Die Jakarta-Methode (eBook)
427 Seiten
Papyrossa Verlag
978-3-89438-908-6 (ISBN)
Vincent Bevins, *1984 in Kalifornien/USA. Berichtete 2017/18 für die Washington Post über Südostasien. Zuvor war er Brasilien-Korrespondent für die Los Angeles Times und schrieb für die Financial Times in London. Publizierte zudem u.a. für: New York Times, The Atlantic, The Economist, The Guardian, Foreign Policy, Folha de S. Paulo, The New Republic, New York Magazine.
Vincent Bevins, *1984 in Kalifornien/USA. Berichtete 2017/18 für die Washington Post über Südostasien. Zuvor war er Brasilien-Korrespondent für die Los Angeles Times und schrieb für die Financial Times in London. Publizierte zudem u.a. für: New York Times, The Atlantic, The Economist, The Guardian, Foreign Policy, Folha de S. Paulo, The New Republic, New York Magazine.
Einleitung
Im Mai 1962 steigt ein junges Mädchen namens Ing Giok Tan in ein altes, rostiges Boot in Jakarta. Ihr Land, Indonesien, eines der größten der Welt, war in die globale Auseinandersetzung zwischen Kapitalismus und Kommunismus geraten, und ihre Eltern beschlossen, vor den fürchterlichen Folgen zu fliehen, die dieser Konflikt für Familien wie die ihre mit sich brachte. Sie setzen die Segel in Richtung Brasilien, nachdem sie von Landsleuten mit gleichem Ziel gehört hatten, dass dieser Ort Freiheit, die Möglichkeit zur Entfaltung und eine Atempause vom Konflikt biete. Aber was wussten sie schon von Brasilien? Das Land war für sie nicht mehr als eine vage Idee, und es war sehr weit weg. Geplagt von Angst und Seekrankheit fahren sie 45 Tage lang, vorbei an Singapur über den Indischen Ozean nach Mauritius, passieren Mosambik und Südafrika, überqueren den Atlantik und steuern São Paulo an, die größte Stadt Südamerikas.
Wenn sie angenommen hatten, der Gewalt des Kalten Krieges entfliehen zu können, so war dies ein tragischer Irrtum. Zwei Jahre nach ihrer Ankunft putschte die Armee gegen die junge Demokratie Brasiliens und errichtete eine Militärdiktatur. Bald erreichten die neuen Einwanderer in Brasilien Nachrichten aus Indonesien: Meldungen von schockierenden Szenen, schlimmer kaum vorzustellen, eine Explosion der Gewalt, die so erschreckend war, dass einen selbst das bloße Sprechen darüber zusammenbrechen, ja: am eigenen Verstand zweifeln ließ. Doch die Berichte waren zutreffend. Die apokalyptischen Gemetzel in Indonesien gebaren eine junge Nation, die, übersät von verstümmelten Leichen, zu einem der zuverlässigsten Verbündeten Washingtons wurde – bevor sie weitgehend aus der Geschichte verschwand.
Was 1964 in Brasilien und 1965 in Indonesien geschah, gehörte im Kalten Krieg wohl zu den bedeutendsten Siegen für jene Seite, die ihn letztlich gewann – also für die USA und das heutige globale Wirtschaftssystem. Insofern zählen diese Ereignisse zu den wichtigsten in einem Verlauf, der fast aller Leben grundlegend geprägt hat. Beide Länder waren unabhängig und standen irgendwo zwischen den Blöcken, fielen aber Mitte der 1960er Jahre maßgeblich ins Lager der USA.
Verantwortliche in Washington und Journalisten in New York verstanden gewiss, wie bedeutend diese Ereignisse zu der Zeit waren. Sie wussten, dass Indonesien, heutzutage weltweit das Land mit der viertgrößten Bevölkerungszahl, eine weitaus wichtigere Beute war, als es Vietnam je hätte sein können.1 Dort erreichte das außenpolitische Establishment der USA in wenigen Monaten, woran es in zehn blutigen Jahren des Krieges in Indochina gescheitert war.
