Wenn wir alle zusammen lachen (eBook)
238 Seiten
Carl-Auer Verlag
978-3-8497-8504-8 (ISBN)
Katrin Hansch, Dipl.-Marketing-Kommunikationswirtin IMK; Systemische Beraterin artop Institut an der Humboldt Universität Berlin; Geschäftsführerin der Museum&Location Veranstaltungsgesellschaft der Staatlichen Museen zu Berlin mbH.
Katrin Hansch, Dipl.-Marketing-Kommunikationswirtin IMK; Systemische Beraterin artop Institut an der Humboldt Universität Berlin; Geschäftsführerin der Museum&Location Veranstaltungsgesellschaft der Staatlichen Museen zu Berlin mbH.
1
AUTISMUS: EIN SPEKTRUM DER VIELFALT
»Was ist eigentlich diese Krankheit, die Mark3 hat?«, fragt mich mein damals 5-jähriger Neffe. Er meint damit den kurz zuvor diagnostizierten Autismus meines älteren Sohnes.
»Weißt Du«, sage ich, »eigentlich ist es keine Krankheit. Autismus ist nichts, was man hat oder was geheilt werden muss oder kann. Autismus beschreibt eher eine Art des Erlebens und des Seins.«
»Du meinst: ER BLEIBT SO?!«
Mein Neffe schaut mich mit weit aufgerissenen Augen an.
Ich lache. »Ja!«, sage ich. »Er ist, wie er ist. Er ist super. So wie du!«
1.1 Vielfältige Wahrnehmungsmöglichkeiten von Autismus
Mein älterer Sohn war in der Zeit, in der seine Testungen liefen, kein glückliches Kind, und das hat man gemerkt, jeden Tag. Er war anstrengend und träge gleichzeitig, für ihn lag kein Sinn in seinem Tun. Ich habe permanent an ihm herumerzogen, und so haben wir ständig gestritten. Es war grauenhaft und wegen vieler Dinge mache ich mir bis heute Vorwürfe.
Heute sind wir uns einig, mein Großer und ich: Es war nicht der Autismus, der ihn unglücklich gemacht hat. Es waren die Rahmenbedingungen. Die Unkenntnis über sein inneres Erleben, das wirre Bemühen seiner Mutter, ihn ins normale System zu quetschen, und das Nicht(an)erkennen seiner Bedürfnisse.
Erst das echte, wahre Verstehen des individuellen Autismus meines Sohnes und der Bedürfnisse, die für ihn und uns daraus resultieren, hat dazu geführt, dass aus einem unglücklichen Kind ein glückliches und aus einer belasteten Familie eine wurde, die sich auch wieder den schönen Seiten des Lebens widmen kann.
Eine gesicherte Diagnose und damit die Möglichkeit der zunächst abstrakten und theoretischen Auseinandersetzung mit dem Phänomen Autismus haben meinem Mann und mir dabei geholfen, uns mit dessen individueller Übersetzung in unseren Alltag und der Gestaltung des geschützten Raums, den unser zu Hause heute darstellt, zu beschäftigen. (Auf die Gestaltung dieses geschützten Raums gehe ich in Kapitel 3.4 näher ein.)
»Ich hab mich total fehl am Platz gefühlt. Irgendwie wusste ich, dass ich schon einen Platz bekommen könnte. Ich wusste nur nicht, wie. Aber ich hab nie gezweifelt, dass ihr mich wirklich liebt.«
(Mark, drei Jahre nach der Diagnose über die Zeit davor)
(Different Planet – »Die Zeit davor«)
Nicht selten bekommen Eltern, die gerade beginnen, sich mit der Möglichkeit zu beschäftigen, dass ihr Kind autistisch sein könnte, oder die erst kürzlich eine entsprechende Diagnose erhalten haben, den aus meiner Sicht nicht besonders passenden Hinweis, dass man seine Kinder einfach nur ausreichend lieben und so annehmen müsse, wie sie sind, dann regele sich der Rest schon von ganz allein. Doch Autismus regelt sich nicht. Er ist da, und er bleibt als Grundlage der Wahrnehmung ein Leben lang bestehen. Und gut für seine Kinder zu sorgen, indem man sich mit ihren Besonderheiten und Bedürfnissen intensiv auseinandersetzt, steht der ausreichenden Liebe zu ihnen meines Erachtens nicht entgegen.
Dass wir, mein Mann und ich, unsere Kinder bedingungslos liebten und lieben, bildet für mich die Basis, auf der alles Weitere aufbaut:
- ► die kontinuierliche Neugestaltung und Anpassung unserer Abläufe und Kommunikation zu Hause,
- ► das Beantragen von Schul- und Eingliederungshilfe,
- ► die Suche nach einer Grund- und weiterführenden Schule, an der sie gesehen und akzeptiert werden,
- ► das regelmäßige Rückkoppeln mit Ämtern, Lehrer:innen und Ärzt:innen,
- ► das Beantragen der Nachteilsausgleiche,
- ► die Anpassung unserer Arbeitszeiten und vieles, vieles mehr.
- ► All das konnten wir erst zielführend umsetzen, als wir nach und nach erfassten, was Autismus ist – um uns dann mit diesem Wissen dem zuzuwenden, was ein Leben im Autismus-Spektrum für unsere Familie konkret bedeuten kann.
Die Idee, einfach nur ausreichend zu lieben, hatte zumindest mich bis dahin auf den berühmten »Ich bin an allem schuld und mache alles falsch«-Irrweg geführt.
