom. Die Probleme der Betroffenen, ihre Angst und ihre Scham, werden weitgehend tabuisiert. Die meisten Betroffenen verschweigen ihre Not. Sie befürchten ein Malheur und leiden qualvoll, wenn es passiert. Die Folgen: Scham, sozialer Rückzug und Depressionen. Der diplomierte Psychologe und Verhaltenstherapeut Karl Müller bricht mit diesem Buch das Tabu und die Sprachlosigkeit. Er liefert viele praktische Hilfen, wie ein Malheur verhindert und bewältigt werden kann. Er gibt außerdem konkrete Vorschläge, wie sowohl präventiv als auch in und nach schwierigen Situationen kommunikativ mit einem Malheur umgegangen werden kann. Zudem thematisiert der Autor die gravierenden Folgen von Angstreaktionen. Er zeigt hilfreiche Strategien, wie offen mit Inkontinenz umgegangen werden kann und Mobilität und Würde zurückgewonnen werden können. Sonderteil: Wussten Sie, dass die meisten Entschei-dungen, die Sie treffen, schon feststehen, bevor Ihnen das bewusst wird? Dass Ihre Reaktionen auf Anpassung und Überleben gerichtet sind? Der Autor beschreibt dieses Verhaltens- und Therapiemodell mit Beispielen zur Inkontinenz.

|11|Einführung


Ein grauer Novembertag, früh morgens. Es klingelt an der Tür unserer Gemeinschaftspraxis in Berlin. Davor steht Frau G., etwa 45 Jahre alt, die Frau eines Anwalts. Sie wirkt etwas vornehm, konventionell. Im Sprechzimmer erkundigt sie sich, sehr verlegen, nach der Lage der Toilette. Über ihr Problem befragt, berichtet sie, zeitweise unter Tränen, sie verlasse seit fünf Jahren kaum noch ihr Haus, außer zu dringenden Arztbesuchen. Sie befürchte, sich in die Hose zu machen. Die Arbeit im Büro ihres Mannes habe sie aufgegeben. Er habe sie jetzt gedrängt, sich Hilfe zu suchen. Ursache für ihr Problem sei ein schrecklicher Vorfall während eines Urlaubs in den Bergen.

Frau G. berichtet: „Früher bin oft allein verreist, es hat mir große Freude gemacht. Damals war ich mit einer Gruppe von etwa 15 Leuten auf einer geführten Bergwanderung. Als wir auf dem Gipfelplateau ankamen, bekam ich plötzlich Bauchschmerzen und Durchfall. Der Bergführer bat die ganze Gruppe, sich umzudrehen, während ich am Boden saß und mich erleichtern musste, verbunden mit hässlichen Geräuschen. Ich habe mich zu Tode geschämt und bin nach diesem Vorfall sofort abgereist. Ab da habe ich mich kaum noch aus dem Haus getraut. Bei dem Gedanken, so etwas könnte wieder passieren, gerate ich in Panik. Aber so, wie ich jetzt lebe, ist das Leben nicht lebenswert.“

Die Therapie mit Frau G. war nicht einfach, da sie sich mit zahlreichen Situationen konfrontieren musste, die sie auch früher vermieden hatte. Zum Beispiel traute sie sich auch früher nicht, fremde Menschen nach einer Toilette zu fragen. Schließlich konnte ihr die Therapie helfen. Sie arbeitet wieder, trifft Menschen, kann sich in einer weiten Umgebung bewegen, geht zum Einkaufen. Weite Reisen allein vermeidet sie nach wie vor.

|12|Frau G. entwickelte aufgrund des Vorfalls auf der Bergwanderung eine sogenannte Inkontinenzphobie: die krankhafte Angst, sich in die Hose zu machen beziehungsweise in der Öffentlichkeit die Kontrolle über ihre Ausscheidungen zu verlieren. Die Ursachen bei den meisten Menschen, die sich wegen ihrer Inkontinenz ängstigen und schämen, sind meist andere: Blasenschwäche nach einer Entbindung, Reizdarmsyndrom, entzündliche Darmerkrankungen, Beckenboden- und Schließmuskelschwäche im Alter, Prostataerkrankungen – die Liste ließe sich fortsetzen

Etwa zehn Millionen Menschen in Deutschland sind von einer Inkontinenz betroffen, es wird aber eine viel größere Dunkelziffer vermutet (Patientenbeauftragter, 2023). Die meisten von ihnen leiden unter der Angst und der Scham, wenn ihnen ein Malheur passiert, oder sie befürchten es. Die meisten verschweigen und verstecken ihre Inkontinenz. Fast allen gemeinsam ist die große seelische Not, die sie genauso verbergen wie die körperliche Einschränkung. Auch für ihr soziales Umfeld und für die Gesellschaft ist das Thema tabu. Es ist eine doppelte Sprachlosigkeit und Tabuisierung, die die seelische Not verfestigt und bestärkt.

Was vergessen wird: Wir alle haben, von der Wiege bis zur Bahre, zeitweise keine Kontrolle über unsere Ausscheidungen. Die Bewertungen darüber sind jeweils unterschiedlich. Bei Babys und kleinen Kindern erscheint es als normal, wenn die Windeln voll sind. Bei Erwachsenen, die keine Kontrolle mehr haben, wird das anders bewertet. Es ist der gleiche Vorgang, aber ein anderes Erleben und eine andere Bewertung. Auch im Erwachsenenalter trifft eine gelegentliche Inkontinenz vermutlich alle Menschen, sei es wegen einer Infektion, einer Erkrankung, Volltrunkenheit oder weil keine Toilette zur Verfügung steht. Es ist ein Irrtum, zu glauben, dieses Problem träfe nur alte und kranke Menschen.