Die Diktatur in Brasilien – das Land rangiert heute unter den sieben bevölkerungsreichsten Ländern – spielte eine entscheidende Rolle dabei, den Rest Südamerikas in das Pro-Washington-Lager der antikommunistischen Länder zu ziehen. In beiden Ländern, Brasilien und Indonesien, war die Sowjetunion kaum engagiert.
Was am schockierendsten und zugleich für dieses Buch am bedeutendsten ist: Beide Ereignisse führten zur Entstehung eines ungeheuerlichen internationalen Netzwerks der Vernichtung, das heißt des systematischen Massenmords an Zivilisten. Die Vorkommnisse betrafen viele weitere Länder, und sie waren entscheidend für die Herausbildung jener Welt, in der wir heute leben.
Indonesien bleibt eine riesige Blackbox in unserem kollektiven Wissen, selbst bei Menschen, die ein bisschen mehr über die Kubakrise, den Koreakrieg oder Pol Pot wissen oder mit ein paar Grunddaten über die beiden bevölkerungsreichsten Länder der Welt (China und Indien) oder gar über die Nummer fünf und sechs (Pakistan und Nigeria) vertraut sind. Sogar unter international agierenden Journalisten wissen nur wenige, dass Indonesien das Land mit der größten muslimischen Bevölkerung der Welt ist oder dass es 1965 die größte kommunistische Partei außerhalb der Sowjetunion und Chinas hatte.
Die Wahrheit über die gewaltsamen Ereignisse von 1965/66 blieb jahrzehntelang verborgen. Im Kielwasser jener Gewalt wurde eine Diktatur errichtet, die der Welt Lügen auftischte, während die Überlebenden stumm blieben – sei es, weil sie inhaftiert waren oder zu verängstigt, die Stimme zu erheben. Nur dank der Anstrengungen heldenmütiger indonesischer Aktivisten und engagierter Wissenschaftler in vielen Teilen der Welt können wir nun die Geschichte offenlegen. In der zweiten Hälfte der 2010er Jahre in Washington freigegebene Dokumente waren zudem sehr hilfreich, wenn auch manches noch immer geheimnisumwittert bleibt.
Indonesien verschwand wohl deswegen von der sprichwörtlichen Landkarte, weil die Ereignisse von 1965/66 für Washington ein voller Erfolg waren. Es kamen keine US-Soldaten zu Tode, und im eigenen Land war niemand jemals in Gefahr. Obwohl die indonesische Führung in den 1950er und 60er Jahren eine bedeutende internationale Rolle gespielt hatte, hörte das Land nach 1966 auf, für Unruhe zu sorgen. Aus langjähriger Arbeit als Auslandskorrespondent und Journalist weiß ich, dass ferne Länder, die stabil und zuverlässig proamerikanisch sind, kaum in die Schlagzeilen geraten. Nachdem ich die Unterlagen durchgegangen war und viel Zeit mit Menschen verbracht hatte, die diese Phase durchgemacht haben, kam ich zu einer weiteren, zutiefst beunruhigenden These, warum diese Vorfälle in Vergessenheit gerieten: Die Wahrheit über die Geschehnisse widerspricht, so fürchte ich, derart stark unserem Begriff davon, was der Kalte Krieg war, wie die Globalisierung vonstattenging und was es bedeutet, US-Amerikaner zu sein, dass es schlichtweg einfacher war, sie zu ignorieren.
Dieses Buch richtet sich an all jene, die keine Spezialkenntnisse über Indonesien, Brasilien, Chile, Guatemala oder den Kalten Krieg mitbringen, obwohl ich hoffe, dass meine Interviews, Archivrecherchen und mein globaler Ansatz einige Erkenntnisse liefern, die auch für Fachleute interessant sein mögen. Vor allem aber hoffe ich, Menschen zu erreichen, die wissen wollen, wie die Gewalt und der Krieg gegen den Kommunismus unser heutiges Leben auch persönlich geprägt haben – ganz gleich, ob Sie gerade in Rio de Janeiro, Bali, New York oder Lagos ansässig sind.
