Alles, was dazwischenliegt -  Nesibe Kahraman

Alles, was dazwischenliegt (eBook)

Von der Kunst, innere Widersprüche und Mehrdeutigkeit auszuhalten
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
236 Seiten
Beltz (Verlag)
978-3-407-86784-1 (ISBN)
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»Jenseits von Richtig und Falsch liegt ein Ort, dort treffen wir uns«, erkannte schon der persische Mystiker Rumi. Doch wie kommt man inmitten verhärteter Beziehungskonflikte, gegensätzlicher Moralvorstellungen und politischer Ansichten an diesen Ort, an dem ein Sowohl-als-auch ausgehalten wird? Die Psychologie nennt die dafür benötigte Fähigkeit Ambiguitätstoleranz. Sie hilft uns, im Austausch miteinander zu bleiben, ohne die eigene Stimme zu verlieren. Wie das geht, zeigt Psychotherapeutin Nesibe Kahraman anhand berührender Therapiegeschichten und spannender Alltagsbeobachtungen.

Nesibe Kahraman, ehemals Özdemir, ist SPIEGEL-Bestsellerautorin, Psychologin und als Psychologische Psychotherapeutin in eigener Praxis tätig. In den sozialen Medien erreicht sie als @psychologin_nesibe und bei @fuehlen_wir ein großes Publikum und ist regelmäßige Interviewpartnerin in Hörfunk und TV. 2022 wurde sie mit dem Förderpreis Ambassadors für Wissenschaftskommunikation der Deutschen Gesellschaft für Psychologie ausgezeichnet. Sie lebt in Berlin.

»Gäbe es einen Preis für den strengsten Vater der Welt, so bin ich mir sicher, dass mein Vater ihn bekommen hätte«, sagte sie und fuhr mit ihrer Erzählung über ihren Vater fort. Sie erzählte, dass immer, bevor der Vater nach Hause kam, sich die Mutter und die fünf Kinder darauf vorbereiteten.

»Wir räumten alle Spielsachen, die darauf hindeuten könnten, dass wir Spaß hatten, schnell weg. Wir schafften Malstifte, Knete und alle anderen Utensilien, die Vater irgendwie aufregen oder nerven konnten, aus seinem Blickfeld«, erzählte sie, und ich spürte ihre steigende Anspannung.

»Klingt, als mussten Sie alle gewappnet sein, wenn er nach Hause kam«, sagte ich mit fragendem Unterton.

Ich stellte mir dieses Haus vor wie eine kleine Villa Kunterbunt – die sich aber ab dem späten Nachmittag in ein kaltes, reizarmes Neubau-Loft verwandelte, in der keine Kinder erlaubt waren. Vielleicht gab es eine Nacktkatze, die leise durch die Wohnung schlich. Mehr wie ein lebendes Accessoire als ein Haustier. Aber sicher keine Kinder. Ich konnte die aufgeregten Kinderrufe, das Getrampel von kleinen Füßen und sehr viel Gelächter in der Villa Kunterbunt hören. Doch wenn er den Raum betrat, dann wurde es plötzlich still. Alles Bunte wurde grau und das Gelächter verstummte. Das Getrampel war nicht mehr zu hören. Wenn man sich anstrengte, hörte man bestenfalls noch das leise Gehen auf Zehenspitzen. Dann war von dieser verspielten, heiteren Atmosphäre nichts mehr zu spüren. Es gab auch keinen Hinweis darauf, dass es Spiel und Spaß gegeben haben könnte. Dafür wurde täglich ab 16.30 Uhr gesorgt.