Dieses Buch soll all denen helfen, die sich ungewollt in die Hose machen oder es befürchten. Ich beschreibe zahlreiche sichere Möglichkeiten, Inkontinenz zu verhindern und nicht vermeidbare Notfälle zu bewältigen. Das Tabu und die Sprachlosigkeit bei allen Beteiligten muss ein Ende haben. Ich will dazu beitragen, den von Inkontinenz Betroffenen ihre Würde zurückzugeben. Es sollte keinen Unterschied zwischen einer Herz- oder einer Blasenschwäche geben, Mensch bleibt Mensch!

|13|Wichtiges Ziel ist es, den zahlreichen Menschen, die unter einer Blasen- oder Darminkontinenz leiden, zu helfen und (befürchtete) Notfälle zu vermeiden. Wenn es dann doch passiert, gibt es effektive Möglichkeiten, damit umzugehen. Meine Hoffnung ist, möglichst vielen wieder zu Freiheit und Mobilität zu verhelfen. Dazu gibt es in diesem Buch zahlreiche Tipps beziehungsweise Vorschläge, die überwiegend einfach und praktisch umzusetzen sind.

Eine offene und tabulose Debatte ist nicht nur gesellschaftlich dringend notwendig. Ein wichtiges Anliegen ist es mir aufzuzeigen, wie ein offener Umgang mit dem Problem Inkontinenz zu einer Minderung der Ängste und damit auch der Beschwerden beitragen kann. Die Sprachlosigkeit, das Verschweigen ist doppelt und muss auf beiden Seiten geändert werden.

Verschweigen macht krank und fördert Inkontinenz. Gehen Sie häufig präventiv auf die Toilette und trinken zu wenig, so ist das eine Garantie für eine Verschlimmerung der Inkontinenz. Sozialer Rückzug führt zu Ängsten, Depressionen und kann damit die Inkontinenz verstärken. Stress und psychische Belastung sind häufig ursächlich für Blasen- oder Darmschwäche. Bei Erwachsenen wird das in der Regel nicht wahrgenommen.

Es gibt im medizinischen Bereich zahlreiche Möglichkeiten (OPs, kleine Eingriffe, Medikamente), um Blasen- oder Darminkontinenz zu beheben oder abzumildern. Diese Möglichkeiten sind den wenigsten bekannt. Sie sollten umfangreiche Verbreitung finden, z. B. in Arztpraxen. Auf diese Weise könnte vielen geholfen werden. Die Betroffenen müssten dann allerdings auch diese Beratungs- und Therapieangebote nutzen.

Im medizinisch-pflegerischen Bereich wird Inkontinenz, wie überall, tabuisiert, die Not und Verzweiflung der Betroffenen ist kein Thema. Mein Ziel ist die Wahrnehmung und Anerkennung der Inkontinenz als einer ernsten Erkrankung. Vergleichen könnte man das mit einer Schmerzerkrankung oder Diabetes: So selbstverständlich, wie Ärzte hier Fragen stellen und ihre Patienten an Fachzentren überweisen, sollte das auch bei einer Inkontinenz geschehen. Dazu bedarf es keiner aufwendigen Anamnese.

Die Beziehung zwischen Angehörigen und Pflegebedürftigen ist oft schwierig (nicht nur wegen einer Inkontinenz). Einseitige Schuldzuwei|14|sungen werden den Betroffenen nicht gerecht. In den Pflegeeinrichtungen gibt es sicher einfühlsame und fachkompetente Pflegekräfte. Doch daneben wurde in meinen Interviews übereinstimmend von Pflegekräften berichtet, die grob und ungeduldig mit inkontinenten Bewohnern umgingen. Sei es wegen Personalmangel, sei es aus Mangel an Empathie und Fachkompetenz. Auch hier herrschen weitgehend Sprachlosigkeit und das übliche Tabu. Ich will mit diesem Buch zu einem offenen und würdevollen Umgang zwischen Pflegekräften, Angehörigen und den Pflegebedürftigen beitragen.

Manche feministische Bücher über Darm- oder Harninkontinenz (Brett, 2021; Spiess, 2023) wenden sich ausschließlich an Frauen. Tenor: Nur Frauen scheinen darunter zu leiden und werden benachteiligt. Aus meiner langjährigen Praxis als Therapeut und zahlreichen Befragungen zu diesem Buch ergibt sich ein anderes Bild: Männer leiden unter Inkontinenz und Angst vor Bloßstellung genauso heftig wie Frauen. Die Abwertung und das Gegeneinander schaffen noch mehr seelische Not. Es ist sinnvoller, vorhandene Unterschiede aufzugreifen und zu beheben.

Mein Ziel ist es, zu einer Veränderung der gesellschaftlichen, politischen und medialen Tabuisierung des Themas zu beizutragen. Inkontinenz als behandlungstechnisches Thema wird zunehmend in den Medien dargestellt. Das ist eine positive Entwicklung. Dass Millionen Menschen – überwiegend Frauen – in ihren Exkrementen sitzen bleiben und große psychische Not leiden, darüber herrscht jedoch weiterhin umfassendes Schweigen und Ignoranz. Das ist verheerend und muss sich dringend ändern. Die öffentliche Diskussion sollte sich endlich auf ein Problem richten, das für viele Menschen große Not und Ausgrenzung zur Folge hat.

Außerdem finden Sie in diesem Buch einen Überblick über die verschiedenen Formen von Blasen- und Darmschwäche. Wer keine Kenntnis über die Art seiner Erkrankung hat, kann ...

Erscheint lt. Verlag 25.11.2024
Verlagsort Bern
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie
Schlagworte Blaseninkontinenz • Darmentleerung • Harninkontinenz • Scham • Urin
ISBN-10 3-456-76233-X / 345676233X
ISBN-13 978-3-456-76233-3 / 9783456762333
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