Zwei Episoden aus meinem eigenen Leben haben mich davon überzeugt, dass die Ereignisse von Mitte der 1960er Jahre noch immer sehr präsent sind – und ihre Geister noch heute die Welt heimsuchen.
2016 war ich in meinem sechsten und letzten Jahr als Brasilienkorrespondent für die Los Angeles Times tätig, als ich durch die Flure des Kongresses in Brasília ging. Das Parlament der viertgrößten Demokratie der Welt bereitete sich auf die Abstimmung über eine Amtsenthebung von Präsidentin Dilma Rousseff vor, einer ehemaligen Guerillera und dem ersten weiblichen Staatsoberhaupt des Landes. Am Ende des Korridors erkannte ich einen unbedeutenden, aber verlässlich rechtsaußen stehenden Abgeordneten. Es war Jair Bolsonaro, und ich näherte mich ihm für ein kurzes Interview. Bereits zu dieser Zeit war bekannt: Politische Gegenspieler versuchten, Rousseff mithilfe einer Formalität zu stürzen; jene, die die Amtsenthebung organisierten, hatten sich weitaus mehr der Korruption schuldig gemacht als die Präsidentin selbst.2 Als ausländischer Journalist fragte ich Bolsonaro, ob er nicht befürchte, dass die internationale Gemeinschaft angesichts des umstrittenen Verfahrens die Legitimität einer konservativeren Regierung, die an die Stelle der bisherigen treten würde, anzweifeln könnte. Was er mir antwortete, schien noch derart weit jenseits des Mainstreams zu liegen – er ließ die Phantome des Kalten Krieges wieder vollends auferstehen –, dass ich das Interview nicht weiter verwendete. »Die Welt«, waren seine Worte, »wird feiern, was wir heute tun, denn wir halten Brasilien davon ab, zu einem zweiten Nordkorea zu werden.« Das war regelrecht absurd: Rousseff stand einer Mitte-Links-Regierung vor, die eher noch zu freundlich gegenüber den Großunternehmen war.
Einige Augenblicke später trat Bolsonaro ans Mikrofon des Sitzungssaals und gab eine Erklärung ab, die das Land erschütterte. Seine Stimme im Amtsenthebungsverfahren widmete er Carlos Alberto Brilhante Ustra, jenem Mann, der als Oberst während der Diktatur in Brasilien Rousseffs Folterung überwachte. Eine ungeheuerliche Provokation, ein Versuch, das antikommunistische Militärregime des Landes zu rehabilitieren und sich selbst zum nationalen Sinnbild einer extrem rechten Opposition zu machen, die sich im Widerstand gegen alles sah.3
Als ich einige Wochen später Rousseff interviewte, während ihre endgültige Abwahl bevorstand, drehte sich unser Gespräch unweigerlich um die Rolle der USA in Bezug auf die Verhältnisse Brasiliens. Angesichts der zahlreichen Interventionen Washingtons zum Sturz von Regierungen in Südamerika fragten sich viele ihrer Anhänger, ob die CIA...
Erscheint lt. Verlag | 1.9.2024 |
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Übersetzer | Glenn Jäger |
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Zeitgeschichte ab 1945 |
Schlagworte | Antikommunismus • Bandung • Blockfreie Staaten • Brasilien • CIA • Diktatur • Geheimdienst • Imperialismus • Indonesien • Kalter Krieg • Kolonialismus • Massaker • Mord • Ost-West-Konflikt • Putsch • Suharto • Sukarno • Terror • Unterdrückung • USA |
ISBN-10 | 3-89438-908-7 / 3894389087 |
ISBN-13 | 978-3-89438-908-6 / 9783894389086 |
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