»Eine halbe Stunde bevor mein Vater nach Hause kam, wurde unsere Wohnung zu seiner Wohnung umgeräumt, die er bevorzugte. Wenn er da war, wurde es so still, dass ich meinen eigenen Herzschlag hören konnte. Ich weiß noch, wie mich das als Kind faszinierte. Weil ich meinen Herzschlag sonst eigentlich nie so hören konnte.«

Das schien eine sehr eindrückliche Erinnerung für sie zu sein, und aus der bisherigen Arbeit mit ihr wusste ich, dass sie sehr prägend für die Entwicklung ihrer Panikstörung war. Denn heute löst ein erhöhter Herzschlag eine Kette von negativen Assoziationen bei ihr aus – allen voran die Angst, plötzlich an einem Herzinfarkt sterben zu können.

»Ein pochendes Herz ist für mich bis heute mit der Angst vor meinem Vater verbunden«, fügte sie hinzu. »Das Erste, was er tat, wenn er nach Hause kam, war, das gesamte Wohnzimmer mit seinen Blicken zu scannen. Wir Kinder und unsere Mama standen dabei alle in Reih und Glied und warteten seine Entscheidung ab. Seine Blicke wanderten dann streng durch den Raum.« Ihre Anspannung erhöhte sich, was bei mir das Bedürfnis auslöste, sie aus ihrer Erinnerung zu holen. Doch nicht sie als Erwachsene. Am liebsten hätte ich alle fünf Kinder da rausgeholt. Psychotherapeutische Arbeit aufseiten der Therapeutin heißt auch, sich diesen Impulsen bewusst zu werden, ihnen aber nicht nachzugeben, sondern sie für die Arbeit zu nutzen.

»Wenn Sie sich noch einmal einfühlen in die Situation – wie Sie da in Reih und Glied standen. Was war Ihr Bedürfnis in dieser Situation?«, fragte ich.

»Ich wollte da einfach nur raus. Weg. Ganz schnell weg. Ich wünschte, jemand wäre gekommen und hätte uns da rausgeholt. Es kam aber niemand. Nie.« Ich spürte ihre Enttäuschung und ihre Wut und fühlte mich für einen kurzen Augenblick verantwortlich für all diese Kinder, denen niemand geholfen hatte.

»Es wirkte immer so, als würde er etwas suchen. So schaute er sich um. Nicht, weil er etwas verloren hatte. Sondern, um etwas zu finden. Am besten einen Fehler, über den er sich dann aufregen konnte. Meistens fand er auch einen. Und wenn er mal keinen fand, dann erfand er einen«, fuhr sie fort.

»Was genau waren denn die Fehler?«, wollte ich wissen und hatte schon eine Ahnung, dass es vermutlich sehr willkürlich gewählt war, was ein Fehler war und was nicht.

»Manchmal fand er einen Malstift irgendwo, den wir übersehen hatten. Manchmal war es aber auch ein Brief, der schief auf dem Tisch lag, oder es waren seine Pantoffeln, die nicht bereitstanden. So oder so gab es täglich Ärger. Jeden Tag hörten wir seine laute Stimme durch das Haus hallen. Und die Nachbarn hörten es sicherlich auch«, sagte sie vorwurfsvoll. »Er schmiss auch ständig irgendwas durch die Gegend, was dann einen lauten Knall gab. Ich weiß zum Beispiel ganz genau, wie sich Glas, Plastik oder Porzellan anhört, wenn sie auf einen Laminatboden knallen. Sie machen alle jeweils unterschiedliche Geräusche«, erinnert sie sich, und ich kann wieder die kindliche Faszination in ihren Augen funkeln sehen.

»Ich wusste einfach nicht, was er eigentlich wollte. Ich fragte mich immer wieder, wie ich ihn heiterer stimmen konnte. Doch es gab keinen Weg – weder über Geschenke wie selbst gemalte Bilder noch über besonders gehorsames Verhalten. Egal was wir taten, es schien keinen Unterschied zu machen«, sagte sie und wirkte verzweifelt.

»Bis ihre Mutter sich endlich trennte«, nahm ich ihr vorweg.