1.2 Ist unser Kind vielleicht autistisch? – Die Sehnsucht nach einer Erklärung
Kurz bevor unser kleinerer Sohn vier Jahre alt wurde, sagte eine Erzieherin aus dem Kindergarten mit leuchtenden Augen zu mir »Philipp4 hat heute das erste Mal mit mir gesprochen, es war sehr süß! Überhaupt fängt er jetzt an, mit uns Erwachsenen zu kommunizieren.«
Ich war völlig entsetzt! Zu dem Zeitpunkt war er doch bereits seit knapp zwei Jahren in diesem Kindergarten!
Der Kleine tat sich wirklich schwer, im Kindergarten anzukommen. Bis er drei wurde, lag er eigentlich immer nur im sog. kleinen Zimmer und spielte mit Autos, am liebsten allein, Tag für Tag. Er nahm auch nicht an den Geburtstagsfrühstücken oder der Faschingsfeier teil. Er blieb dann lieber in »seinem« kleinen Zimmer und spielte dort. Er schien dabei nicht unglücklich zu sein, er wollte nur nicht bei den anderen mitmachen. Natürlich habe ich mal darüber nachgedacht, den Kindergarten zu wechseln, aber mein Bauchgefühl sagte mir, dass es nicht an diesem Kindergarten liegt, sondern eher am »Prinzip Kindergarten«.
Zum dritten Geburtstag unseres Kleinen zeigte sich mal wieder das Ausmaß meiner eigenen Unbelehrbarkeit. Unbedingt wollte ich, dass er auch mit einem Frühstück im Kindergarten feiert – so wie es die anderen Kinder auch tun (Sei normal! Sei normal!). Natürlich hat der kleine Kerl mir tausend Mal gesagt, dass er das gar nicht will. Das sei furchtbar laut und furchtbar wild, alle liefen durcheinander, und außerdem gebe es immer Salami. »Ach«, denkt sich die renitente Mama, »es wird ihm schon gefallen, wenn er erstmal mit der Krone auf dem Kopf dort sitzt.« Ich sollte meine Strafe bekommen: An mich geklammert saß er halb auf seinem Stühlchen, halb auf meinem Schoß, aß nichts, lächelte nicht und wartete, bis es vorbei war. Ich verbrachte die Zeit hockend und verkrampft neben ihm am Stühlchen und war um ein ausgeglichenes Lächeln bemüht. Als meine Beine irgendwann komplett eingeschlafen waren, sind wir nach Hause gegangen.
Was hatte das alles zu bedeuten? Haben wir nicht ein autistisches Kind, sondern zwei? Aber er ist doch so ganz anders als sein großer Bruder! Und viele der als typisch beschriebenen Symptome passen auch einfach nicht!
(Different Planet – »Kennste einen Autisten, kennste einen Autisten«)
Einfach irgendwie anders
So wie es uns zunächst mit unserem älteren und später dann mit unserem jüngeren Sohn ging, geht es den meisten: Da ist Verunsicherung, besonders zu Beginn der Auseinandersetzung mit den Symptomen von Autismus, und da sind Zweifel, ob die Beschreibungen, die zu lesen oder zu hören sind, wirklich zu dem kleinen Geschöpf, das gerade so friedlich neben einem schläft, passen. Oder zu dem großen Geschöpf, mit dem man zusammenlebt, oder auch zu sich selbst.
Zu dieser Unsicherheit gesellt sich häufig die Sehnsucht nach einer greifbaren Erklärung für das, was zu Hause passiert und einfach irgendwie anders ist als bei anderen. Auch Ablehnung, Wut oder Trauer über die Möglichkeit dieser Diagnose können auftreten – und manchmal schüttet sich alles gleichzeitig über einem aus: Verunsicherung, Zweifel, Sehnsucht, Trauer, Scham, Schuld, Wut, Hoffnung und vieles mehr vermischen sich dann zu einem inneren Gefühlsbrei.
Bei mir hat es viele Jahre gedauert, bis ich zu der Einsicht kam, dass sich diese Gefühle nicht dauerhaft unterdrücken lassen, und dass sie alle berechtigt sind. Als ich nicht mehr anders konnte, als sie zuzulassen, haben sie mir durch ihre Wucht sogar dabei geholfen, den richtigen Weg für meinen Umgang mit all dem zu finden, was da passierte.
Der richtige Weg ist wohl immer nur der eigene, ganz individuelle – und weil diesen vorher noch niemand gegangen ist, findet man ihn nicht so leicht.
Besonders in der Zeit, in der ich immer wieder versucht habe, die Symptome, mit denen Autismus und sich ähnlich darstellende Phänomene beschrieben werden, mit dem zu vergleichen, was ich bei unserem Großen wahrnahm, war ich durch und durch verunsichert, welchen Schritt ich als nächstes gehen könnte und wie daraus ein ganzer Weg werden könnte.
Im Rückblick auf diese Zeit, die für mich im Jahr 2016 begann, denke ich, dass es guttun kann, das Folgende zu beherzigen, wenn man diese Phase gerade durchlebt:
Anregungen für die Phase der Zweifel und...
Erscheint lt. Verlag | 22.10.2024 |
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Reihe/Serie | Fachbücher für jede:n |
Verlagsort | Heidelberg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Lebenshilfe / Lebensführung |
Schlagworte | ADHS • Angst- und Essstörung • Asperger • ASS • Autismus • Autismus-Spektrum-Störung • Belastung von Eltern • Depressionen • Diversität • HFA • High Function Autismus • Inklusion • Komorbiditäten • Nachteilsausgleich • Pathological Demand Avoidance • PDA • Schlafstörungen • Schulbegleitung • Schulverweigerung • Schwerbehinderung • Teilhabe • Unterstützung von Autist:innen • Zwänge |
ISBN-10 | 3-8497-8504-1 / 3849785041 |
ISBN-13 | 978-3-8497-8504-8 / 9783849785048 |
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