»Ja. Ich weiß es noch genau. Ich war schon seit einigen Jahren fürs Studium ausgezogen. Als ich die Nachricht erhielt, dass meine Mutter sich trennte, war ich sowohl erleichtert als auch besorgt. Ich war so stolz auf meine Mutter, dass sie es endlich geschafft hatte, aber ich hatte gleichzeitig unheimliche Angst um sie. Ich hatte Angst, dass er ihr jetzt etwas antun würde. Etwas noch Schlimmeres als sonst.« Sie stockte.

»Trat es denn ein?«, fragte ich vorsichtig.

»Nein. Im Gegenteil. Vielleicht war das, was dann passierte, in gewisser Weise schlimmer als das, was ich erwartet hatte«, sagte sie und lächelte das erste Mal leicht. Ich verstand nicht.

»Wie meinen Sie das?«

»Er griff weder Mama noch uns Kinder verbal oder körperlich an. Er lauerte uns auch nicht auf, sondern tat etwas, womit keiner der Beteiligten gerechnet hatte. Er suchte den Kontakt zu uns. Insbesondere zu mir, und er flehte mich an, mit ihm zu sprechen. Noch nie hatte einer von uns ihn bitten oder flehen gehört. Noch nie hatten wir ihn weinen sehen. Er war wie ausgewechselt.« Sie blickte an mir vorbei ins Leere, und es schien, als würde sie diese Erinnerung noch einmal ganz intensiv vor dem inneren Auge abspielen lassen. Sie schien es zu genießen.

»Wie hat sich das für Sie angefühlt?«, fragte ich leise, um sie beim Zuschauen nicht zu sehr zu stören.

»Erst dachte ich, dass es vielleicht nur so ein gestörtes Spielchen war. Ein Manipulationsversuch oder so. Aber als ich mich dann mit ihm traf und ihn sah, da wusste ich, dass es echt war. Er saß da wie ein Häufchen Elend. Er weinte und schluchzte. Er sah aus, wie soll ich sagen, wie ein kleiner verletzter Junge«, schilderte sie wieder ähnlich fasziniert und genüsslich.

»Und was macht das mit Ihnen?«, fragte ich erneut.

»Ich fühlte etwas, was ich noch nie ihm gegenüber gefühlt hatte. Ich weiß nicht genau, was es war. Ich hatte auch das erste Mal Sorge um ihn. Ich überlegte sogar, ob ich zwischen meinen Eltern noch vermitteln konnte. Ob meine Mutter doch noch zurückkehren würde. Das war natürlich Quatsch, aber ich weiß noch, wie ich das kurz gedacht habe.« Sie fing an, an ihren Fingernägeln zu kratzen, und wirkte nervös. Ich blickte sie an und nickte leicht, um zu verdeutlichen, dass es okay ist. Dass sie alles sagen durfte.

»Ich fühlte auch so etwas wie Genugtuung. Es fühlte sich einfach so gerecht und richtig an, dass er nun der war, der litt. Dass er nun der Schwächere war, der Hilfe brauchte und in diesem Augenblick von meiner Gunst abhängig war. Ich fühlte mich ihm zum ersten Mal in meinem Leben überlegen und mächtig.« Sie blickte zu Boden, während sie weitersprach, denn es löste offenbar Scham in ihr aus.

»Aber das Gefühl hielt nicht so lange an. Ich hielt das alles kaum aus. Wie konnte das sein, dass dieser Mann, der doch so riesig, so stark und so unüberwindbar war, plötzlich so ein Häufchen Elend war, dem ich überlegen war? Ich? Das kleine Mädchen, das sich schon mehrfach in die Hose gepinkelt hatte, wenn er sie nur zu lange ansah. Jetzt war ich ihm überlegen und er war ein Nichts. So hilflos. So bemitleidenswert. Das löste Panik in mir aus. Ich dachte, dass ich vielleicht falschlag. Ich dachte, dass ich alles falsch wahrgenommen hatte und er...

Erscheint lt. Verlag 18.9.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Lebenshilfe / Lebensführung
ISBN-10 3-407-86784-0 / 3407867840
ISBN-13 978-3-407-86784-1 / 9783407867841
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